Zwischen Gimmick und Größenwahn

14.10.1998
Das Thema Internet-Telefonie weckt hohe Erwartungen - sowohl beim Kunden als auch bei den Providern. Doch haben Sie schon einmal versucht, mit einer Software einen Teilnehmer anzurufen, der ein anderes Programm nutzt? Fehlanzeige. Immerhin gibt es die ersten Bemühungen, daß sich in diesem Bereich Standards durchsetzen.

Von: Hans-Jörg Schilder

Unter der Schlagzeile "Call Hannover for free" finden sich derzeit viele Aufforderungen - so unter anderem auch in der Gateway 6/97, Seite 20, via Internet zu telefonieren. Neugierige - leider nur Win-95/NT-Nutzer mit Soundkarte - können sich unter http://call.hannover.vier.com/ einen Eindruck verschaffen, welchen Stand Internet-Telefonie momentan hat. Wir haben es ausprobiert: Die Software ließ sich schnell installieren, der Dialler auch. Die Nummer eines analogen Teilnehmers eingetippt, und los geht’s. Mein Kollege am anderen Ende der Leitung konnte meine Stimme, meinen Akzent klar und deutlich erkennen. Ich seine leider nicht: Fetzenartig und von Störgeräuschen begleitet verstand ich weder seinen Namen noch sonstige Antworten.

Ähnlich wie in diesem Test waren auch die anderen Erfahrungen, die wir mit Internet-Telefonie gemacht haben. Da ist zum einen die Sprachqualität, die oft nur ein "Hallo" verrauscht rüberbringt und so die Unterhaltung erschwert. Zum anderen mangelt es an der Kompatibilität der Software. Es ist schlicht nicht möglich, mit einer Vocaltec-Software Teilnehmer anzurufen, die mit anderen Programmen arbeiten. So funktioniert auch nur der Versuch mit dem Server in Hannover, weil vorkonfigurierte Software zur Verfügung steht und nur Software eines Produzenten zum Zuge kommt. Einige Hersteller wie zum Beispiel Netspeak (http://www.netspeak.com) verknüpfen ihre Software "Webphone" mit Soundblaster-Karten und erzielen damit gute Sprachqualitäten.

Schmuddelecke Internet-Telefonie?

Weitere Negativeffekte kommen hinzu. Viele Chatrooms diskutieren vorrangig Sexthemen, die sehr gut frequentiert werden. Als wir uns für das Thema "Network Consultants" interessierten, waren wir allein auf weiter Flur. Auch das Thema Standards läßt bei den Internet-Telefonierern zu wünschen übrig - aus vorher genanntem Erlebnis ist es vielleicht auch gar nicht gewünscht, so daß die Benutzergruppe eingeschränkt bleibt.

Aber warum ist dennoch die Sprachkommunikation via IP-Protokoll ein Thema? Schuld daran sind unter anderem die Unternehmen, die ihre Kommunikation in den Intranets auf Sprachverbindungen ausdehnen. Das Chatten von PC zu PC wird dort nicht gepflegt. Vielmehr sind Gateways gefragt, über die sich beispielsweise ein interner Help-Desk oder auch Servicetelefone sowie Call Center schalten lassen. Solche Geräte sind zum Beispiel PCs, die neben der WAN-Anbindung über eine hardwaretechnisch abgebildete Umsetzung verfügen, die Sprache in IP-Pakete und umgekehrt verarbeitet. In diesem Bereich sollen nach IDC-Schätzungen im Jahr 1999 560 Millionen Dollar erwirtschaftet werden - ein knappes Prozent vom derzeitigen weltweiten Umsatz mit Telekommunikation. Allein dieses Verhältnis relativiert die Erwartungen.

Dennoch wird davon eine ganze Branche leben können, da sich im Zusammenhang mit Computertelefonie die Anbindung an Datenbestände via IP leichter durchführen läßt. Als Zielmarkt visieren die Hersteller folgende Bereiche an:

Carrier, die gleichzeitig auch Internet-Service-Provider (ISPs) sind und Internet-Telefonie anbieten wollen. Hier sind die Beispiele AT&T, MCI, Sprint und GTE zu nennen. Sprint bietet über Gobal One einen Dienst an, der eine Bandbreite bei Bedarf reserviert. Carrier, die Weitverkehrsdienste und internationalen Telefonverkehr im Portfolio haben. Dazu zählen Cable & Wireless, France Telecom und die Telekom. Regionale Netzbetreiber und Citynetze: Diese können damit in bestimmten Diensten (Faxservices, Voice-Mail) den Großen Konkurrenz machen und eine preiswerte Anbindung anbieten. Internet-Service-Provider wie Eunet, Uunet, Netcom und andere oder auch Mailbox-Betreiber. Kleine Unternehmen und Organisationen: Dazu zählen alle Teilnehmer, die über eine Internet-Verbindung verfügen und ihren internationalen Fax- und Sprachverkehr über IP abwickeln wollen. Call-Center-Betreiber und Serviceanbieter: Diese Zielgruppe erhält eine Alternative zu den bisher existierenden Mehrwertdiensten.

Was sollen nun all diese Zielgruppen mit der Internet-Telefonie anfangen? Bei den Anwendungen sind verschiedene Gruppen zu erkennen, die sich nach folgenden Kriterien unterscheiden lassen:

benutztes Medium, wie zum Beispiel Sprache, Fax, Daten oder Video, Übertragungsart (Echtzeit oder Store-and-forward) sowie benutztes Netz (leitungsvermittelt oder paketvermittelt).

Anwendungen, die auf den IP-Telefonieservern laufen, reichen von Sprachverbindungen, Voice-Mails, Faxen sowie ACD (Automatic Call Distribution) bis hin zu Call-Center-Fähigkeiten. Hier lauten die Schlagworte Unified Messaging, Internet enabled IVR (Interactive Voice Response) sowie Real Audio. Sprachanwendungen lassen sich aufgrund der besseren Ausnutzung der Paketierung via Internet-Protokoll um 90 Prozent preiswerter anbieten. Damit lassen sich gleichzeitig bestehende Festverbindungen mit mehreren Verbindungen betreiben.

Bei Faxverbindungen zeigen sich die gleichen Einsparpotentiale, die speziell im Bereich Überseeverbindungen bei 90 Prozent liegen können. Ein weiterer Vorteil ist, daß sich die Nutzer keine spezielle Hardware beschaffen müssen, um solche Dienste zu nutzen. Zum Beispiel bietet die "Winfax Pro 8.0" einen Zugang zu einem Faxserver, der als Schnupperangebot vier Wochen lang Faxe an amerikanische Telekopierer versendet.

Zukunftsmusik: ACD oder Call Center via IP

Ein bißchen Zukunftsmusik ist die intelligente Rufverteilung (ACD) oder das Betreiben von Call Centern über IP-Protokolle. Hier wird argumentiert, daß eine herkömmliche ACD-Installation bis zu 400.000 Mark kostet. IP-basierte Applikationen sollen nur ein Drittel dieser Summe verschlingen. In Zusammenarbeit mit einem Telefonie-Gateway lassen sich Call Center installieren, die von der TK-Anlage die Anrufe erhalten und über das WAN die benötigten Kundendaten beziehen. So läßt sich ein Szenario aufbauen, in dem der Kunde auf der Web-Page eines Unternehmens den Button "Kundenberatung" wählt und dann in die Warteschleife des Unternehmens gestellt wird, bis ein Kundenberater frei ist. Daß solche Anrufe kostenfrei sind, erhöht die Attraktivität für den potentiellen Kunden.

Ein weiteres Schlagwort, das die Branche elektrisiert, ist Unified Messaging. Dahinter steckt nichts anderes als die gemeinsame Verwaltung von Voice-Mails, EMails und Fax. Daran haben solche Unternehmen ein Interesse, die ihren mobilen Mitarbeitern bessere Kommunikation bieten können oder auch ihren Ser-vice verbessern.

Sprachqualität als Meßlatte

Als Grundvoraussetzung für die Durchsetzung des IP-basierten Telefonierens gilt die Sprachqualität. Sie wird von drei Faktoren beeinflußt:

die Auswahl des De- beziehungsweise Encoders, der Echounterdrückung und der Minimierung der Antwortzeiten.

Im Bereich der Encoder haben sich mehrere Algorithmen durchgesetzt. Das sind zum Beispiel der GSM-Decoder von Microsoft, der ITU-Standard G.723.1 und der Decoder von Voxware. Je nach Soundkarte liefern diese Algorithmen bessere oder schlechtere Klangqualitäten ab.

Eine weitere Einschränkung betrifft eher den US-amerikanischen Markt: Dort will die Regulierungsbehörde auch die Long-Distance-Calls via Internet unter ihre Fittiche bekommen. Insider rechnen damit, daß sich dort die monatliche Rechnung für IP-Telefonierer um sechs Dollar verteuern wird. In Europa ist dies noch kein Thema.

Der Status bei der Internet-Telefonie gleicht dem Zustand im Bereich Videoconferencing vor drei Jahren. Damals ließen sich nur Verbindungen von einem System zu einem Gerät des gleichen Herstellers aufbauen. Erst mit der Einführung des H.320-Standards, der den Verbindungsauf- und -abbau regelt, kam Bewegung in den Markt. Dieser Standard und weitere aus der H.320-Familie, also H.323 (Echtzeit- beziehungsweise Videokonferenzen im LAN) sowie H.324 (Videokommunikation mit analogen Verbindungen) treffen im IP-Telefonie-Bereich auf offene Ohren bei den Herstellern und werden wohl in Zukunft dafür sorgen, daß sich Software verschiedener Hersteller unterhalten kann. Netscape und Microsoft/Picturetel (Netmeeting) sind dabei mit der Integration des H.323 den ersten Schritt gegangen. Nachdem beide Hersteller etwa 85 Prozent des Marktes abdecken, läßt sich sogar von einem De-facto-Standard sprechen.

Weitere Unterstandards des H.323 sind unter anderem:

H.245: Öffnet und schließt logische Kanäle G.711: Encoder/Decoder-Spezifikation für Sprache mit Pulse-Code-Modulation (PCM) G.722: 7-kHz-Sprachübertragung G.723.1: Standardsprachübertragung für H.323-Konferenzen G.728: Sprachübertragung mit 16 kBit/s G.729: Sprachübertragung mit 16 kBit/s

Neben der ITU sind mehrere Organisationen bei der Standardisierung der IP-Telefonie beteiligt. Zu nennen ist hier das International Multimedia Teleconferencing Consortium http://www.imtc.org, das sich um die weltweite Durchsetzung des H.320 kümmert. Die deutsche Niederlassung http://www.testcentre.org/ gibt Auskunft darüber, wer im Bereich Videokonferenzen H.320-kompatibel ist und es in Zukunft sein möchte. Schließlich sind noch das Internet Telephony Interoperability Consortium (ITIC) http://www.itic.org und die Internet Engineering Task Force (IETF) http://www.ietf.org zu nennen. (hjs)

Literatur

[1] IP Telephony: Powered by Fusion; White Paper von Natural Micro Systems; 1997

[2] Schilder, Hans-Jörg: Meetings ohne Barrieren; Gateway 2/97, Seite 56; Verlag Heinz Heise, Hannover 1997

[3] Schilder, Hans-Jörg: Nicht nur für Videokonferenzen; Gateway 9/96, Seite 104; Verlag Heinz Heise, Hannover