Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft

Wie All-IP das Unternehmen erobert

16.11.2014 von Walter Rott
Auf dem Internet Protocol (IP) basierende Netzwerktechniken lösen nicht nur die klassische Telefonanlage ab, sondern sorgen generell dafür, dass Telefon- und Datendienste immer mehr zusammenwachsen.

Wer kennt noch die klassischen, alten Nebenstellenanlagen in Unternehmen? Riesige Kühlschränke stehen in den Kellern, aus ihnen ragen Kabel, die nur in diese Telefonanlage passen, am anderen Ende dieser Kabel hängen, in Büroräumen verteilt, Systemtelefone, die nur mit dieser Anlage funktionieren. Faxgeräte lassen sich anschließen, genauso wie Schnurlostelefone. In der Vergangenheit waren diese sehr zuverlässigen Insellösungen zumeist über ISDN ans Telefonnetz angeschlossen. Diese Anlagen haben unglaublich viele Leistungsmerkmale, sie können praktisch alles. Wartung, Verkabelung, Installation und die proprietären Endgeräte sind allerdings sehr teuer. Dafür funktionieren sie.

Es ist zudem möglich, die Telefone über den Computer zu steuern, in der Regel über eine TAPI/CSTA-Schnittstelle. So wurde es möglich, über Outlook eine Telefonnummer zu wählen und anzurufen. Gleichzeitig kann die Telefonanlage mit einem eigenen Server versehen sein, der ein Telefonbuch beherbergt. Ein ACD (Automatic Call Distribution) ist ebenfalls möglich. All dies ist extrem kostspielig. Allein die Telefone kosten 800 bis 1000 Euro pro Gerät. Hinzu kommt die sehr aufwendige und komplexe Verkabelung. Mobiltelefone lassen sich an eine solche Anlage nicht anschließen, und wenn, dann nur mit einem Aufwand, der die Kosten abermals zum Explodieren bringt. Am Markt hat sich diese Option nie durchgesetzt.

Trotzdem müssen Telefonanlagen den Anforderungen an die moderne Arbeitswelt, der damit verbundenen Erreichbarkeit sowie steigendem Kostendruck gerecht werden. Wie kann man also die Leistungsmerkmale und Zuverlässigkeit solcher Anlagen erhalten, aber gleichzeitig die Komplexität entzerren und die Kosten senken? Die Antwort liegt in der schönen, neuen IP-Welt.

Die IP-Anlage im Keller

Moderne Telefonanlagen sind immer noch im Keller, aber die aufwendige und teure Verkabelung entfällt. Es wird einfach ein IP-Telefon angeschlossen, über denselben Anschluss werden alle Computer angedockt. Das vereinfacht die Integration, da nicht mehr viele verschiedene Protokolle und Schnittstellen benötigt werden.

Dank des T.38-Protokolls funktionieren Dinge wie das Fax wie gewohnt. In der IP-Umgebung klappt das mit Modems und Telemetrieanwendungen nur bedingt. Ebenfalls, und das ist viel gravierender, lassen sich Mobiltelefone nicht ohne Weiteres an solche Nebenstellenanlagen anbinden. Unternehmen brauchen also zusätzliche Mobilfunkverträge für ihre Mitarbeiter, die zusätzliche Kosten verursachen.

Auf in die Cloud

Der nächste Schritt ist, die Telefonanlage komplett in die Cloud zu verlegen. Hier gibt es Lösungen am Markt, die einen preislichen Vorteil versprechen. Oft haben aber auch diese IP-Telefonanlagen in der Cloud den Nachteil, dass sie keine Mobiltelefonie beinhalten. Die Frage nach dem tatsächlichen preislichen Vorteil bleibt unbeantwortet.

Zusätzlich stellt sich die Frage nach der Verlässlichkeit. Kann ein Lieferant von Cloud- beziehungsweise IP-Telefonanlagen dieselbe Konnektivität und Sprachqualität garantieren, wie es bisher der Fall war? Dem lässt sich einfach ausweichen, wenn man zu seinem Netzbetreiber geht. Natürlich stellen auch Telkos ihre Netze und Dienste auf All-IP um, aber sie gewährleisten nach wie vor ein hohes Qualitätsniveau. Die Sprachqualität verbessert sich sogar, dank HD-Voice. Diese nutzt eine höhere Bandbreite und Wide-Band-Codecs.

Versteckte Fallen bei der VoIP-Migration vermeiden
Die Tage der klassischen TK-Anlage sind gezählt. Läuft der Vertrag aus, dann soll meist auf VoIP migriert werden. Johann Deutinger, Vorstand Ferrari electronic, zeigt die potenziellen Problemfelder und gibt dazu Tipps.
1. Pilotinstallation
Wie kann ein kleineres Unternehmen zu maßvollen Kosten evaluieren, ob die IP-Telefonie alle Ansprüche erfüllt? Die beste Möglichkeit ist hier eine Pilotinstallation. Eine vorkonfigurierte Lync-Appliance kann helfen, mit geringen Kosten und wenig Aufwand die Lösung im eigenen Unternehmen zu erproben. Solche Appliances ("Lync-in-a-box") gibt es von verschiedenen Herstellern und sie eignen sich über den Test hinaus auch, um eine begrenzte Zahl an Anwendern, etwa einen Standort oder eine Abteilung dauerhaft auf IP zu migrieren.
2. Migration
Es gibt Beispiele für generalstabsmäßig geplante Migrationen auf Lync über Nacht, im Regelfall gehen Unternehmen jedoch nach einer Pilotinstallation inkrementell vor. Sie prüfen in der Praxis, ob alle Systeme eine immer weiter erhöhte Zahl an Benutzern bei gleichbleibender Qualität unterstützen. Traditionell schaltet man dabei die IP-Telefonanlage hinter die TK-Anlage
4. Türöffner
Zu den analogen Endgeräten, die durch klassische TK-Anlagen gesteuert werden, gehören nicht selten Tür- oder Schrankenöffner. Es sieht einfach und alltäglich aus, auf einen Knopf zu drücken, um eine Tür zu entriegeln. Aber auch mit diesen Endgeräten kann Lync nicht kommunizieren, genauso wenig wie andere IP-Telefonanlagen.
5. Fax
Laut einer Umfrage von Ferrari electronic halten selbst heute 82 Prozent der Unternehmen den Kommunikationsweg Fax für unverzichtbar. Dabei geht es selten um Papierfaxgeräte, sondern meist um Computerfax und Faxserver. Hier gibt es bei einer Migration grundsätzlich die Alternativen, eine eigene Amtsleitung für das Fax beizubehalten oder neben der Telefonie auch das Fax auf IP zu migrieren (Fax-over-IP).
6. Alarmanlage
Technisch gesehen ist auch die Alarmanlage nur ein weiteres analoges Endgerät, und die Liste dieser Endgeräte ließe sich beispielsweise mit Frankiermaschinen auch noch erweitern. Doch die Alarmanlage ist in vielen Branchen ein besonders heikler Punkt. Es gibt nur wenige für IP zertifizierte Modelle.
7. Unified Communications
Zusammengefasst: Nur weil die Telefonie in Zukunft auf IP basiert, heißt das noch nicht, dass man auf analoge Technologien bereits komplett verzichten kann. Bei vielen typischen Migrations-Herausforderungen geht es um die intelligente Übersetzung von SIP in analoge Signale und umgekehrt.

Obwohl in der Regel IP-Telefonie genauso zuverlässig ist, liegt eine höhere Störanfälligkeit in der Natur der Sache. Es werden Datenpakete hin- und hergeschickt, da kann es zu Paketverlusten kommen. Letztlich ist es eine Frage der Architektur. Wenn die Telefonverbindung über das öffentliche Internet geht, ist es wahrscheinlicher, dass Datenpakete verloren gehen. In einem auf IP basierenden Telefonnetz ist die Wahrscheinlichkeit geringer. Den niedrigeren Preis rechtfertigt dies auf jeden Fall. Gleichzeitig gelingt die Integration von Telefon- und Datendiensten, ohne dass der Nutzer dafür selber etwas tun muss.

Zudem stellt ein Netzbetreiber weltweite Erreichbarkeit über verschiedene Geräte sicher. Für den Nutzer kann das bedeuten, dass nur noch ein Gerät für Festnetz- und Mobiltelefonie benötigt wird. Dies ist besonders bei virtuellen Telefonanlagen praktisch, die ein privates Netz auf dem Firmengelände haben und einen nahtlosen Übergang ins öffentliche Telefonnetz oder ein Teilnehmernetz mit demselben Gerät bieten. Die Technik in der Cloud, gepaart mit IP, sorgt dafür, dass dies funktioniert.

Der nächste Schritt: WebRTC

WebRTC wird von vielen Browsern (außer IE) unterstützt.
Foto: Klaus Hauptfleisch

IP führt dazu, dass Telefon- und Datendienste immer weiter zusammenwachsen. Das jüngste Beispiel hierfür ist WebRTC, das Sprach- und Videotelefonie ohne lokale Installation im Browser ermöglicht. WebRTC verwandelt den Browser in ein Telefon für Sprach- und Videotelefonie. Google hat es erfunden, in Chrome ist diese Software standardmäßig eingebaut, andere Browser wie Firefox unterstützen es inzwischen auch.

WebRTC ist eine Peer-to-Peer-Anwendung. Der Browser muss offen sein, damit man es nutzen kann. Eine Telefonnummer lässt sich darüber zunächst nicht anrufen, ebenso wenig kann man sich über eine Telefonnummer anrufen lassen. Die Anrufkontrolle, die sicherstellt, dass ein Anruf dort ankommt, wo er hinsoll, ist ebenfalls nicht vorgesehen. Zudem nutzt WebRTC ganz normal das öffentliche Internet, womit wir wieder beim Thema Paketverluste sind.

An dieser Stelle kommt der Netzbetreiber ins Spiel, der es ermöglicht, den Browser über eine Telefonnummer zu erreichen und vom Browser aus ein Telefon anzurufen. So wird der Browser zur Nebenstelle, genauso wie Festnetz und Handy. Dabei wird WebRTC ins Telefonnetz integriert, und der Netzbetreiber stellt Qualität und Erreichbarkeit sicher, was übers Internet nicht möglich ist. Gleichzeitig sind Teilnehmer über den Browser weltweit erreichbar und bleiben dabei im eigenen Telefonnetz.

Nicht nur einzelne Mitarbeiter sind dank WebRTC besser erreichbar, es ist auch einfacher, mit einem Unternehmen in Kontakt zu treten, beispielsweise über Click-to-Call-Buttons auf der Unternehmens-Website oder in einer E-Mail-Signatur. Durch einen Mausklick wird ein Telefongespräch über WebRTC initiiert. Der Gesprächspartner kann vor dem Browser sitzen, aber auch am Festnetz oder am Mobiltelefon.

Mit Techniken wie WebRTC kommt der Berater ins Wohnzimmer - virtuell natürlich.
Foto: apops - Fotolia.com

Für Unternehmen, die Contact-Center betreiben, ist WebRTC ebenfalls praktisch. Agenten brauchen nur noch den Browser und ein Headset für ihre Arbeit, dabei sind sie über eine Telefonnummer erreichbar. Der komplette Arbeitsplatz, inklusive Telefonie, befindet sich dann im Browser. So wird das Leben für Contact-Center-Agenten, die von zu Hause aus arbeiten, leichter. Auch ist es einfacher, Contact-Center-Arbeitsplätze on-demand hinzuzufügen.

Der Einsatz von All-IP im Unternehmen hilft zunächst, Kosten zu senken. Je nachdem, wie man es einsetzt, lassen sich Qualitätsfragen wie Paketverlust recht einfach lösen. Gleichzeitig hilft All-IP, Lösungen zu finden, die die Erreichbarkeit der Mitarbeiter verbessern und die Anforderungen an das moderne Arbeitsleben erfüllen. Die klassische Nebenstellenanlage wird dabei in ihrer jetzigen Form aus den Unternehmen verschwinden, allerdings IP-basiert in der Cloud weiterleben. (mb)