Work-Life-Balance

Weniger zu arbeiten bleibt ein Traum

16.04.2016 von Ingrid  Weidner
Flexible Arbeitszeitmodelle wünschen sich alle, vor allem jüngere Mitarbeiter ­fordern sie von ihren Arbeitgebern. Doch viele Unternehmen pochen immer noch auf eine klasssische Präsenzpflicht zu den Kernarbeitszeiten.

Die Präsenzkultur dominiert noch in vielen Unternehmen. Nur wer von morgens bis abends anwesend und für den Chef verfügbar ist, gilt als fleißiger und wertvoller Mitarbeiter. Ganz egal, ob er in dieser Zeit seine privaten Bankgeschäfte und Online-Einkäufe erledigt - das bleibt oft unentdeckt. Teilzeit-Jobbern und Menschen im Home Office eilt hierzulande hartnäckig das Image des Faulenzers voraus.

Dennoch haben kleinere und mittelständische Firmen verstanden, dass sie gute Mitarbeiter mit attraktiven Arbeitszeitmodellen locken können. Das 2008 in Rheine gegründete Unternehmen Secova etwa beschäftigt mittlerweile 40 Mitarbeiter und entwickelt Software für das Qualitäts- und Personal-Management sowie Unterweisungs- und Dokumentationssoftware für den Arbeitsschutz. Flexibilität und eine ansprechende Arbeitsatmosphäre waren von Anfang an wichtig. "Das Büro ist zwischen 8 und 17 Uhr geöffnet", erzählt Frank Schmitz-Gabriel von Secova. Es gibt viele unterschiedliche Arbeitszeitmodelle. Organisiert wird das über einen Online-Kalender, in den jeder seine Arbeitszeiten einträgt, damit alle wissen, wann die Kollegen im Büro oder im Home Office erreichbar sind.

Jeder Secova-Mitarbeiter trägt seine Arbeitszeiten in einen Online-Kalender ein, damit die Kollegen wissen, ob er im Büro oder im Home office erreichbar ist.
Foto: secova

Alle Mitarbeiter sind mit Laptop und Smartphone ausgestattet, das erleichtert flexibles Arbeiten. Immer erreichbar müssen die ­Secova-Leute aber trotzdem nicht sein, wie Schmitz-Gabriel betont. Jeden Dienstag zwischen 12.30 Uhr und 13.30 Uhr etwa verabreden sich alle Angestellten zum Mittagessen ­außerhalb des Büros. Zwar kümmert sich das Unternehmen intensiv um seine Kunden, doch das heißt nicht, dass alle zu jeder Sekunde erreichbar sein müssen.

"Wir bieten Arbeitszeiten, die den Mitarbeitern entgegenkommen", sagt Schmitz-Gabriel. ­Jeder führt selbständig ein Arbeitszeitkonto. "Wir verstehen uns als Team", erklärt der 55-Jährige. Diese Flexibilität sei unabhängig vom Alter für alle Mitarbeiter attraktiv. Wer weniger arbeiten möchte, ist genauso willkommen wie eine Vollzeitkraft. "Wenn sich ein Programmierer bewirbt und zwischen 25 und 32 Stunden arbeiten will, ist das kein Problem. Wichtiger ist uns, dass der Bewerber ins Team passt."

Höherqualifizierte und Besserverdiener machen mehr Überstunden

Mehr Zeit für Familie oder Hobbys wünschen sich zwar viele, doch der Vollzeitjob dominiert weiterhin die Arbeitswelt, Überstunden sind die Regel. "Viele Beschäftigte würden gerne ihre Arbeitszeit reduzieren, um mehr Zeit für die Familie zu haben. De facto sind es aber gerade Besserverdienende und Höherqualifizierte, die überlange Arbeitszeiten bewältigen", sagt eine Sprecherin des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales in Berlin.

Noch dominiert der Vollzeitjob das Arbeitsleben. Doch jüngere Arbeitnehmer fordern viel selbstbewusster kürzere Wochenarbeitszeiten und mehr Freiraum, beobachtet Karl-Heinz Brandl, Bereichsleiter Innovation und Gute Arbeit bei der Dienstleistungsgesellschaft Verdi. Mittlerweile reagierten einige Unternehmen und erprobten in Pilotprojekten Arbeitszeitkonten, die den Mitarbeitern mehr Flexibilität für unterschiedliche Lebensphasen lassen. "Die Telekom ist eines der Unternehmen, das den Beschäftigten flexiblere Arbeitszeitmodelle anbietet", sagt Brandl. Der Gewerkschafter beobachtet, dass sich Jüngere vom Ideal des Vollzeitjobs verabschieden, auch wenn das ihre Chefs überhaupt nicht gerne sehen.

Home Office, Arbeitszeitkonten und Work-Life-Balance werden von vielen Mitarbeitern gefordert und gewünscht. Diese Flexibilität bieten jedoch nur wenige Unternehmen.
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Kienbaum befragt regelmäßig Absolventen nach ihren Werten und Karriereperspektiven. Gerade der Generation Y wird nachgesagt, dass sie spaßorientiert sei und viel Wert auf Freizeit lege. Auf den ersten Blick bestätigt die Studie "Werte von Absolventen" diesen Eindruck, denn nur 20 Prozent der Befragten nennen Karriereorientierung als Ziel, für 67 Prozent sind Familie und Freunde besonders wichtig. Doch die Autoren der Studie fanden auch andere Aspekte. Absolventen erwarten vom Arbeitgeber Flexibilität, Kollegialität und regel­mäßiges Feedback. Auch die strikte Trennung von Beruflichem und Privatem ist ihnen nicht so wichtig. Also abends oder am Wochenende noch schnell eine E-Mail zu beantworten, scheint die Jüngeren weniger zu stören als ihre älteren Arbeitskollegen. Weniger zu arbeiten finden viele nicht ­unbedingt erstrebenswert, ein ausgewogenes Verhältnis von Freizeit, Familie, Freunden und Beruf dagegen schon.

Vertrauensarbeitszeit ermöglicht Work-Life-Balance

"Jüngere Mitarbeiter wollen nicht weniger arbeiten, sondern ihre Arbeitszeit flexibler gestalten", sagt Katja Rieder, die bei Insiders Technologies aus Kaiserslautern für Marketing- und Human-Resources-Aufgaben zuständig ist. Das Unternehmen entwickelt Software für Input-Management und Kundenkommunikation und beschäftigt rund 120 Mitarbeiter. Arbeitszeitkonten gibt es bei Insiders Technologies nicht, lediglich eine Kernarbeitszeit. Die Vertrauensarbeitszeit ermöglicht es laut Rieder den Mitarbeitern, ihre eigene Work-Life-Balance zu schaffen. Die Softwareentwickler arbeiten nach agilen Methoden. "Teamarbeit wird bei uns großgeschrieben", sagt Rieder. "Doch es ist kein Problem, für einen Termin tagsüber eine längere Mittagspause einzuplanen."

Flexibilität im Arbeitsalltag und gegenüber den Mitarbeitern sieht Rieder als Pluspunkt für das Unternehmen im Werben um Absolventen: "Bei uns kann man eigene Ideen einbringen und etwas bewegen, das ist in einem großen Konzern oft nicht möglich." Bei Insiders Technologies liegen keine ausgearbeiteten Arbeitszeitmodelle in der Schublade: "Wir schlagen nicht den Katalog auf und suchen etwas für den Mitarbeiter heraus, sondern finden für jeden eine individuelle Lösung." Viele Mitarbeiter nutzen Teilzeitangebote: Manche teilen sich eine Stelle, andere studieren berufsbegleitend.

Mittelständischen Unternehmen bleibt mehr Spielraum, ihren Mitarbeitern Freiheiten einzuräumen. In Konzernen braucht es dafür klare Absprachen. "Jüngere Kollegen wollen nicht unbedingt weniger arbeiten, doch sie erkun­digen sich, welche Sozialleistungen wir anbieten", weiß Monika Brandl, Gesamtbetriebsratsvorsitzende der Telekom in Bonn. "Besonders nach Angeboten für die Kinderbetreuung fragen auch junge Männer." Seit diesem Jahr bietet die Telekom allen Mitarbeitern ein Lebensarbeitszeitkonto an. Über den Tarifvertrag ist geregelt, wie viele Stunden die Mitarbeiter pro Woche ansammeln dürfen. "Viele interessieren sich für das Angebot", bilanziert Brandl.

Teilzeitjobs sind in vielen Unternehmen Frauensache. Von allen Teilzeitbeschäftigten der Telekom sind knapp 90 Prozent Frauen. Doch aus der Teilzeitfalle finden dort die Beschäftigten aufgrund einer Richtlinie einfacher wieder heraus. Jede Teilzeitbeschäftigte kann innerhalb von drei Monaten auf eine Vollzeitstelle wechseln. Diese Flexibilität, von der ehemaligen Personal-Vorstandsfrau Marion Schick eingeführt, kommt vor allem Frauen zugute.

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Foto: Lothar Seiwert

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