Wege in die Echtzeit-Sphäre

24.03.2000
Kein Zweifel: IP ist "das" Kommunikationsprotokoll auf OSI-Ebene 3. Doch wenn es um Übermittlung von Echtzeitdaten geht, weist das Internet-Protokoll noch Schwächen auf. Oldie ATM scheint deshalb wieder bessere Karten zu haben.

Von: Kai-Oliver Detken

Vor zwei Jahren herrschte bezüglich "Voice over IP" (VoIP) eine regelrechte Euphorie. Davon ist zumindest in Deutschland nicht viel übrig geblieben. Kein Carrier bietet bislang Sprache über IP-Netze an. Das liegt zum einen an den sinkenden Kosten für herkömmliche Telekommunikationsdienste, zum anderen an der im Vergleich zum "normalen" Telefon schlechteren Qualität.

Jetzt haben Firmen wie Cisco und 3Com/Siemens eine neue Offensive in Sachen IP-Telefonie gestartet. Der Ausgangspunkt sind dieses Mal die Endanwender. "Sprache über IP" wird sich also aller Voraussicht nach nicht aus dem Carrier-Markt heraus entwickeln, sondern von den Endkunden vorangetrieben. Der erste Schritt ist die Migration von Telekommunikationsnetzen zu Datennetzen. Die TK-Anlage wird über ein IP-Gateway an das Datennetz angebunden. Das hat den Vorteil, dass der Anwender vorhandene analoge Telefone zunächst weiterhin einsetzen kann. Später kommen reine IP-Telefone hinzu, die TK-Anlage miteinander kommunizieren.

Bis dahin muss das Netzwerk "Voice Ready" gemacht werden, um die Anforderungen in Bezug auf Verfügbarkeit, Bandbreite und Verzögerungszeiten zu erfüllen. Das wird noch einige Jahre dauern, weil die Anwender ihre Systeme weiterhin nutzen möchten. Dennoch ist festzustellen, dass trotz einer gewissen Ernüchterung in puncto VoIP die Entwicklung in Richtung Konvergenz von Sprache und Daten nicht aufzuhalten ist.

Bevor jedoch Echtzeitdaten über IP-Netze laufen, muss die Netzinfrastruktur nachgebessert werden. Das Grundübel ist die paketorientierte Architektur von IP: Datenpakete werden ohne Rücksicht auf Verzögerungen weiterleitet. Für die bisherigen Anwendungen reichte das aus, nicht aber für Echtzeit-Applikationen. Neben Sprache über IP und Videokonferenzen zählen auch Mobilfunkapplikationen zu dieser Kategorie.

Einer der erfolgversprechendsten Ansätze, um IP echtzeitfähig zu machen, sind die "Differentiated Services".

Diffserv unterstützt unterschiedliche "Service Level Agreements". Jeder Klasse ist eine separate Warteschlange (Queue) zugeordnet. Allerdings ist Diffserv noch nicht standardisiert. Zu klären sind noch folgende Fragen:

- wie viele "Premium"-Services ein Netz verträgt;

- wie unterschiedliche Dienstklassen (Classes of Service = CoS) abzurechnen sind;

- auf welche Weise sich Anforderungen auf Netzwerkdienste abbilden lassen;

- wie sich Diffserv in großen Netzen verhält (Stichwort "Aggregation");

- wie das dynamische Bandbreiten-Management aussehen soll.

Extra- und Intranets: Lösungen noch lückenhaft

Seit 1999 installieren Firmen und Behörden verstärkt "Virtual Private Networks" (VPNs) beziehungsweise Extranets, um Kosten zu sparen und Außenstellen, Kunden oder Partner über das Internet ans Unternehmensnetz anzubinden. Einige Faktoren sprechen allerdings noch gegen den Einsatz von Intranets oder Extranets, etwa

- die mangelnde Sicherheit,

- Probleme bei der Netzwerkadministration,

- der Einsatz unausgereifter Techniken,

- die Tatsache, dass kaum Komplettlösungen vorhanden sind,

- die schwierige Integration von Anwendungen,

- der Mangel an globalen Verzeichnissen und

- Schwächen bei der Replizierung von Daten.

Diese Schwachpunkte werden gegenwärtig beseitigt, insbesondere mit Hilfe neuer Standards. Ein Beispiel dafür ist IPsec, eine Norm für die sichere Datenübertragung. Die Arbeiten an diesem Standard sind noch nicht abgeschlossen. Nicht zufrieden stellend geregelt sind unter anderem die Verschlüsselung und die Authentifizierung. Zudem kann die Performance bei Einsatz von IPSec-Software-Implementierungen drastisch sinken. Mit Hardware-Unterstützung, etwa Systemen von Newbridge und Cisco, werden Durchsatzraten von 60 bis 90 MBit/s erzielt.

Sorgenkind Signalisierung

Ein weiteres Manko ist, dass weiterhin eine "Internet Key Exchange"-Plattform (IKE) nach RFC-2409 erforderlich ist, um die Schlüssel zu verwalten und nur ausgewählten Nutzern Informationen zukommen zu lassen. Transaktionen, die mittels "Secure Sockets Layer" (SSL) gesichert werden, bereiten dagegen Netzwerkverwaltern und Anwendern kein Kopfzerbrechen. Zum einen, weil der Standard nur TCP-Verbindungen verschlüsselt, und zum anderen, weil er unabhängig von Applikationen ist. IPSec dürfte zudem davon profitieren, dass Microsoft in Windows 2000 die Norm unterstützt.

Auf Protokollebene werden IP-Echtzeitanwendungen inzwischen auf breiter Front unterstützt, etwa in Form des "Real-Time Transport Protocol" (RTP) oder des "Session Initiation Protocol" (SIP) sowie durch Standards wie H.320, H.323 und T.120. Dennoch bleiben Fragen offen. So ist es nicht möglich, in verbindungslosen (connectionless) Netzwerkumgebungen eine bestimmte Dienstgüte festzuschreiben. Außerdem muss die Signalisierung von ISDN (SS7) an IP angepasst werden. Dies führt dazu, dass Echtzeit-IP-Netze komplexer werden und Funktionen bereitstellen, die denen von ATM ähneln.

Im Gegensatz zum Asynchronen Transfermodus müssen allerdings die Standards für den Transport von Echtzeitdaten über IP noch fixiert werden. Am Markt sind inzwischen proprietäre Lösungen aufgetaucht. Sie bieten dem Anwender jedoch keine Gewähr in puncto Interoperabilität mit anderen Systemen oder Investitionssicherheit.

Um die Integration von IP und ATM weiter voranzutreiben hat das ATM-Forum die Arbeitsgruppe "ATM-IP Collaboration" aus der Taufe gehoben. Sie beschäftigt sich unter anderem mit dem Thema "Multiprotocol over ATM" (MPOA). Im vergangenen Jahr wurde MPOA in der Version 1.1 um einige Details erweitert, beispielsweise Unterstützung von Virtuellen Privaten Netzen (VPN) und "Management Information Bases" (MIBs). Wie die "ATM-IP-Collaboration"-Gruppe das Thema "IP und ATM" angehen wird, ist noch nicht ganz klar. Zur Zeit beschäftigt sich das Gremium vor allem mit der "Multi Protocol Label Switching"-Technik (MPLS).

ATM macht wieder Boden gut

Die Frage, welche Technik sich denn nun am besten für Übermittlung von Echtzeitdaten eignet, ist nicht mehr so eindeutig zu beantworten wie vor ein paar Monaten. Nach dem Rummel um IP ist nun wieder eine gewisse Rückbesinnung auf ATM zu verzeichnen. Das Internet Protocol ist zwar unbestritten das universelle Kommunikationsprotokoll auf Schicht 3. Aber wegen der "Löcher" in der Standardisierung lassen sich, im Gegensatz zu ATM, qualitativ hochwertige Dienste gegenwärtig nur unter Schwierigkeiten realisieren. Der Trend in Richtung IP ist jedoch ungebrochen, zumal Spezifikationen vorangetrieben werden, die das Internet-Protokoll in Bezug auf Echtzeit, Signalisierung, Quality of Service und Routing weiterentwickeln. Es bleibt abzuwarten, welcher Lösungsvorschlag sich letztlich am Markt durchsetzt. (re)

Zur Person

Kai-Oliver Detken

studierte Informationstechnik an der Universität Bremen. Heute ist er als Senior Consultant bei der WWL Internet AG tätig und leitet dort den Bereich "WWL Network Bremen".