Web-Enabling schützt Investitionen

26.07.2002
In der schnellsten aller Branchen war das Bewährte lange Zeit nichts wert. Nun aber verlängern knappe Budgets die Einsatzzyklen einmal implementierter Hard- und Software. Spezialisten, die Mainframe- und Unix-Applikationen ins Webzeitalter holen, genießen neue Aufmerksamkeit. Auch Customer Relationship Management setzt aufs Bestehende.

Von: Dr. Johannes Wiele und Bettina Weßelmann

Die Fahrt zum Web-Enabling-Anbieter Tarantella führt aus dem Silicon Valley hinaus. Der Highway 17 kreuzt die San-Andreas-Spalte und schlängelt sich vierspurig auf einer engen und steilen Route durch Redwood-Wälder zum Küstenort Santa Cruz. Oft ist die Strecke nebelverhangen, weil hier die kalte Pazifikluft auf die sonnigen Landmassen Kaliforniens trifft. Heute ist alles frei, aber die Tücken der Strecke lassen den Verkehr trotzdem stocken. Zeit genug, vor dem Interview noch einmal die Gründe für den Abstecher durchzugehen.

Neuer Schwung für Legacy-Systeme

Von einer "richtigen" IT-Applikation erwartet der Anwender heute eine grafische Oberfläche oder ein Web-Interface und Kommunikation übers Web. Nach wie vor aber gibt es Systeme, die vor der Internet-Ära entstanden sind. Sie finden sich zum Beispiel in Großunternehmen, die früh in leistungsfähige und damals noch maßgeschneiderte IT-Infrastruktur investierten. Manche Organisationen haben die Mainframe-Hardware zwar abgeschafft, setzen die Anwendungen aber immer noch ein - auf modernen Unix-Rechnern im Emulationsmodus. Die Beschränkungen auf zeichengestützte Informationsdarstellung und wenige Kommunikationsschnittstellen wurden dabei oft nur rudimentär behoben.

Teils sind die Systeme für ihre Kernaufgaben noch leistungsfähig genug, teils können ihnen andere Produkte gar nicht das Wasser reichen - und einWechsel würde allein aufgrund der notwendigen Datenkonvertierung in vielen Fällen extrem teuer. Die mangelhafte Web-Anbindung aber lässt sich immer weniger verschmerzen, weil neuerdings gerade jene Anwendungen im Internet zur Verfügung stehen sollen, in deren Umfeld sich die Uraltvertreter der Enterprise-Application-Klasse am längsten gehalten haben. Dazu zählen neben Verwaltung und Gesundheitswesen auch die Bildungsinstitutionen.

Deshalb ist NetworkWorld auf dem Weg zu Unternehmen, die Mainframe- und Unix-Anwendungen webfähig machen. Tarantella in Santa Cruz ist der erste Kandidat, dann folgt Netmanage in Cupertino.

Start hinterm Wald

Manchem innovationsversessenen Strategen der jüngst vergangenen Boom-Zeit im Silicon Valley muss Tarantella nicht nur im geografischen Sinne hinterwäldlerisch, nebulös und geradezu prähistorisch vorgekommen sein. Ursprünglich war das Unternehmen nämlich ein Teil des bereits 1978 gegründeten Unix-Anbieters Santa Cruz Operation (SCO). 2001 übernahm der Linux-Distributor Caldera die Unix-Schiene, und aus SCO wurde Tarantella Inc. Das Unternehmen investierte dann seinerseits in Caldera. Erst vor kurzem machte sich der Linux-Distributor daran, die Anteile von Tarantella zurückzukaufen.

Alle Produkte von Tarantella wurzeln also fest in einer Technologie, deren baldige Ablösung der Microsoft-Fraktion und vielen Client-/ Server- und Web-Evangelisten lange Zeit als ausgemachte Sache erschien. "Web-Enabling" für solche Systeme erschien als Aufgabe, die sich kurzfristig selbst überholen würde. Tarantella aber existiert noch immer, auch wenn das Unternehmen 2001 einen Umsatzverlust von 67 Prozent hinnehmen musste. An einem der Bauwerke in Santa Cruz prangt inzwischen das Caldera-Signet.

Aus den Fenstern im ersten Stock blickt man von einem Abhang auf den Pazifik und genießt eine für US-Verhältnisse ungewöhnliche Situation: "Hier am Waldrand braucht man keine Klimaanlage, sondern öffnet die Fenster", erklärt Dennis Adams, Vice President Marketing bei Tarantella. Santa Cruz sei schon deshalb besser als das ganze Silicon Valley. Da wir nach der Marktentwicklung fragen wollen, hat er Guy Churchward mit ins Gespäch geholt. Er ist als Director Strategic Marketing und ehemaliger Sun-Mitarbeiter unter anderem für die Partnerschaft zwischen seinem neuen und dem alten Arbeitgeber zuständig.

Auch Webservices werden veralten

Die Frage, ob der Markt fürs Web-Enabling nicht irgendwann wegbricht, wischen unsere Gesprächspartner aber mit einem Lachen vom Tisch: "Wenn es keine Mainframe- und Unix-Anwendungen mehr gibt, werden wir Webservices hosten, die dann zu Legacy-Systemen geworden sind." Für die Kernaufgabe von Tarantella, Lücken zwischen Technologien zu überbrücken, entstehe immer wieder neuer Bedarf. Außerdem biete man einen schnellen und unkomplizierten Webzugriff auf Applikationen. Andere Modelle würden den Anwender durch zu lange Wartezeiten abschrecken.

Auf Application-Serviceprovider (ASP) als Kunden gehen Adams und Churchward nicht ein. Hat das gepriesene neue IT-Konzept nicht gehalten, was es versprach? Eher ist wohl das Geschäftsmodell ASP zu einer Einsatzmethode von Software mutiert, die selbst den Architekten des Modells nicht mehr als separates Business in den Sinn kommt.

Eine Universität beispielsweise könnte als Non-Profit-ASP mittels Tarantella ihren Studenten neben dem Zugriff auf den Bibiliotheksserver Linux-Anwendungen wie Star Office zur Verfügung stellen, ohne die für vergleichbare kommerzielle Produkte fälligen Lizenzgebühren bezahlen zu müssen.

Große Hoffungen setzt Tarantella in die HIPAA-Initiative der US-Regierung. Der "Health Insurance Portability and Accountability Act" soll Transaktionen im Gesundheitswesen vereinfachen, indem die Kommunikationspartner zur Nutzung moderner Kommunikationsmedien angehalten werden. Dazu müssen die Computersysteme von Kliniken und Versicherungen ans Web, und zwar mit hoch entwickelten Datenschutzfunktionen. Hier kann Tarantella einige Probleme lösen, weil es Legacy-Anwendungen via SSL-Verschlüsselung internetfähig macht und die Kommunikationswege sichert. Außerdem hat das Unternehmen Erfahrung damit, Imaging-Anwendungen ins Web zu bringen, die unter anderem dem Austausch von Röntgenbildern dienen könnten. Dennis Adams geht so weit, dass er das Jahr 2002 für die US-IT-Industrie zum "HIPAA-Jahr" eklärt, während 2001 das "Security-und-Privacy-Jahr" gewesen sei.

In seinen offiziellen Mitteilungen an die Aktionäre nennt Tarantella als einen der möglichen Faktoren, die die Geschäftsentwicklung negativ beeinflussen könnten, die Einführung innovativer Techniken in den Markt: Sie könnten die Nachfrage senken. Als einziger unserer Interviewpartner im Valley unterstützt Adams allerdings die Meinung der Gartner Group, echte Innovationen seien von der Branche fürs Erste nicht zu erwarten. Java sei noch eine echte Erfindung gewesen, aber zurzeit könne er nichts vergleichbares sehen. Lediglich Instant Messaging lässt er als innovativ gelten, weil es eine Lücke zwischen Telefonie und E-Mail schließe, und die Extended Markup Language (XML) versteht er als Technologie, welche die bestehenden Standards im Bereich Enterprise Application Integration (EAI) und Electronic Data Interchange (EDI) ablösen werde.

Die Branche räumt auf

"Vieles Neue ist trendy, kann aber mangels Geld in der Praxis nicht umgesetzt werden", ergänzt Churchward. Als typisches Beispiel versteht er den Status der mobilen Devices: "Die Standards für Wireless LANs und die biometrischen Verfahren zur Absicherung sind schon lange bekannt, aber der Einsatz kommt mangels Anwendungen und digitaler Netze als Infrastruktur nicht voran." Tarantella etwa habe bereits 2001 auf der CeBIT einen Client vorgestellt, der den Zugriff auf Unternehmensanwendungen mit dem Nokia Communicator erlaube. Erst jetzt steige langsam das Interesse. "Es ist eine Zeit der Mikro-Innovationen", meint Churchward.

Aus Sicht von Churchward und Adams hat Pragmatismus die Jagd nach Megatrends verdrängt. "Die Branche räumt auf", stellt Churchward fest. Wenn es ein Ziel gibt, das zurzeit die ganze IT-Welt bewegt, so ist es nach Ansicht von Tarantella der "Zugriff auf Informationen zu jeder Zeit von jedem Ort".

Damit ist das Interview beendet, der Pazifik-Strand lockt. Vom Pier aus ist das Gelände der Santa-Cruz-University zu sehen, wo auch "Santa Cruz Operation" entstand. Die Hochschule ragt in die Wälder hinein, weshalb hinter den hölzernen Studentenwohnhäusern Warnschilder stehen, die Ratschläge für Begegnungen mit Pumas erteilen: Man mache sich so groß wie möglich, schreie laut und werfe mit Steinen. Auf diesem einmaligen Campus fand sich früher jedes Jahr fast die gesamte Unix-Gemeinde zum "SCO-Forum" zusammen. Dieses Stück universitäre IT-Kultur existiert nicht mehr.

Server wird es immer geben

Bei Netmanage in Cupertino sind wir wieder mitten im Valley. Auch dieses Unternehmen befasst sich mit "Web-Enabling", fokussiert aber Mainframe-Anwendungen. In der Zukunft wolle man sich intensiver um Unix-gestützte Server kümmern, verrät Bert Rankin, Vice President Worldwide Marketing.

Das Unternehmen startete 1990 mit einem Produkt, das Windows-Systeme TCP/IP-fähig machte. "Wir haben genau das Stückchen geliefert, das Onkel Bill ausgelassen hat", amüsiert sich Zvi Alon, Chairman, President und CEO von Netmanage, über die damalige Internet-Ignoranz bei Microsoft. Erst mit Windows 95 bügelte Redmond die Scharte aus, und Netmanage musste sich neue Einnahmequellen suchen. Das Unternehmen schwenkte vom Markt für Privat-User-Tools auf den Enterprise-Sektor um.

"Sie bezeichnen das, was wir tun, wohl als Emulation", meint Alon, "aber wir betrachten unser Angebot lieber vom Nutzen für die Kunden her: Es erlaubt, vorhandene Systeme auch für moderne Kommunikations-Infrastrukturen optimal zu nutzen, ohne die Hard- und Software ständig austauschen zu müssen." Alon ist der Ansicht, dass Innovation nach wie vor stattfindet. "Die Geschwindigkeit der Erneuerung bleibt immer gleich", erklärt er, und verweist auf die langsamen Erfindungszyklen bei den Kommunikations-Protokollen als Messlatte: "Was der Boom der letzten Jahre gebracht hat, waren lediglich neue Komponenten und Kanäle, doch die Infrastruktur und die Regeln der Kommunikation ändern sich so stetig und langsam wie zuvor." Radio im Internet zum Beispiel wirke zwar neu, bleibe aber Radio. Und mit mobilen Devices kämen zwar neue Endgeräte ins Spiel, aber Server und Applikationen brauche man nach wie vor. Auch Netmanage geht davon aus, dass es immer Technologielücken zu überbrücken gibt, und dass Webservices irgendwann zu Legacy-Systemen werden. HIPAA gilt bei Netmanage wie bei Tarantella als wichtiger Impulsgeber.

"Uns hat weder der Boom noch der Zusammenbruch der Dotcoms sonderlich tangiert, weil wir ohnehin ein eher konservatives Wachstumsmodell verfolgen", meint Alon. "Das Getöse erreicht uns nicht", schmunzelt er. Das Unternehmen aus Cupertino hat keine Zukunftssorgen und es kann auf eine gegen die Branchentrends positive Geschäftsentwicklung verweisen, die sich im Aktienkurs niederschlägt.

Zehn Jahre in 30 Minuten

Netmanage will nun demonstrieren, was die Software "On Web" aus dem Angebot des Unternehmens zu leisten vermag. Anstelle von Zvi Alon und Bert Rankin übernimmt Senior Product Marketing Manager Vijay "VJ" Lal die Regie, der uns via Videoconferencing-System mit dem On-Web-Spezialisten Keith Russel zusammenschaltet. Dieser wiederum zeigt uns live, wie sich ein Server der Harvard University, dessen zeichengestützter Bildschirm den reichlich spröden Charme der 80er versprüht, in einen scheinbar hochmodernen Webserver verwandeln lässt.

On Web arbeitet als Server, der zwischen Endanwender und Legacy-System geschaltet ist. Auf der einen Seite "redet" das System mit dem Mainframe-Rechner so, als würde ein User die zeichengestützten Masken an einem Terminal bedienen. Dem Anwender aber präsentiert On Web die typische HTML-Oberfläche eines modernen Webservers.

Ein Vorteil ist, dass in den Legacy-Server dabei nicht eingegriffen werden muss. Für Mainframe-Anwender ist dieser Aspekt wichtig, denn Programmierer, die die alten Cobol-, BAL-, RPG-, PL/1- und Fortran-Anwendungen analysieren können, gibt der Arbeitsmarkt kaum noch her. Kenntnisse auf diesen Gebieten gelten geradezu als Karrierebremse.

Russel stellt die Verbindung zum Harvard-Server her und legt los. Im Designer-Modus der Out-of-the-Box-Lösung markiert er die Ein- und Ausgabefelder auf dem Bildschirm der Universität und definiert mithilfe von Werkzeugboxen, welche Ein- und Ausgaberegeln für die jeweiligen Felder gelten. Mit der Maus wählt er dann moderne Bedienelemente aus, die auf der Anwenderseite in Zukunft die alten Textfelder repräsentieren sollen, und positioniert sie auf der Oberfläche. Danach hinterlegt er den Bildschirm mit Grafik. Für Feinarbeiten lässt sich auch ein Editor wie Frontpage nutzen.

Ganze 30 Minuten nach dem Start hat der Server eine moderne Optik und funktioniert auch nach dem gleichen Muster wie ein aktueller Internetdienst.

Die Leistungsfähigkeit von On Web ist damit allerdings noch nicht erschöpft. So kann das Interface selbst Berechnungen durchführen und neue Business-Logik in die Arbeit mit dem alten System einführen. Außerdem lassen sich mehrere Anwendungen unter einer gemeinsamen Oberfläche vereinen. Netmanage nennt als Beispielprojekt hier den Buchungsservice einer großen Hotelkette, den das Unternehmen vor kurzem auf Web-Bedienung umgestellt und gleich noch mit Zugängen zu anderen Diensten ausgestattet hat, die Hotelgäste interessieren. Darüber hinaus beherrscht On Web WML und XML, um Legacy-Systeme für Webservices-Umgebungen und mobile Anwendungen tauglich zu machen.

Uns ist inzwischen klar, warum der Hersteller sein Produkt so gerne herzeigt: Der Nutzen wird beim bloßen Zuschauen deutlich, und die Aktionen des Technikers sind auf Anhieb nachvollziehbar. Für Mainframes sind offenbar gute Zeiten in Sicht.

Der Kunde als Waffe im Wettbewerb

Beim Customer-Relationship-Management-Hersteller Epiphany in San Mateo verläuft der Besuch anders als bei den Firmen, die wir bisher aufgesucht haben. Die Zeit ist genau bemessen, und PR-Managerin Kim Stocks lenkt das Gespräch mit Paul A. Rodwick, Vice President Market Development and Strategy, und James Ferguson, Director Product Management, strikt nach ihrer Agenda. Die lockere Atmosphäre, die wir inzwischen gewohnt sind, gibt es hier nicht.

Was man uns sagt, klingt allerdings verblüffend ähnlich wie die Thesen von Netmanage und Tarantella, die doch in völlig anderen Marktsegmenten tätig sind. "Wir wollen, dass unsere Lösungen mit existierenden Applikationen immer besser zusammenarbeiten", erläutert beispielsweise Ferguson.

Auch an Cisco werden wir damit erinnert: Das Ziel, den Kunden unbedingt zum Erwerb neuer Systeme zu drängen, hat man im CRM-Sektor offenbar ebenso zurückgestellt wie beim Netzwerkspezialisten, wo immer ausgefeiltere Software-Updates die Anwender so lange bei Laune halten sollen, bis neue Investitionskraft gewachsen ist.

Auch beim Umgang mit den Kundendaten, die Epiphany als strategische Waffe im Wettbewerb eines Unternehmens versteht, ist also die bestmögliche Ausnutzung vorhandener Informationen das wichtigste Ziel. "Wir müssen die Informationsfragmente zusammenbringen, die überall getrennt gespeichert sind", erklärt Rodwick. Konkret hat sich Epiphany vorgenommen, die in Unternehmen bestehenden Barrieren zwischen Marketing, Service und Verkauf abzubauen.

Als Anwender-Interface der Zukunft versteht Epiphany den Browser, in dem alle erreichbaren Informationen am Arbeitsplatz zusammentreffen sollen. Die CRM-Software E6 stützt sich auf Application-Server-Seite auf den Standard J2EE und sichert auch auf diese Weise die Kollaborationsfähigkeit der Software.

Die Webarchitektur könnte auch die Basis für einen mobilen Zugriff auf CRM-Daten sein. Das allerdings halten Ferguson und Rodwick noch für Zukunftsmusik: "Vertreter auf Reisen könnten so etwas gebrauchen, aber zumindest in den USA nutzen sie bisher noch nicht einmal Mobiltelefone, weil ihnen die Übertragungsqualität zu schlecht ist", zeichnet Rodwick ein ernüchterndes Bild der aktuellen Situation. Wie Guy Churchward von Tarantella sieht er die Infrastruktur als entscheidend für den Durchbruch von Neuerungen an. Am Ende hängt Innovation also von den Netzwerken ab - für die NetworkWorld eigentlich ein erfreuliches Bild.

Zur Person

Bettina Weßelmann

ist freie IT-Fachjournalistin und Fachbuchautorin in München.