Digitaler Nachlass

Was mit den Online-Daten Verstorbener geschieht

02.09.2014 von Simon Hülsbömer
Bis das Web euch scheidet: Je digitaler ein Menschenleben wird, desto wichtiger wird die Frage, was mit den digitalen Hinterlassenschaften geschieht, wenn ein Mensch nicht mehr lebt. Eine Antwort darauf ist gar nicht so einfach.

Schluss. Aus. Ende. Am Ende eines Menschenlebens steht der Tod. Das Nichts. Das Paradies. Oder was auch immer man glauben mag. Am Ende eines Internetlebens hingegen steht ein großes Fragezeichen. Was ist mit den zahllosen digitalen Identitäten, den Social-Network-Profilen, den E-Mail-Postfächern, den unzähligen elektronischen Unterlagen, digitalen Familienfotos, persönlichen MP3- und Filmsammlungen, die auf Festplatten, DVDs, USB-Sticks und im Web schlummern, wenn ihr Besitzer nicht mehr da ist?

Hand aufs Herz - wer hat sich schon einmal mit dem eigenen Tod beschäftigt? Na klar, wenn jemand stirbt, der einem nahesteht, kommen wohl jedem die Gedanken zumindest kurz in den Kopf. Doch welcher "Digital Native", also nach 1980 Geborene, hat sein Testament heute bereits gemacht und dabei seine digitalen Daten mit berücksichtigt? Ist es doch gerade diese Altersgruppe, die zu großen Teilen online lebt, mehr digitale Freundschaften als persönliche pflegt, wichtige Verträge und Dokumente nur noch digital verwaltet, lieber via Sofortnachricht, SMS und E-Mail korrespondiert. Umso wichtiger, einmal kurz in sich zu gehen und den digitalen Nachlass zu regeln - oder zumindest zu wissen, inwiefern er überhaupt geregelt werden kann. Denn der Tod kommt - früher oder später - in jedem Fall irgendwann. Und es ist nicht anmaßend zu behaupten, dass das Internet und damit unsere digitalen Hinterlassenschaften uns alle überleben werden.

Neue Dienstleistungen

Service: Semno gibt Hinterbliebenen die Möglichkeit, den digitalen Nachlass Verstorbener prüfen zu lassen.
Foto: Semno.de / Screenshot: Simon Hülsbömer

"Den meisten Menschen ist nicht bewusst, was sich heute bereits in ihrem digitalen Nachlass befindet", berichtet Birgit Janetzky. Die Theologin hat vor drei Jahren Semno gegründet, einen Dienstleister, der den digitalen Nachlass Verstorbener im Auftrag der Erben regelt. Das Unternehmen analysiert deren Computer, um den Hinterbliebenen einen ersten Eindruck zu geben, welche Arten von digitalen Informationen überhaupt vorliegen. Daraus wird ein Gutachten erstellt, auf dessen Basis die Angehörigen über das weitere Vorgehen entscheiden können. Auf Wunsch kümmert sich Semno dann auch um die Kündigung von Verträgen, E-Mail-Konten oder Social-Network-Profilen.

Theologin: Birgit Janetzky bietet neben der rein technischen Dienstleistung auch Trauerbegleitung an.
Foto: Birgit Janetzky / Semno

Ihr theologischer Hintergrund und jahrelange Berufserfahrung in der Bestattungsbranche erlauben es Janetzky, Angehörige auch in psychologischer Hinsicht betreuen zu können, wenn ein nahestehender Mensch verstorben ist. "Wir erbringen nicht nur eine rein technische Dienstleistung", erklärt sie. Groß ist die Nachfrage trotz dieser ratsamen Kombination dennoch nicht - viel häufiger ist Janetzky als Vortragsrednerin unterwegs und referiert zum Thema "digitaler Nachlass". "Der einem Menschen nahe Tod ist ein großes Tabuthema, ganz im Gegensatz zum öffentlichen Tod in den Medien", bringt sie es auf den Punkt.

Rechtliche Unsicherheit

Diese Tabuisierung sorgt auch dafür, dass das Thema "digitales Erbe" selbst bei vielen Nachlassverwaltern, Notaren und Juristen ganz allgemein bisher kaum auf der Tagesordnung auftaucht und es keine allgemeinverbindliche Rechtsprechung hierzu gibt.

Rechtsanwalt: Thomas Schulte hat sich intensiv mit den rechtlichen Fragen des digitalen Nachlasses beschäftigt.
Foto: Schulte und Partner Rechtsanwälte

Thomas Schulte, Rechtsanwalt und Gründungspartner seiner Berliner Kanzlei, erklärt: "Der materielle digitale Nachlass, zum Beispiel die Festplatte des Computers oder das Handy, geht nach § 1922 BGB an die Erben über, sofern im Testament nichts anderes geregelt wurde. Diese können dann entscheiden, was mit den dort gespeicherten Daten geschehen soll." Das müsse nicht unbedingt im Sinne des Erblassers sein - schließlich werde auch beispielsweise das Urheberpersönlichkeitsrecht vererbt ("Cosima-Wagner-Urteil", BGHZ 249-262).

Führte der Verstorbene also zum Beispiel ein Tagebuch, entscheiden die Erben, was mit diesen Aufzeichnungen geschieht - das gilt entsprechend auch für digital vorliegende Texte oder Videologs. Schulte empfiehlt, testamentarisch zumindest mitzuverfügen, was mit lokal gespeicherten digitalen Daten geschehen soll.

Schwieriger zu klären sei die Frage nach dem Verbleib immaterieller Daten - also Daten, die nicht lokal, sondern im Web gespeichert sind. Hier entscheide "jeder Betreiber einer Online-Plattform zurzeit selbst, ob er die Daten den Erben preisgibt oder nicht". Das sei insofern von Nachteil, als damit die geltenden Regelungen von Plattform zu Plattform verschieden seien und beispielsweise auch nicht kontrolliert werden könne, ob Daten Verstorbener beispielsweise für Online-Banking weiterbenutzt würden.

"Wenn ein Betreiber wie Facebook in seinen Allgemeinen Geschäftsbedingungen stehen hat, dass er über sämtliche gespeicherten Informationen nach Belieben verfügen darf, gilt das auch für die Daten von verstorbenen Nutzern." Er könne sogar festlegen, dass den Erben der Zugriff auf das Nutzerkonto oder Profil verweigert werde. Soll heißen: Stirbt der Nutzer, bevor er testamentarisch etwas anderes verfügt hat, sind die Angehörigen auf den guten Willen eines Konzerns angewiesen. Bei deutschen Anbietern beispielsweise beißen sie in jedem Fall auf Granit, denn hierzulande gelten entsprechende Datenschutzgesetze. Angela Rittig, Pressesprecherin beim Business-Netzwerk Xing, erklärt: "Angehörigen kann der Zugriff auf den Account nicht ermöglicht werden, denn wir geben keine personenbezogenen Daten an Dritte weiter."

Streitthema E-Mail

Anders sieht es bei US-Anbietern wie Facebook aus. Zwar sei die Wirksamkeit derartiger AGB-Klauseln rechtlich noch ungeklärt, weil es noch keinen Präzedenzfall gegeben habe, erläutert Schulte. Wer Rechtsstreitigkeiten vermeiden möchte, sollte aber vorbauen und testamentarisch festhalten, ob Erben derartige Dienste einsehen dürfen oder nicht." Es könne auch ratsam sein, die Zugangsdaten einem engen Vertrauten mitzuteilen, der dann von sich auf entsprechende Services zugreifen könne, um Probleme gar nicht erst aufkommen zu lassen, empfiehlt der Rechtsanwalt.

Strittig unter Juristen ist zudem der Umgang mit den E-Mail-Postfächern von Verstorbenen. Es sei rechtlich nicht geklärt, ob Hinterbliebene entsprechende Konten einsehen dürften. Selbst wenn sie offizielle Belege für den Tod eines Menschen vorlegten, könne ein Mail-Provider trotzdem noch selbst entscheiden, ob er den Erben die Zugangsdaten weiterleitet oder nicht, so Schulte. Vorsicht sei in jedem Fall geboten: "Wird das Konto einfach gelöscht, könnten wichtige Daten des Verstorbenen, die das Erbe betreffen, wie zum Beispiel Versicherungsverträge, verloren gehen."

Der Rechtsanwalt weist abschließend darauf hin, dass bei der Vielzahl digitaler Persönlichkeiten den Angehörigen oftmals gar nicht bekannt sein könne, wo ein Verstorbener überall Spuren hinterlassen hat. Umso wichtiger seien testamentarische Regelungen zu Lebzeiten. Ideal sei es natürlich, eine gesetzliche Regelung zum Thema "immaterieller digitaler Nachlass" zu erreichen - da sich das Internet aber nicht in nationalen Grenzen bewege, sei das quasi aussichtslos.

Sie beißen nicht

Nun könnte man fast befürchten, Online-Anbieter seien pietätslos und unheimlich umständlich, was die Abschaltung von Nutzerprofilen und die Herausgabe respektive Löschung persönlicher Daten von verstorbenen Nutzern angeht. Zum Glück ist das aber nicht die Regel.

Virtuelles Weiterleben: Online-Friedhöfe wie StayAlive wollen Verstorbenen auch ein digitales Andenken bewahren.
Foto: StayAlive.com / Screenshot: Simon Hülsbömer

Rittig erklärt das Vorgehen bei Xing: "Üblicherweise werden wir bei Todesfällen sehr zeitnah durch die Netzwerkkontakte informiert. Selbstverständlich können sich auch die Hinterbliebenen per Mail oder telefonisch an unseren Kundenservice wenden. Auf Basis dessen schalten wir die Profile inaktiv, also für andere Mitglieder unsichtbar. Endgültig gelöscht werden sie erst nach etwa drei Monaten. So vermeiden wir, dass bei Verwechslungen oder Namensgleichheit versehentlich Profile anderer Mitglieder gelöscht werden. Gleichzeitig entsprechen wir damit dem Wunsch vieler Angehöriger, dass ein Profil unmittelbar nicht mehr vorhanden sein soll." Facebook bietet zudem die Möglichkeit, Nutzerprofile in öffentliche Gedenkseiten umzugestalten. Webmail-Provider wie United Internet funktionieren Postfächer auf Wunsch der Angehörigen auch schon mal zu elektronischen Kondolenzbüchern um (siehe auch Interview mit Thomas Plünnecke am Ende dieses Artikels).

Über den Tod hinaus: Über GrabSicht.de können Angehörige die Gräber Verstorbener online pflegen.
Foto: GrabSicht.de / Screenshot: Simon Hülsbömer

Und danach? Eine digitale Existenz endet schließlich nie, trotz aller Verfügungen, Bemühungen und Services. Keine Sorge: Als letzte Ruhestätte bieten sich virtuelle Friedhöfe wie StayAlive an. Selbst echte Gräber lassen sich von daheim aus online pflegen - laut Anbieter GrabSicht "so einfach, schnell und sicher wie Pizza bestellen". Das ist nur konsequent: Wo das Leben immer digitaler wird, gilt für das Sterben das Gleiche.

Was die Anbieter sagen

Thomas Plünnecke, Pressesprecher bei United Internet für die E-Mail-Dienste GMX und Web.de, beantwortet im Interview mit unserer Schwesterpublikation "Computerwoche" einige Fragen zum Umgang mit einem Nutzerkonto, wenn dessen Besitzer nicht mehr lebt.

CW: Wie verfährt United Internet mit Postfächern von Verstorbenen?

Thomas Plünnecke: Pressesprecher bei United Internet für die Dienste Web.de und GMX
Foto: United Internet

PLÜNNECKE: Um den Datenschutz zu beachten und böswilligen Telefonstreichen entgegenzuwirken, benötigen wir grundsätzlich immer einen eindeutigen Nachweis, bevor wir Anfragen von Hinterbliebenen beantworten oder deren Wünschen nachkommen können. Will der Erbe den Vertrag lediglich kündigen, ohne Zugriff auf das Postfach zu erhalten, ist die Sterbeurkunde erforderlich. Um Zugang zum Postfach des Verstorbenen zu erlangen, muss uns der Erbberechtigte den Erbschein vorlegen und sich ausweisen. Der Erbe muss den Zugriff auf das Postfach des verstorbenen Nutzers zudem mit einem handschriftlich unterschriebenen Schriftstück beantragen. Gibt es mehrere Erbberechtigte, ist die Zustimmung der Mehrheit der erbberechtigten Personen erforderlich. Dies erfolgt in der Regel über eine Vollmacht.

CW: Inwiefern ist das Verfahren bei FreeMail-Nutzern anders als bei zahlenden GMX-ProMail/Web.de-Club-Nutzern?

PLÜNNECKE: Im Unterschied zu kostenpflichtigen Tarifen, bei denen sich die Erbberechtigten meist nach einer der nächsten Abbuchungen direkt mit unserem Kundenservice in Verbindung setzen, um das weitere Vorgehen zu regeln, bleiben FreeMail-Konten oft verborgen. Wenn sich die Angehörigen nicht bei uns melden, bleibt der Account deshalb zunächst unverändert bestehen. Ist ein Postfach sechs Monate inaktiv - also kein Login erfolgt, kein Abruf über POP3 oder IMAP -, wird der Nutzer per E-Mail informiert. Soweit eine alternative E-Mail-Adresse vom Nutzer hinterlegt wurde, wird die entsprechende Info auch an diese Adresse gesendet. Passiert daraufhin nichts, wird das Konto auf inaktiv gestellt. Die Adresse lässt sich jetzt noch ein halbes Jahr lang reaktivieren. Nach Ablauf dieser Zeit ist die E-Mail-Adresse wieder frei verfügbar.

CW: Was geschieht mit den entsprechenden Nutzerdaten in Ihrer Datenbank?

PLÜNNECKE: Wenn die Angehörigen dies wünschen und uns alle erforderlichen Dokumente (beispielsweise den Erbschein) vorliegen, werden die Nutzerdaten nach Löschung des Accounts auch physikalisch von unseren Servern entfernt. Selbstverständlich haben die Erbberechtigten auch die Möglichkeit, das E-Mail-Postfach weiterzuführen.

CW: Wie oft kommt es vor, dass Nutzer zwar verstorben sind, ihre Postfächer aber noch eine ganze Weile erreichbar sind, weil Angehörige keine Ahnung haben, dass ein Account existiert?

PLÜNNECKE: Eine solche Statistik führen wir nicht. Da Internetanbieter wie GMX oder WEB.DE natürlich nur durch die Hinterbliebenen vom Tod eines Nutzers erfahren können, die Hinterbliebenen selbst aber insbesondere bei FreeMail-Accounts häufig nicht über den digitalen Nachlass informiert sind, ist das durchaus möglich.

CW: Gibt es eine Möglichkeit zur Vorausverfügung, was mit Nutzerdaten/Postfächern/anderen gespeicherten Daten post mortem geschieht?

PLÜNNECKE: Unser Kundenservice ist die erste Anlaufstelle für alle Fragen. Sollte es juristischen Klärungsbedarf geben, unterstützen die Mitarbeiter der Rechtsabteilung praxisbezogen. Da sich die vorhandenen Prozesse und Strukturen bewährt haben, sind spezielle Services wie eine Art Testamentfunktion derzeit nicht geplant. Wenn sich herausstellen sollte, dass die Mehrheit unserer Nutzer dies wünscht, werden wir selbstverständlich entsprechende Optionen prüfen. Aktuell ist das Interesse jedoch eher gering. So erreichen uns zum digitalen Nachlass insgesamt nur einige wenige hundert Anfragen pro Jahr. Zum Vergleich: GMX und WEB.DE haben mehr als 30 Millionen Mail-Accounts.

CW: Gab es Fälle, in denen Postfächer zunächst auf ausdrücklichen Wunsch als Art "Kondolenzbuch" erreichbar blieben?

PLÜNNECKE: Ja, das kommt vor. Mir ist beispielsweise der Fall einer Witwe bekannt, die das E-Mail-Postfach ihres verstorbenen Mannes als Kondolenzadresse nutzen und über dessen einstigen Account unter anderem auch Bekannten das traurige Ereignis mitteilen wollte.

CW: Was empfehlen Sie Ihren Kunden, was den Verbleib ihrer Daten post mortem angeht? Was empfehlen Sie Angehörigen?

PLÜNNECKE: Es ist auf jeden Fall ratsam, den digitalen Nachlass frühzeitig zu klären. Sind die entsprechenden Vertragsverhältnisse den Angehörigen bekannt, können sie nach dem Tod in der Regel ohne "buchhalterischen Anstoß" beendet beziehungsweise weiterverwaltet werden. Auch in einem Testament lässt sich selbstverständlich genau festhalten, wer später einmal Zugang zu welchen Internetdiensten haben soll - und wer vielleicht gerade nicht. (cvi)