Vom Provisorium zum Standortvorteil

14.10.1998
An vielen Hochschulen ist es noch Vision, an der Technischen Universität Chemnitz bereits seit Anfang 1995 selbstverständlich: Studenten aller Fakultäten greifen von ihren Wohnheimen aus auf das Internet zu. Sie kommunizieren per EMail, diskutieren wissenschaftliche Themen in News-Gruppen, suchen nach Forschungsergebnissen oder arbeiten remote an den Unix-Workstations der TU. Mit über 1000 vernetzten Wohnheimzimmern ist das Chemnitzer Studentennetz bislang einmalig in den neuen Bundesländern.

Von: Michael Tautenhahn, Hagen Kröber

Das heute als wichtiger Standortvorteil der Chemnitzer Uni sowohl von angehenden Studenten als auch von der Universitätsleitung anerkannt wird, begann im Sommer 1994 mit einer abenteuerlichen Verkabelung. Zu jener Zeit hatten sich in den Wohnheimen der TU Chemnitz Gruppen von Studenten zusammengefunden, die ihre PCs mittels Koaxialkabel über Fenster und die Außenfassaden zu Mini-LANs verbanden. Die unkonventionelle Vernetzung wurde zwar geduldet, konnte jedoch auf keinen Fall eine Dauerlösung darstellen. "Können wir gemeinsam eine Lösung finden, um unsere Netze in den Wohnheimen an das der Uni anzuschließen?" Mit dieser Frage trat Torsten Naumann im Juni 1994 an den Leiter des Universitätsrechenzentrums, Prof. Dr. Uwe Hübner, heran. Da das Rechenzentrum, die Universitätsleitung und das Studentenwerk der Idee sehr aufgeschlossen gegenüberstanden, wurden Umfragen durchgeführt, um das allgemeine Interesse der Studenten an einem derartigen Wohnheimnetz zu ermitteln. Daß dabei etwa 90 Prozent der beteiligten Studenten für das Projekt stimmten, war Ansporn genug, das Vorhaben so schnell wie möglich in Angriff zu nehmen.

Einfache Verkabelung mit Cheapernet

Um alle notwendigen Aktivitäten zu koordinieren, wurde die Arbeitsgemeinschaft Chemnitzer Studentennetz (CSN, http://www.csn.tu-chemnitz.de/) aus den Betreibern der kleinen lokalen Netze gegründet. Das war die Voraussetzung, um gemeinsam mit dem Rechenzentrum und dem Studentenwerk dieses Vorhaben in Angriff zu nehmen. Man entschloß sich, zwei Wohnheime in der Nähe eines Netzknotens des Rechenzentrums als Musterlösung zu verkabeln. Aus Kostengründen wählte man dafür Cheapernet (10Base2) und installierte in jeder Etage zwei beziehungsweise drei Ethernet-Segmente, die über Multiport-Repeater miteinander verbunden sind. Ein derartiges Segment versorgt dabei typischerweise acht bis zwölf Zimmer. In jedem Raum, wo Rechner anzubinden waren, wurden Ethernet-Anschlußdosen eingebaut.

Die Bustopologie erlaubte es, die anderen Zimmer zu einem späteren Zeitpunkt mit relativ wenig Aufwand nachzurüsten. Für die Anbindung ans Campusnetz der Universität wurde in jedem Wohnheim ein Gebäude-Router aufgestellt. Das waren damals 386er-PCs mit TCP/IP-Routing-Software auf MS-DOS-Basis. Begünstigt durch seinen Standort war es möglich, eines der Wohnheime über Lichtwellenleiter (10BaseF) anzuschließen. Für das zweite benutzte man eine 2-Draht-Festverbindung über Modem mit einer Datenrate von 19 200 Bit/s. Dabei fanden die vorhandenen und nicht mehr genutzten Telefonkabel Verwendung. So konnten in Chemnitz Mitte Dezember 1994 die ersten beiden Wohnheime offiziell ans Rechnernetz der Universität angeschlossen werden.

Bewohner installierten selbst

Die Finanzierung des Projektes gestaltete sich zu Beginn besonders schwierig. Das Rechenzentrum realisierte die technische Anbindung der Wohnheime, die insgesamt rund 100 000 Mark kostete. Es stellte dafür einen Großteil der Technik wie Multiport-Repeater, Lichtwellenleiter- und Patch-Kabel zur Verfügung. Finanzielle Aufwendungen für die Studenten entstanden somit lediglich durch die Innenverkabelung. Die Installationsarbeiten in den Wohnheimen führten die Bewohner unter Anleitung des CSN selbst durch. Da das Netz auf studentischer Eigenleistung beruht, sind von den Nutzern neben der einmaligen Anschlußgebühr von 50 Mark lediglich 5 Mark pro Semester aufzubringen.

Die Resonanz war riesig. Auch aus anderen Wohnheimen kamen immer häufiger Anfragen nach einem Anschluß an das Netz. So folgte im Januar 1995 bereits ein drittes Wohnheim, dessen Anbindung unproblematisch war, da es mit dem ersten über Glasfaser angeschlossenen Wohnheim einen Häuserkomplex bildete. Im März 1995 konnte das Netz schon mehr als 100 aktive Nutzer vorweisen.

LED-Links für große Entfernungen

Nun stand die Aufgabe an, weiter entfernte Wohnheime ans Netz zu nehmen. Auch hier erhielt das CSN wieder Unterstützung vom Rechenzentrum. Aus Kostengründen kam eine Anbindung über Lichtwellenleiter nicht in Frage. Es bot sich an, zwei optische Richtfunksysteme vom Typ LED-Link 300 einzusetzen. Einer diente dem Anschluß eines Wohnheimkomplexes, bestehend aus vier Häusern; der zweite ersetzte die bis dahin für Wohnheim 2 bestehende Modemverbindung. Die LED-Systeme übertragen digitale Signale mit einer Datenrate bis zu 16 MBit/s durch die Atmosphäre mit Hilfe infraroten Lichts und verhalten sich im Betrieb wie eine Verbindung mit Lichtwellenleitern. So konnten die Geräte ohne Probleme in das vorhandene Ethernet nach 10BaseF-Standard integriert werden.

Im laufenden Betrieb hat sich das optische Richtfunksystem zwar als robust erwiesen, ist aber nicht witterungsunempfindlich. Starker Nebel oder Schneefall führten sogar schon zum Totalausfall der Verbindung. Aus diesem Grund soll die Lösung in Zukunft durch Glasfaser ersetzt werden.

Was als Provisorium begann, hat sich mittlerweile zu einem festen Bestandteil der Rekonstruktion der Wohnheime durch das Studentenwerk entwickelt. Neben der Telefon- und Fernsehdose gehört nun auch die Netzwerkdose zur Standardausstattung in einem Wohnheimzimmer.

Professionelle Verkabelung mit Twisted-Pair

Für die zu sanierenden Wohnheime wählte man von Beginn an ein strukturiertes Verkabelungssystem, das relativ unempfindlich gegen äußere Störeinflüsse, zuverlässig und für zukünftige LAN-Technologien offen ist. Die Tertiär-Verkabelung in den einzelnen Etagen ist sternförmig aufgebaut und besteht aus geschirmten Twisted-Pair-Kabeln (STP) der Kategorie 5 und entsprechenden Anschlußdosen. An den Etagen-Konzentrationspunkten sind Ethernet-Hubs (10BaseT-Repeater) installiert, die über Lichtwellenleiter am Gebäude-Konzentrator zusammengeführt werden. Diese Funktion übernimmt zur Zeit ebenfalls ein 10BaseF-Repeater, welcher mittels Glasfaser an einem der Router angeschlossen ist.

Zur Zeit betreibt das CSN sein Netz in sechs Wohnheimen. Als Netzprotokoll wird TCP/IP verwendet. Jedes Wohnheim entspricht einem IP-Subnetz. Diese Netze sind über drei Router und ein weiteres Subnetz, das als Transfernetz fungiert, mit dem IP-Backbone der Universität verbunden. Die in der Einführungsphase eingesetzten 386er-PCs für das Routing wurden von drei Gateway-Rechnern (Pentium) abgelöst, die die Studenten selbst finanzierten. Sie arbeiten unter dem Betriebssystem Linux und erfüllen außer IP-Forwarding folgende Funkionen: Firewalling, Application Level Proxy (FTP, HTTP, Gopher), DNS und Accounting.

Bustopologie bereitet Probleme

Im laufenden Betrieb bringen die in Bus-Topologie verlegten Koax-Segmente einige Probleme mit sich. Häufig kommt es zu Störungen, bei denen ganze Segmente lahmgelegt und dadurch Anwender vom Netz getrennt werden. Die Ursache dafür sind meist defekte Anschlußkabel und die mangelhafte Installation der Kabel und Anschlußdosen. Regelmäßige Tests mit Meßgeräten sind daher unumgänglich.

Die Bustopologie ist außerdem anfällig für unberechtigte Nutzung und den Mißbrauch des Netzes. Um dies zu verhindern, wird auf den Gateway-Rechnern Linux als IP-Firewall betrieben. So werden nur tatsächlich vergebene IP-Adressen geroutet, und die Kombination von IP-Firewalls mit statischer Auflösung von Hardwareadressen (ARP) verhindert sogar IP-Spoofing.

Seit gut einem Jahr kommen auf den Gateways auch Web-Caches zum Einsatz. Die Wahl fiel auf den "Squid Internet Object Cache" - eine frei verfügbare und populäre Weiterentwicklung des "Harvest Cache". Über die vom Universitätsrechenzentrum betriebenen Server sind die Caches in den deutschlandweiten Verbund von Harvest Caches integriert. Dieses Konzept bringt deutliche Verbesserungen bei den Antwortzeiten im Bereich World Wide Web. Trefferquoten von durchschnittlich 30 Prozent und nicht zuletzt die subjektiven Eindrücke der Nutzer bekräftigen dies.

Studenten aller Fakultäten nutzen das CSN

Das gesamte Netzwerkmanagement und die Nutzerverwaltung werden ehrenamtlich von Studenten der Arbeitsgemeinschaft CSN erledigt. Zur Zeit sind über 600 Anwender registriert. In dieser Größenordnung ist neben der Errichtung einer geeigneten Netzinfrastruktur auch besonderes Augenmerk auf die Organisation und Verwaltung eines solchen Nutzerkreises zu richten. Für die Verwaltung der anfallenden Daten werden schon seit längerem ein SQL-Datenbanksystem und selbstentwickelte Datenbank-Applikationen eingesetzt, die speziell auf die Anforderungen der Nutzer zugeschnitten sind.

Sicher war es die Eigeninitiative einer Handvoll Studenten, die dem CSN einen solchen Erfolg und eine so große Resonanz auch unter Kommilitonen anderer Fachrichtungen bescherte. Waren es am Anfang ausschließlich Computerfreaks aus den Bereichen Informatik, Informationstechnik und Elektrotechnik, so gehören heute Studenten aller Fakultäten der Uni zur Gemeinde der aktiven Online-Nutzer. Selbst Studenten nicht-technischer Fachrichtungen haben das neue Medium für sich entdeckt und sind in der Lage, sich der vielfältigen Möglichkeiten zu bedienen. Als positiver Nebeneffekt trug das Wohnheimnetz zur spürbaren Entlastung der universitären Rechner-Pools bei.

Das Chemnitzer Studentennetz ist heute aus dem Uni-Alltag nicht mehr wegzudenken. Es gehört ebenso dazu wie ein Besuch der Mensa oder der Bibliothek und ist zum entscheidenden Standortvorteil der TU Chemnitz geworden. Ein weiterer Standortvorteil ist das in Deutschland einmalige Informations- und Kommunikationsaufbaustudium, das sich großer Beliebtheit erfreut und auf die starke Initiative des RZ-Leiters und Professors für Rechnernetze und verteilte Systeme Hübner zurückzuführen ist. "Er und seine Mitarbeiter sind diejenigen, denen die Uni in Sachen Internet sehr viel zu verdanken hat", so Torsten Naumann, einer der Initiatoren des CSN. (cep)

Hagen Kröber studiert Informatik an der TU Chemnitz und verwaltet ehrenamtlich das Chemnitzer Studentennetz CSN.

Michael Tautenhahnstudiert dort ebenfalls Informatik und ist ehrenamtlich für das Netzwerk- und System-management im CSN zuständig.

Literatur

[1] Petrik, C. E.: Uni-Wohnheim am Internet, Gateway 12/1996, Seite 108 ff, http://www.halifax.rwth-aachen.de

[2] Kiel, H.-U.: Studieren per Remote-Login, Gateway 3/1997, Seite 139 ff http://www.tu-clausthal.de/student/wohnheime/

[3] Klar, R. Th.: ATM-Netz im Uni-Wohnheim Karlsruhe, Gateway 7/97, Seite 116 ff, http://www.csn.tu-chemnitz.de/