Deutschland verschläft die digitale Revolution

Unternehmen könnten Wettbewerbsvorteile verspielen

12.01.2015 von Martin Bayer
Eigentlich hätten die deutschen Industrieunternehmen aus der Automobilbranche sowie dem Maschinen- und Anlagenbau beste Voraussetzungen, sich als Vorreiter der digitalen Revolution in der Industrie zu positionieren. Doch Studien zeigen, dass die Transformation in Richtung Industrie 4.0 hierzulande nur langsam vorankommt. Experten mahnen zur Eile, sonst könnte Deutschland wertvolle Wettbewerbsvorteile aus der Hand geben.

Die Kanzlerin gibt die Marschrichtung vor. Deutschland als klassisches Industrieland werde derzeit damit konfrontiert, dass die digitale Welt in die reale Produktion Einzug halte, sagte Angela Merkel kürzlich im Rahmen einer CDU-Veranstaltung zum Thema Netzpolitik. Jetzt gehe es darum, wie schnell sich dieses Zusammenwachsen vollziehe. Diese Frage sei "entscheidend für unsere Zukunft". Allerdings wissen in der Öffentlichkeit derzeit nur wenige Menschen etwas mit dem Thema anzufangen. Laut einer Umfrage des Branchenverbands Bitkom im Vorfeld seines Trendkongresses im November hat nur jeder fünfte Bundesbürger (21 Prozent) schon einmal etwas von Industrie 4.0 gehört. "Das sollte uns aufrütteln", warnte Bitkom-Präsident Dieter Kempf, "stellt doch die Digitalisierung der Industrie eine der größten Herausforderungen der kommenden Jahre dar."

Doch auch die Studie "Industrie 4.0 - eine Standortbestimmung der deutschen Automobil- und Fertigungsindustrie" der Porsche-Tochter Mieschke Hofmann und Partner (MHP), für die im Sommer dieses Jahres knapp 230 Manager aus der deutschen Industrie befragt wurden, hat gezeigt, dass das Thema selbst in Industriekreisen noch nicht vollständig angekommen ist. Insgesamt kannte jeder vierte Befragte den Begriff gar nicht. Die Autoren der Studie gehen zudem davon aus, dass dieser Anteil real noch deutlich höher liegt. Ihrer Einschätzung nach dürfte ein häufiger Grund für die Nicht-Teilnahme an der Studie gewesen sein, dass die angefragten Manager den Themenkomplex Industrie 4.0 schlichtweg nicht kannten.

Welchen Stellenwert hat Industrie 4.0 in Ihrem Unternehmen? Im Maschinen- und Anlagenbau wird Industrie 4.0 am höchsten eingeschätzt. Die Zulieferindustrie beurteilt die Bedeutung eher verhalten.
Foto: MHP

Was den Bekanntheitsgrad von Industrie 4.0 betrifft, kam die Studie zu dem Ergebnis, dass das Thema in mittelgroßen Unternehmen mit 1000 bis 10.000 Mitarbeitern signifikant bekannter ist als in großen beziehungsweise kleinen Unternehmen. Außerdem wissen mehr Verantwortliche in den Führungsetagen etwas mit dem Begriff anzufangen, auf operativer Ebene schwindet dagegen das Wissen um das Digitalisierungsthema. Doch darin sehen die MHP-Experten kein Problem. Vielmehr sei dies eine "begrüßenswerte Tendenz, da der Wandel zu Industrie 4.0 auf jeden Fall eine Topmanagement-Aufgabe ist".

Beschäftigt sich Ihr Unternehmen bereits mit Industrie 4.0? Nicht einmal die Hälfte der Unternehmen arbeitet konkret an Industrie-4.0-Lösungen. Symptomatisch der hohe Anteil derjenigen, die das Thema nicht einordnen können.
Foto: MHP

Mit diesem Wandel ist es jedoch in der Realität noch nicht weit her. Vier von fünf befragten Managern bescheinigen Industrie 4.0 und den damit verbundenen Konzepten zwar eine hohe beziehungsweise sehr hohe Relevanz. In der Praxis spiegelt sich diese Einschätzung indes noch nicht wider. Weniger als die Hälfte der Unternehmen beschäftigt sich derzeit konkret mit der Umsetzung von Industrie 4.0.

Viele Firmen befinden sich noch im Informationsstadium Für die Unternehmen geht es derzeit darum, Wissen und Know-how rund um Industrie 4.0 zu sammeln sowie zu forschen. Handfeste Entwicklung betreiben nur wenige.
Foto: MHP

Als größtes Hemmnis für die Digitalisierung industrieller Produktions- und Fertigungsprozesse identifiziert die Studie die fehlende Transparenz des wirtschaftlichen Nutzens sowie die Notwendigkeit, Prozesse und Arbeitsorganisation anzupassen, wofür es den Firmen offenbar noch oft an einem Plan fehlt. Weitere Probleme sehen die Verantwortlichen in der fehlenden Standardisierung sowie in neuen, unbekannten Geschäftsfeldern, mit denen man sich in der Digitalisierungs-Ära auseinandersetzen müsse.

Die größten Hemmnisse für die Umsetzung von Industrie 4.0 Vielen Unternehmen ist noch nicht klar, was Industrie 4.0 bringt. Auch wie Organisation und Prozesse angepasst werden müssen, bereitet Kopfzerbrechen.
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Es sind noch viele Hausaufgaben zu erledigen, lautet das Fazit der Studienautoren. Dabei ständen auch Verbände, Forschungsinstitute und die Politik in der Pflicht. Es gehe darum, konkrete, branchenspezifische Referenzbeispiele zu bieten, um das Thema Industrie 4.0 für die Unternehmen greifbarer zu machen. Zudem gelte es zu definieren, welche Schritte notwendig sind, um Industrie-4.0-Szenarien umzusetzen. "Der Bedarf an mit Industrie 4.0 verbundenen Konzepten, Paradigmenwechseln, Technologien und Lösungen ist groß, wenngleich sich der Begriff Industrie 4.0 erst noch stärker etablieren und das dahinterliegende Verständnis wachsen muss", heißt es in der Studie.

Sieben-Punkte-Plan für die Industrie 4.0
7-Punkte-Plan für Industrie 4.0
Industrie-4.0-Szenarien lassen sich bereits umsetzen, der Weg dorthin ist aber nicht trivial. Die Berater von Accenture empfehlen bei der Umsetzung von Industrie-4.0-Ideen folgenden Plan
1. Denken in alle Richtungen:
Am Anfang dürfen ruhig wilde Spekulationen stehen. Unternehmen sollten sich fragen, welche Ser- vices rund um welche Produkte ihren Kunden nutzen könnten – und was den Kunden ihrer
3. Design und Entwicklung der Plattform angehen:
Auf der technischen Seite ist zu prüfen, welche Plattform das Unternehmen braucht. Entscheider müssen festlegen, ob und welche Zugriffsmöglichkeiten Externe (Entwickler, Zulieferer, Kunden) haben sollen.
4. Die finanzielle Seite betrachten:
Hier geht es um eine möglichst realistische Betrachtung künftiger neuer Umsätze. Die Kosten des Transformationsprozesses müssen ebenso bedacht werden wie die Gestaltung von Preisen und Margen.
5. Die neuen Angebote verkaufen:
Unternehmen müssen ihre Partner von den Vorteilen der neuen Angebote überzeugen. Konflikte drohen, wenn man Services online anbietet, die zuvor über einen Vertriebspartner erbracht worden sind.
6. Rechts- und Datenschutzfragen beachten:
Wer seine haptischen Produkte um digitale Services erweitert, betritt in Rechtsfragen möglicherweise Neuland. Gesetzliche Vorgaben und Datenschutzbestimmungen sind zu beachten.
7. Den Menschen nicht vergessen:
Wer bisher handfeste Maschinen produziert hat und diese nun um digitale Dienstleistungen erweitert, mutet den Mitarbeitern erhebliche Umstellungen zu.

Geschätsmodelle dank Industrie 4.0

Dabei gibt es durchaus schon etliche Beispiele, in denen Unternehmen Produkte, Services und Industrie-4.0-Techniken kombinieren und so neue Geschäftsmodelle auf den Weg gebracht haben. So stattet Nutzmaschinenhersteller Claas seine landwirtschaftlichen Maschinen wie Mähdrescher und Traktoren mit Sensoren aus, die beispielsweise Position und Füllstände der Erntemaschinen registrieren und automatisch an einen Leitstand übermitteln. Auf diese Weise lässt sich der Einsatz der Maschinen wesentlich effizienter planen. Der schwäbische Werkzeugbauer Komet Group hat ein System entwickelt, das meldet, wann beispielsweise ein Bohrer zu brechen droht. Damit könne man heute viel präziser bestimmen, wann ein Werkzeugwechsel nötig sei, so das Unternehmen.

Um den Bruchzeitpunkt zu berechnen, misst die Komet-Technik die Belastung des Motors. Dabei habe das System allerdings erst lernen müssen, welche Zustände am Werkzeug mit welchen Belastungen des Motors einhergehen. Die dafür eingesetzten Rechner müssen riesige Datenmengen in Echtzeit auswerten. Vorteile des neuen Systems: Der Austausch eines verschlissenen Werkzeugteils lässt sich bis kurz vor den Verschleißzeitpunkt hinausschieben. Darüber hinaus können Drehgeschwindigkeit oder Bohrervortrieb präzise angepasst und die Belastungsgrenze des Werkzeugs besser ausgereizt werden.

General Electric baut zusammen mit dem Beratungsunternehmen Accenture im Rahmen des Joint Ventures Taleris an einem System, das den Zustand von Flugzeugturbinen mit Hilfe zahlreicher Sensoren ständig überwacht und die gesammelten Daten in Echtzeit an eine Zentrale durchgibt. Damit lassen sich der Wartungsbedarf noch während eines Fluges identifizieren und so die Stillstandszeiten der Flugzeuge verringern, sagen die Entwickler. Zudem verkürzen die Triebwerksdaten die Entwicklung neuer Antriebe.

Diese Beispiele belegen, dass sich Industrie 4.0-Szenarien bereits umsetzen lassen, zeigen aber auch, dass der Weg dorthin nicht trivial ist. Vieles dreht sich darum, Geschäftsmodelle und die damit verbundenen Prozesse hinsichtlich neuer Möglichkeiten abzuklopfen sowie dann die notwendigen IT-Hilfsmittel auszuwählen und richtig zum Einsatz zu bringen - beispielsweise Big Data, um große Datenmengen schnell auswerten zu können. Das muss - zumindest derzeit - jedes Unternehmen für sich individuell prüfen und gegebenenfalls auch umsetzen. Die von Experten geforderten Referenzbeispiele können punktuell helfen, lassen sich aber nur in den seltensten Fällen übertragen. Blaupausen, die Unternehmen für ihre Industrie-4.0-Transformation anlegen können, gibt es nicht.

Die Aufgaben, die Firmen im Zuge der Digitalisierung ihrer Fertigung und Produktion zu lösen haben, sind vielfältig, was ein Grund dafür sein mag, dass viele Manager noch zögern. Die verschiedenen Facetten spiegeln sich auch in den zahlreichen Workshops wider, die der Verband Deutscher Maschinen- und Anlagenbau (VDMA) ins Leben gerufen hat. Neben Forschung, Produktionsorganisation und Geschäftsmodellen geht es auch um Standards, Arbeitsmodelle und vor allem Sicherheit.

Insbesondere Security sehen Unternehmen für die Umsetzung von Industrie-4.0-Techniken als essenziell an. "Hoch vernetzte Anlagen müssen natürlich vor Missbrauch und unbefugtem Zugriff von außen geschützt sein, damit das enthaltene Know-how innerhalb des Betriebs bleibt", sagt KPMG-Partner Michael Bremicker. Ein stark vernetztes System mit diversen Schnittstellen und eine komplett integrierte Wertschöpfungskette mit vielen Akteuren böten eben massenhaft Angriffspunkte. Deshalb müsse sich Security-by-Design als grundsätzliches Entwurfsprinzip etablieren.

Industrie 4.0 verändert auch den Arbeitsmarkt

Auch auf dem Arbeitsmarkt dürfte die Digitalisierung deutliche Spuren hinterlassen. Die angestrebte Automatisierung werde mehr und mehr Arbeitsschritte an Maschinen übertragen, prognostiziert Bremicker. Der Mensch werde künftig Aufgaben übernehmen, die in der Entwicklung, der Konzeption, der Konstruktion und der Wartung der Systeme liegen. Diese Aufgaben erforderten von den Beteiligten anderes Wissen als vom Bediener des Systems. Gewerkschafter wie der IG-Metall-Chef Detlef Wetzel warnen vor einer gewaltigen Automatisierungswelle und dem daraus resultierenden massiven Arbeitsplatzverlust, "wenn Maschinen Arbeiter ersetzen". Bei der Umstellung auf Industrie 4.0 müssten Unternehmen ihren Beschäftigten mehr Mitbestimmung einräumen, forderte Wetzel kürzlich. Die Arbeitgeber hätten die Pflicht, sich um die Weiterbildung ihrer Belegschaften zu kümmern, damit diese die Digitalisierung gut meisterten: "Die Menschen müssen die Technik gestalten - nicht umgekehrt."

Auf der anderen Seite sieht auch der Gewerkschafter das Potenzial. Die Digitalisierung der Industrie biete die große Chance, die Vereinbarkeit von Arbeit und Leben besser hinzubekommen. Insgesamt scheinen Jobsorgen im Zusammenhang mit Digitalisierung eher die Ausnahme zu sein. Eine Bitkom-Umfrage kam kürzlich zu dem Ergebnis, dass mehr als acht von zehn Beschäftigten (83 Prozent) ihren eigenen Job nicht durch den verstärkten Einsatz von Computern und Robotern bedroht sehen. Die Digitalisierung verändere unsere Wirtschaft und unsere Arbeitswelt grundlegend, sagte Bitkom-Präsident Kempf. Computer und Internet seien inzwischen wichtiger Bestandteil vieler Berufe. "Die Digitalisierung ermöglicht völlig neue Geschäftsmodelle, und es entsteht eine Vielzahl neuer Jobs."

Auf diesen Effekt hoffen auch die Politiker. Natürlich fielen im Bereich der Industrie durch das "Internet der Dinge" an einigen Stellen Arbeitsplätze weg, stellte jüngst Bundeskanzlerin Angela Merkel fest. "Wenn wir es aber geschickt machen und die Chancen der Digitalisierung nutzen, dann haben wir alle Chancen, zum Schluss mehr Arbeitsplätze zu haben und nicht weniger."

Industrie 4.0 - auf Druck der Kunden

Bis sich Industrie 4.0 als flächendeckender Trend durchgesetzt hat, wird wohl noch einige Zeit vergehen, glaubt KPMG-Partner Bremicker. Die MHP-Studie gelangt zu dem Fazit, dass Industrie 4.0 bei einem beachtlichen Teil der befragten Manager noch gar nicht angekommen ist. Bisher fielen die Investitionen eher niedrig aus. Doch das müsse sich ändern. In den Unternehmen bestehe bereits heute ein großer Bedarf an Industrie-4.0-Konzepten. Fähigkeiten wie eine schnellere Reaktion auf Kundenanforderungen, eine zunehmende Flexibilität sowie die Verkürzung der Time-to-Market würden immer wichtiger. Genau diese Fähigkeiten müssten ausgebaut werden, um Wettbewerbsvorteile zu schaffen.

"Industrie-4.0-Konzepte müssen transparenter und bekannter werden", sagt Oliver Kelkar, verantwortlich für den Bereich Innovations-Management bei MHP und Autor der Studie. Der Nutzen für die Unternehmen müsse greifbar sein. Dabei seien Politik, Verbände, Technologie-Anbieter, Dienstleister und implementierende Industrieunternehmen gleichermaßen gefordert. "Das größte Risiko besteht darin, zu langsam zu agieren und damit wertvolle Wettbewerbsvorteile zu verspielen."

Die Experten sind sich einig, dass das Thema nicht endlos diskutiert werden darf, sondern zügig Fortschritte in der Praxis erzielt werden müssen. Dringend notwendig seien eine Investitionsplanung und eine Industrie-4.0-Strategie, sagt KPMG-Mann Bremicker. Die notwendige Technik sei in vielen Teilen schon vorhanden. Unternehmen unterschätzten jedoch die Komplexität und den Aufwand, alle Systeme miteinander zu vernetzen. Dabei steige die Gefahr, dass Deutschland den Anschluss verliere. Um Industrie 4.0 umzusetzen, bedarf es einer gemeinschaftlichen und konstruktiven Anstrengung aller Akteure - und das muss schnell und zielorientiert geschehen. "Wenn wir Industrie 4.0 nicht umsetzen, dann machen es andere", warnt Bitkom-Präsident Kempf. "Und wenn wir es umsetzen, müssen wir es schnell tun, denn unsere globalen Wettbewerber sind längst aktiv."