Videokonferenzsystem

Test Vidyo Desktop - preiswerte Lösung für virtuelle Meetings

01.07.2010 von Jürgen Hill 
Dass sich mit professionellen Videokonferenzsystemen der Alltag deutlich effizienter gestalten lässt, ist längst anerkannt. Ein Hemmschuh sind allerdings die nicht unerheblichen Investitionen, die dafür erforderlich sind. Vidyo ist eine relativ günstige Lösung. Sie tritt zu einem Praxistest an.

Für die Erkenntnis, dass professionelle Videokonferenzsysteme das Alltagsleben effizienter gestalten, hätte es keiner Wirtschaftskrise und keiner Aschewolke bedurft. Wer sich einen Transatlantik-Flug und den entsprechenden Jetlag sparen kann, um an einer Besprechung teilzunehmen, ist sicher schnell von einer hochwertigen Videokonferenzlösung überzeugt. Gemeint sind hier allerdings professionelle Konferenzlösungen - etwa die HDTV-tauglichen Telepresence-Systeme, die von Polycom und Cisco vorgestellt wurden.

Alternative: Es muss nicht immer TelePresence sein - Vidyo verspricht 720p Bilder auf dem Desktop.

Weder die erforderlichen technischen Voraussetzungen noch die nötigen sechsstelligen Investitionskosten sorgen jedoch allerorten für ungebremste Begeisterung. Selbst bei der Home-Variante von TelePresence, die Cisco im Januar auf seiner hauseigenen Anwenderkonferenz präsentierte, geht Marthin De Beer, Senior Vice President Emerging Technologies, von einem Bandbreitenbedarf um die 1,5 Mbit/s in beide Richtungen aus.

Das Unternehmen Vidyo verspricht hingegen, eine HD-fähige TelePresence-Lösung namens "Vidyo Desktop" für den Desktop zu einem Preis von rund 7000 Euro anzubieten. Die Lösung soll auch ohne Breitbandverbindung via UMTS funktionieren und somit von unterwegs aus ebenfalls nutzbar sein. Grund genug, sich die Lösung einmal intensiver anzusehen. Nachfolgend ein ausführlicher Praxistest.

Der Unterschied zu Skype, Teamviewer und Co.

Der Systempreis von 7000 Euro ist aber nur die halbe Miete, wie sich in der Praxis zeigte. Bei der Desktop-Variante muss sich der Anwender nämlich Videokamera und eventuell Mikrofon und Lautsprecher selbst besorgen. Wir setzten hierzu die HD-fähige (720p) Webcam Pro 9000 von Logitech ein, deren Listenpreis bei rund 100 Euro liegt. Angesichts der Tatsache, dass sich der User die Kamera selbst besorgen muss, stellte sich schnell die Frage, warum er nicht gleich auf Skype, Teamviewer oder eine der vielen videofähigen Messaging-Lösungen setzen sollte. Wer sich dann im Detail mit diesen Angeboten auseinandersetzt, stellt fest, dass es sich hier häufig nicht um Videokonferenzssysteme im eigentlich Sinne handelt, sondern eher um Videotelefonie, da oft nur Punkt-zu-Punkt-Verbindungen möglich sind, also nur zwei Gesprächspartner direkt miteinander kommunizieren können.

Echte Konferenzsysteme sollten dagegen als Multipoint-Anlagen ausgelegt sein und mehrere Partner an unterschiedlichen Standorten miteinander verbinden. Ein weiteres Manko findet sich häufig versteckt in der Feature-Liste. Die Systeme beherrschen kein HD-Video, sondern oft nur eine Mini-Auflösung von beispielsweise 228 x 171 Pixeln. Trotz dieser Einschränkungen ist dann der Bandbreitenbedarf mit 2 Mbit/s teilweise sehr hoch für das Gebotene. Deshalb sind viele Lösungen nur auf den ersten Blick günstig, weil für den Privatkunden kostenlos, während der Business-Anwender eine monatliche Gebühr bezahlt.

Vidyo Desktop Splitscreen
Ein HD-taugliches Videosystem für den Desktop für 7000 Euro mit 25 Lizenzen? Wir untersuchten das Potenzial des Vidyo-Lösung.
Vidyo Desktop Portalanmeldung
Den virtuellen Konferenzraum betritt der Teilnehmer über ein Web-Portal.
Vidyo Desktop
Obwohl Vidyo normale Internet-Verbindungen nutzt, kann sich die Bildqualität der Gesprächspartner sehen lassen.
Vidyo Desktop Splitscreen
Sehr angenehm ist die Möglichkeit, ein Kontrollbild der eigenen Person anzeigen zu können.
Vidyo Desktop Dreier Konferenz
Per Mausklick lassen sich einfach auch Konferenzen mit mehreren Teilnehmern initiieren.
Vidyo Desktop Document-Sharing
Statt Stunden in Zug oder Flieger zu verbringen, können Dokumente einfach gemeinsam virtuell besprochen werden.
Vidyo Desktop Document-Sharing II
An der Auflösung gibt es beim Document-Sharing nichts zu kritisieren.
Vidyo Desktop Document-Sharing III
Die gemeinsame Arbeit an Dokumenten beschränkt sich derzeit auf die Besprechung des Contents - ein Online-Editieren ist noch nicht möglich.
Vidyo Desktop Statusmeldung
In Sachen Bandbreite zeigt sich Vidyo genügsam - etwas über 700 kbit/s reichen aus.
Vidyo Desktop Konfiguration
Einfache Video-Konfiguration: Der Anwender muss lediglich die gewünschte Videoqualität festlegen.
Vidyo Desktop Ein. und Ausgabegeräte
Freie Wahl hat der Anwender bei der Audio-Ausgabe. Jedes von Windows anzeigte Gerät kann genutzt werden.
Vidyo Desktop Netzkonfiguration
Nit Punkten wie Netzadressen oder Ports muss sich der Anwender in der Regel nicht herumärgern.

Bei Vidyo hingegen erhält man eine Lizenz für 25 User, die keiner zeitlichen Beschränkung unterliegt. Zudem handelt es sich um ein multipoint-fähiges System, das bis zu fünf unterschiedliche Konferenzlokationen unterstützt. Außerdem beinhaltet der Systempreis von 7000 Euro einen dedizierten Video-Router plus -Portal, das im Hintergrund die Schaltung einer Videokonferenz übernimmt. Zudem ist man bei Vidyo stolz auf den niedrigen Bandbreitenbedarf für eine Videokonferenz. Bereits 700 kbit/s sollen genügen.

SVC-Codec statt H.264/AVC

Möglich wurde dies, weil der Hersteller nicht auf den bisher bei HD-Videosystemen üblichen H.264/AVC-Codec setzte, sondern auf die Weiterentwicklung SVC, die im Juli 2007 standardisiert wurde. Das Scalable Video Coding (SVC) verfolgt eine Idee, die ebenso simpel wie tricky ist:

Konfiguration: Mit wenigen Mausklicks kann der User das System an seine Bedürfnisse anpassen.

Warum zerlegt man einen Video-Bitstream nicht in mehrere Subset-Bitstreams, die dann beim Empfänger wieder zusammengesetzt werden? Erfolgt dies intelligent, können später Subsets verloren gehen (Packet loss), ohne dass dies sichtbare negative Auswirkungen auf das Bild hat. Oder man nutzt SVC, um die Videoübertragung an die Transferraten im Netz anzupassen, indem Substreams nicht mit übertragen werden. Dabei sieht SVC drei beeinflussbare Skalierungsparameter vor:

Bandbreite: Ein wenig mehr als 700 Kbit/s Transferrate benötigt eine Videokonferenz.

Vidyo benutzt dabei eigenen Angaben zufolge eine Kombination aus Temporal und Spatial Scalability. Auf diese Weise benötige man nicht nur wenig Bandbreite, sondern sei auch in der Lage, HD-Videokonferenzen über das öffentliche Internet zu führen.

Zudem verkrafte das System einen prozentual höheren Paketverlust bei der Datenübertragung als ein klassisches System.

Die Installation - die Bilder lernen laufen

Doch genug der Technik. Die Installation auf der Client-Seite war ein Kinderspiel. So mussten lediglich die Treiber für die Videokamera eingespielt und dann die eigentliche Vidyo-Desktop-Software installiert werden. Zudem ist sicherzustellen, dass der Port 80 oder 443 verfügbar ist und die Firewall oder der Router STUN (ursprünglich nach RFC 3489: Simple traversal of UDP through NAT, heute nach RFC 5389: Session Traversal Utilities for NAT) erlaubt. Das sind im Grunde die ganzen Vorarbeiten, die ein Anwender zu leisten hat, um an einer Videokonferenz teilzunehmen. Den Konferenzraum selbst betritt der man per Internet-Browser über ein Webportal.

Von der Technik im Hintergrund bekommt der Anwender auf diese Weise nichts mit - er steuert sein Konferenzsystem lediglich über das Webportal, das VidyoPortal beziehungsweise lokal über das VidyoDesktop. Das VidyoPortal vereint als Appliance-Router und Portalsoftware in einem. Ergänzend könnten in Außenstellen oder Niederlassungen zusätzliche VidyoRouter installiert werden, um ein dezentrales System aufzubauen. Die Verbindung zu klassischen Videosystemen, beispielsweise von Polycom oder Tandberg, schafft bei Bedarf das VidyoGateway.

Anmeldung am Videoportal

Nach der Anmeldung am Portal - die entsprechende Einladung zur Konferenzteilnahme vorausgesetzt - befindet sich der Anwender direkt im Konferenzraum und sollte sein Gegenüber hören und sehen. Die Bedienung ist dabei denkbar einfach. Über dem Videobild findet der Benutzer neun Symbole, um das gezeigte Bild zu wählen, die Lautstärke einzustellen, gemeinsam Dokumente zu besprechen oder Feineinstellungen am System vorzunehmen.

Bei den Einstellungen können etwa die verwendeten Audio- und Videogeräte konfiguriert werden, falls mehrere im System vorhanden sind. Ebenso können hier die Videoauflösung gewählt und das System an die Netzumgebung (Proxy etc.) angepasst werden.

Zugang: Den virtuellen Konferenzraum betritt der User über ein Webportal.

Die ersten Minuten mit dem Vidyo-Konferenzsystem überraschten dann: Kein Vergleich zum Pixelbrei oder zu den Ruckelbildern, die etwa Skype bei Videoübertragungen via Internet liefert. Zudem waren Bewegungen des Gegenübers flüssig ohne Ruckeln zu erkennen, und an der Sprachqualität gab es nichts zu bemängeln. Ein Blick in das Statusmenü zeigte, dass wir ein wenig mehr als 700 Kbit/s Bandbreite benötigten. Auffallend war dagegen die hohe CPU-Auslastung auf unserem Windows-7-Notebook (Dualcore mit 2,4 GHz): Sie lag bei 70 Prozent und teilweise sogar darüber.

Vidyo in der Praxis - die Bilder laufen

Im weiteren Verlauf zeigte sich dann aber doch, dass die Videokonferenz über das öffentliche Internet stattfand. Auf Geschwindigkeitsschwankungen reagierte Vidyo, indem die Bildauflösung kurzfristig zurückgefahren wurde. Auch größere Paketverluste waren an kurzen, ruckartigen Bewegungen zu erkennen.

Angenehm: Per Kontrollbild kann der User sein eigenes Erscheinungsbild kontrollieren.

Aber es gab, im Gegensatz zu anderen Systemen, nie einen Totalausfall des Bildes, sondern immer nur eine Degradierung der Qualität. Bei der Arbeit mit Vidyo gefiel auch die einfache Steuerung über die Symbole am oberen Bildrand. Damit ließen sich etwa zusätzliche Ansichten per Mausklick aktivieren. Positiv fiel dem Autor dabei besonders auf, dass er ein Kontrollbild von sich selbst einblenden konnte - ein Feature, das er bei den teilweise sehr viel teureren High-End-TelePresence-Systeme oft schmerzhaft vermisst hatte.

Ebenso einfach ließen sich weitere Konferenzteilnehmer hinzuschalten, wobei verschiedene Darstellungsvarianten zur Verfügung stehen. Rein persönlich gesehen schnitt dabei die Variante besonders gut ab, bei der der aktuelle Sprecher groß zu sehen war und die anderen Teilnehmer als Kontrollbild. Wie in einem echten Konferenzraum konnten auch hier anhand der Gesichtsmimik der Anwesenden die Reaktionen auf das gerade Gesprochene eingeschätzt werden.

Document-Sharing statt Collaboration

Bei einer Dreierkonferenz mit einem Teilnehmer in Italien konnte der SVC-Codec dann sein Leistungspotenzial unter Beweis stellen: Der italienische Partner war per Mobilfunk mit dem Internet verbunden - also in Sachen Latency, Jitter oder Bandbreite alles andere als ideal für eine Videokonferenz. Dementsprechend hatte die Bildqualität wenig mit einem HD-TelePresence gemeinsam - aber die Verbindung funktionierte und brach nicht zusammen. Allerdings war die Auflösung relativ niedrig, und Bewegungen stockten teilweise stark.

Gemeinsam Dokumente besprechen: Filesharing ist möglich, aber nicht das gemeinsame Bearbeiten der Dokumente.

Nach diesem Ausflug in die Welt der Extreme stand wieder der Büroalltag im Vordergrund: die virtuelle Zusammenarbeit an einem Dokument. Um es gleich vorweg zu sagen: Hier muss der User mit einer Einschränkung leben, denn eine Collaboration ist derzeit noch nicht möglich, lediglich ein Document-Sharing.

Dafür funktioniert dies wiederum gewohnt einfach: Der User klickt einen der bereits erwähnten Buttons an, und das System fragt ihn, welche Datei er teilen will. Nach kurzer Zeit sind die Inhalte dann beim Konferenzpartner auf dem Schirm zu sehen. Wie im Beispiel der Konferenzschaltung mit mehreren Teilnehmern kann der Benutzer auch hier zwischen verschiedenen Bildschirmdarstellungsformen wählen. An der Übermittlungsqualität gab es hier ebenfalls nichts zu kritisieren, selbst komplexer Grafiken ließen sich interaktiv besprechen. Gab es Störungen auf den Internetverbindungen, reagierte der SVC-Codec nach dem bekannten Muster - er passte schnell dynamisch die Auflösung an die Übertragungsqualität an.

Fazit

Ein abschließendes Fazit, das gerecht sein soll, fällt schwer, zumal der Verfasser durch die ausgiebige Nutzung der High-End-TelePresence-Systeme sicherlich verwöhnt ist. Negativ formuliert könnte das Resümee so lauten: Die Videoqualität der klassischen TelePresence-Systeme erreicht Vidyo nicht. Dem steht jedoch die Erfahrung gegenüber, dass mit Vidyo eine Videokonferenz in HD-Qualität am Arbeitsplatz bezahlbar wird und keine teuren Hochgeschwindigkeitsverbindungen im Backbone benötigt werden. Zumal die Bildqualität immer noch deutlich besser ist als bei anderen preislich vergleichbaren Systemen, ganz zu schweigen von dem Vorteil, dass normale Internetverbindungen genutzt werden.

Wer also in Sachen High-End-Bildqualität Abstriche in Kauf nimmt, findet in Vidyo eine interessante Lösung. So lassen sich etwa Mitarbeiter in Außenstellen oder im Home Office nun zu überschaubaren Kosten in den audiovisuellen Kommunikationsfluss eines Unternehmens einbinden. Oder das System wird in Zeiten zunehmenden Arbeitens in geografisch verteilten Projektteams dazu genutzt, Meetings virtuell ohne Zeitverlust und Reisekosten abzuhalten. Ganz zu schweigen von aschegeschädigten Business-Reisenden, die so via Notebook unterwegs an Konferenzen teilnehmen könnten. Oder anders formuliert: TelePresence auf dem Desktop ist Vidyo noch nicht, aber mit der gelieferten Bildqualität machen virtuelle Meetings durchaus Spaß und werden nicht als ermüdend empfunden.

Zudem gefällt an dem Vidyo-Ansatz der modulare Aufbau. Ein Unternehmen kann mit einer kleinen Lösung einsteigen und das System bei guter Nutzung sukzessive mit Komponenten wie VidyoGateway oder VidyoRouter ausbauen. Durch die technische Implementierung mit Webportal und geringen Hardwareanforderungen auf der Client-Seite (Videokamera, Software) wäre auch eine Implementierung von Videoconferencing as a Service durch einen Provider denkbar. (mje)

Dieser Artikel basiert auf einem Beitrag unserer Schwesterpublikation Computerwoche.

Vidyo Desktop

Gerät:

Vidyo Desktop

Hersteller:

Vidyo

Systemkomponenten

Desktop-Software für Windows und Mac, Appliance mit Videoportal und Video-Router

optionale Komponenten

Videokamera und evtl. Mikrofon sind extra zu erwerben

Erweiterungen

Ausbau des Systems mit VidyoRoom, VidyoRouter, VidyoGateway möglich

Preis

(getestete Variante) 25-User-Lizenz mit 5 Multipoint-Ports rund 7000 Euro, pro Videokamera etwa 100 Euro