Forschungsdaten in Echtzeit im Internet

Standleitung zum Meeresgrund

26.10.2007 von WIWO WIWO
Forscher aus aller Welt erhalten seit anderthalb Jahren Daten aus neunzig Meter Tiefe - ob Temperaturen, Salzgehalte oder Wasserdruck, im Saanich Inlet vor Vancouver Island sendet das weltweit modernste Unterwasserobservatorium in Echtzeit Daten ins Internet. Gestern ging vor der kanadischen Küste ein neuer "Messkrake" ans Netz.

Das Ding erinnert an einen Raumgleiter von Playmobil oder an die Maske Darth Vaders aus Star Wars. Der Kunststoffkasten in der Lagerhalle von "Ocean Works International", einer Entwicklungsfirma für Unterwassergerätschaften in Vancouver, ist allerdings mehr als einen Meter hoch und etwa zwei Meter lang. Im Inneren sitzen Steckplatinen mit bunten Bausteinen und Schlingen rot und schwarz ummantelter Drähte - das Herzstück modernster Meeresforschung: ein sogenanntes Node, ein Strom- und Datenverteiler für "Venus", das "Victorian Experimental Network Under the Sea", das am weitesten entwickelte verkabelte Unterwasserobservatorium der Welt.

Seit anderthalb Jahren versorgt ein drei Kilometer langes Geflecht aus Instrumenten, Stromstation und Kabeln der Universität Victoria Forscher überall auf der Welt mit Daten aus neunzig Meter Tiefe am Meeresgrund im Saanich Inlet vor Vancouver Island. Ein neuer "Messkrake" entsteht gerade in der Straße von Georgia, fast vierzig Kilometer vor der Küste. Am Donnerstag ging die Erweiterung ans Netz.

Sekündlich messen die Venus-Sensoren im Saanich Inlet Temperaturen, Salzgehalte und Wasserdruck und senden die Werte und Bilder via Kabel in Echtzeit ins Internet. Wissenschaftler, Lehrer und die Öffentlichkeit - jeder, der will, hat freien Zugriff. "Freie Wissenschaft heißt für uns vor allem Datenfreiheit", sagt Projektleiterin Verena Tunnicliffe. "Wir wollen unser Netzwerk teilen. Sonst macht es keinen Sinn." Wer sich registriert, kann Daten herunterladen oder in gebuchten Zeitfenstern die Instrumente vom Heimrechner aus steuern. Die Schaltzentrale ist ein Schiffscontainer am Strand hinter dem Universitätsgelände. "Hier wandeln die Rechner Messdaten und Befehle so um, dass entweder die Instrumente unter Wasser oder die Programme sie lesen und verarbeiten können", erklärt Tunnicliffe.

40 Kilometer Kabel

An ihrem Laptop überwacht die Meeresbiologin ihr Netzwerk. "Es wächst", sagt sie liebevoll. Die vierzig Kilometer Kabel für den neuen Venus-Strang in der Straße von Georgia liegen bereits seit April. Die Computer an diesem Landanschluss am Rand von Vancouvers Flughafeninsel Sea Island wurden erst kürzlich konfiguriert. Jetzt sollen Stromplattform und Messgerät folgen.

Das Achterdeck der "Vector" aus der Flotte der kanadischen Küstenwache erscheint viel zu klein. Container mit Ausrüstung stehen gedrängt, daneben Plattformen mit Dutzenden Messsensoren. Noch aber fehlt das gigantische Node. Das Unternehmen bekommt buchstäblich Gegenwind. Immer wieder machen kräftige Böen das Beladen unmöglich. Keine Chance, den Zweieinhalb-Tonnen-Koloss sicher an Bord zu bringen.

Es droht das Aus, zumindest für dieses Jahr. "Zwei Tage waren vorgesehen", sagt Pressesprecher Nikolai Korniyuk. Ein Tag, um Stromversorger und Instrumente in dreihundert Meter Tiefe in der Straße von Georgia abzusetzen, der zweite Tag, um die Kabel anzuschließen. "Der nächste Schiffsmieter wartet schon, und bis Mitte 2008 ist die ,Vector´ möglicherweise ausgebucht." Der gebürtige Russe bleibt trotzdem gelassen. Die Hoffnung stirbt zuletzt. Verena Tunnicliffe telefoniert, organisiert und gewinnt Zeit, immerhin bis zum Wochenende.

Messnetze örtlich begrenzt

Die Idee für das Unterwasserobservatorium hatten sie und ihre Kollegen schon vor vierzehn Jahren. "Damals habe ich mit Geowissenschaftlern zusammengearbeitet. Wir erforschten Unterwasservulkane in der Tiefsee. Leider bekamen wir nie Gesteinsproben von frischen Ausbrüchen. Die gab es immer dann, wenn wir gerade nicht draußen waren." 1998 dann die entscheidende Idee.

Die US-Marine öffnete ihre stationären Systeme von Wasserschallempfängern, mit denen sie während des Kalten Krieges nach russischen U-Booten in der Tiefe gelauscht hatte. "Das Team hatte sich gerade fünf Tage eingeloggt, schon hörte es einen Ausbruch und nahm sofort Proben. Ich dachte: Hey, es funktioniert. Und ich überlegte, wie ich so etwas auch für andere, lautlose Prozesse hinbekommen könnte."

Meeresobservatorien wie Venus machen es möglich, Meeresforschung neu zu organisieren. Zwar sind die Messnetze örtlich begrenzt. Doch sie bestechen durch enorme Datendichte rund um die Uhr. Zeigen sich die Wunschbedingungen, können die Forscher sofort reagieren und beispielsweise Messabstände oder Kamerawinkel ändern. Nicht nur die Wissenschaft, auch die Meerestechnik betritt mit Venus Neuland. "Die Uni hatte genaue Vorstellungen. Die haben wir versucht bestmöglich umzusetzen", sagt Adrian Woodroffe, Chefingenieur bei "Ocean Works International". Das zwanzigköpfige Technikerteam hat unter anderem die Nodes entwickelt, die die Venus-Sensoren mit Elektrizität speisen.

Große Arbeitsspeicher erforderlich

Korrosionsbeständiger Stahl schützt die Elektronik vor dem Salzwasser. Zwanzig Jahre etwa wird das System halten. In dieser Zeit ändern sich die Anforderungen an wissenschaftliche Instrumente wahrscheinlich gewaltig. Vor allem das Datenvolumen wird steigen. "Wir haben versucht, möglichst vorausschauend zu arbeiten", sagt Woodroffe. Schon heute bietet jede Schnittstelle zwei Anschlüsse für das sogenannte Ethernet.

Verena Tunnicliffe steuert das Geschehen. Nebenbei koordiniert sie Forschungsanfragen und wirbt Sponsoren. Umgerechnet 8,3 Millionen Euro kosten Infrastruktur und Installation, über eine Million Euro der jährliche Betrieb. Ihr Engagement indes bleibt unbezahlt. Wie überall zahlt die Universität nur für ihre Forschung, alles andere ist Kür. "Venus ist kein Job. Es ist eine Lebenseinstellung", sagt die Forscherin.

Noch läuft nicht alles perfekt. Die Videoclips der Kameras gelangen nicht immer aktuell ins Netz, auch nicht die Daten der Schallsensoren. "Beides braucht enorm große Arbeitsspeicher", so Tunnicliffe. Ihr Team arbeitet an einem Programm, das die Sensordaten rascher in netztaugliche Pakete aus Nullen und Einsen konvertiert.

Die Leitung zum Meeresgrund

Besonders wichtig ist das beim neuen Venus-Strang in der Straße von Georgia, wo die Effekte des Schifflärms auf die Meeresbewohner erforscht werden. "Die Straße von Georgia ist einer der meistbefahrenen Seewege Kanadas. Tausende Schiffe und Fähren jährlich passieren, und alle fahren direkt über unsere Sensoren", sagt sie. Die Venus-Forscher sind von Anfang an zeitnah dabei. Mit den alten Technologien und Verfahren warten Wissenschaftler meist mehrere Monate, manchmal Jahre auf die begehrten Messwerte.

Am Freitag endlich, nach einem Hafenwechsel ans andere Ende der Stadt, nimmt die "Vector" dann Kurs auf die Straße von Georgia. Dort angekommen, hievt ein Windenkran den Node-Koloss über die Reling. Er klatscht aufs Wasser und versinkt in der Gischt. Nach dreißig Minuten erreicht er in etwa dreihundert Meter Tiefe den Boden. Ein ferngesteuerter Unterwasserroboter hebt ihn auf den bereits installierten Sockel. Die Robotergreifer stecken die Anschlüsse zusammen. Bei Sturm über Wasser und schlechter Sicht unter Wasser ein abenteuerliches Unterfangen.

Die Robotergreifer in der Straße von Georgia haben die richtigen Stecker in die richtigen Dosen gedrückt. Ein Regler schwächelt unter dem ersten Strompeak, als Techniker das neue System ans Landstromnetz koppeln. Das ist schnell gelöst. Die Leitung zum Meeresgrund steht.

Ozeane weithin unerforscht

Während es auf dem Festland keine unentdeckten Regionen mehr gibt, gelten die Ozeane als weithin unerforscht, obwohl sie siebzig Prozent der Erdoberfläche bedecken. Bisher versuchen Wissenschaftler, die Rätsel der Meere vor allem mit zeitlich befristeten Messsonden, U-Booten oder Tauchrobotern zu ergründen. Nachteil: Sie erhalten immer nur Daten aus einem kurzen Zeitraum, oder es dauert Monate und Jahre, bis die gespeicherten Daten ins Labor geholt werden können.

Messnetze wie das kanadische Meeresobservatorium "Venus" (Victorian Experimental Network Under the Sea) liefern dagegen einen ständigen Strom an Daten, sobald sie mit dem Festland verbunden sind, live und von überall abrufbar. "Venus" ist eines von derzeit zwei stationären Unterwasserobservatorien weltweit. Das amerikanische Gegenstück "Mars" (Monterey Accelerated Research System) liefert Daten vom Meeresgrund vor der Küste Kaliforniens.

Noch im Aufbau befindet sich das kanadisch-amerikanische "Neptune"-Projekt (North East Pacific Time Series Undersea Networked Experiments) vor Britisch Kolumbien und Seattle. Die europäische Meeresforschung plant derzeit ihr eigenes ständiges Messnetz: "Esonet" - ein Observatorium mit gigantischen Ausmaßen.

Zehn regionale Netzstränge aus insgesamt 5 000 Kilometer Glasfaserkabel sollen ab 2013 Daten aus dem westlichen Atlantik, dem Arktischen Ozean, dem Mittelmeer und dem Schwarzen Meer ins Netz der Wissenschaftler speisen. Geschätzte Kosten: 130 bis 220 Millionen Euro. (mje)