Sprachqualität überzeugt

11.05.2001
Die modular aufgebaute Voice-over-IP-Anlage von Avaya integriert die Sprach- und Datenkommunikation in mittleren und größeren Unternehmen. Das System bietet eine hohe Qualität der Sprachübertragung - selbst unter schlechten Netzbedingungen.

Von: Inti Florez-Brandel, Carsten Rossenhövel, C. Lange

Der Netzwerk- und Kommunikations-Spezialist Avaya hat mit der "IP 600" ein System entwickelt, das auf der Telefonieplattform von AT&T basiert und diese um Voice-over-IP-Funktionen (VoIP) erweitert. Avaya ging im vergangenen Jahr als Spin-off aus Lucent hervor, die wiederum ursprünglich ein Teil von AT&T waren.

Für den Test der Anlage baute der technische Support des Herstellers im NetworkWorld Partner Lab EANTC Gateway und Gatekeeper sowie IP-Telefongeräte und PC-gestützte Softwaretelefone auf.

Avaya produziert alle Serverkomponenten des IP-600-Systems selbst. Das Gateway, der Gatekeeper und die ISDN-Schnittstellen (S0 und S2M) werden nicht separat, sondern nur als Erweiterungsoption für die eigene Telefonieplattform angeboten. Die VoIP-Lösung ist modular aufgebaut und stellt zehn Slots für Steckkarten zur Verfügung. Das gesamte System findet in einem 19-Zoll-Mini-Rack Platz. Optionale Schnittstellenkarten bietet Avaya für ATM, E1 und künftig auch Wireless LAN an. Das Herzstück der IP 600 bildet ein so genannter "IP Media Processor", der mit Hilfe von 64 Digital Signaling Processors (DSP) die Audiocodecs verarbeitet. In der Basisversion unterstützt die Anlage bis zu 200 VoIP-Endgeräte. Sie lässt sich mit weiteren Systemen vernetzen und ist dadurch gut skalierbar. Der Anschluss an bereits vorhandene Telefonanlagen oder das öffentliche Netz erfolgt über bis zu acht Gateways pro Installation.

Die von Avaya für den Test bereitgestellte IP-600 setzte sich aus den folgenden Komponenten zusammen:

- CLAN Gatekeeper

- Medpro Gatekeeper "IP Media Processor"

- Windows-NT-Rechner

- S0-Schnittstellen (S2M-Karte)

- 2 VoIP-Telefone "IP 4624"

- 2 IP-Softphones

Software-Clients

Die "Softphone"-Clients von Avaya laufen auf herkömmlichen PCs mit LAN- oder Modem-Anbindung und Vollduplex-Soundkarte. Eine Liste empfohlener Soundkarten ist vom Hersteller erhältlich. Die Client-Software benötigt Windows 98, ME, NT oder 2000 als Betriebssystem. Windows 95 wird nicht unterstützt. Eine Portierung auf weitere Plattformen ist geplant.

Avaya hat die Softphones so gestaltet, dass sie den gleichen Funktionsumfang bieten, wie die "echten" IP-Telefone. Die Bedienung erfolgt über eine grafische Benutzerschnittstelle, die so genannte "Call Bar". Die Tasten des IP-Telefons bildet die Software in einem separaten Fenster ab. Die Darstellung wirkt bislang noch recht klobig. Laut Avaya ist eine freie Layoutgestaltung in Vorbereitung. Das Softphone lässt sich über beide Fenster parallel steuern.

In den Tests lief die Software stabil. Auch als mehrere Windows-Programme gleichzeitig geöffnet waren, ließ sich das virtuelle Telefon ohne Probleme bedienen. Die übersichtliche Darstellung sowie die Möglichkeit, qualitätsrelevante Parameter einfach zu verändern, fielen ebenfalls positiv auf. Der Anwender kann zum Beispiel über ein Menü die unterschiedlichen Vernetzungsarten wie LAN, ISDN oder Modem auswählen und justiert so auf einfache Weise die Übertragungseigenschaften (Codec). So genannte "Audio Clarity"-Nummern erlauben es, die Software an Soundkarten verschiedener Hersteller anzupassen. Avaya bietet keine eigene Kopfhörer/Mikrofon-Lösung zur Entkopplung von der PC-internen Soundkarte an, wie beispielsweise die hierfür üblichen USB-Boxen. Diesen Bereich decken Dritthersteller ab.

IP-Telefone

Avaya hat verschiedene IP-Telefone im Programm, von denen wir mit dem "IP 4624" eines der größeren testeten. Das Gerät bietet einen mit herkömmlichen Bürotelefonen vergleichbaren Leistungsumfang. Es ist mit 24 individuell belegbaren Softkeys ausgestattet, unterstützt Lautsprechen und hat eine Headset-Buchse.

Um Kabelsalat zu vermeiden, erfolgt der LAN-Anschluss am Netzteil, wodurch das Netzwerkkabel unter dem Tisch bleibt. Ein eingebauter 2-Port-Ethernet-Hub spart Verkabelungskosten, da sich das Telefon über den Ethernet-Port des PCs einschleifen lässt. Hier hätten wir uns allerdings einen Switch gewünscht, der dedizierte Verbindungen schaltet. Mit einem Hub kann bei hoher Netzlast die Qualität der Gesprächsübertragung leiden. Firmware-Upgrades laden sich die VoIP-Telefone falls erforderlich beim Neustart automatisch per Trivial File Transfer Protocol (TFTP) vom Server. Die IP-Adressen legt der Administrator mithilfe des Dynamic Host Configuration Protocols (DHCP) oder manuell fest.

Die Geräte bieten eine hohe Klangqualität mit einem warmen Ton und rauschen nur minimal. Auch die Handhabung konnte überzeugen. Ankommende Rufe signalisierten die Telefone sofort, abgehende wurden schnell vermittelt.

Das IP 4624 arbeitet im so genannten Overlap-Sending-Verfahren, das wie bei analogen Telefonen eine Wahl ohne Bestätigungstaste erlaubt. Die Überprüfung der vom Hersteller angegebenen Funktionen ergab keine Überraschungen. Sie lassen sich alle ohne Einschränkungen nutzen. Faxnachrichten über IP-Verbindungen werden derzeit mit einer herstellerspezifischen Messaging-Software versendet und empfangen, die auf den Softphone-PCs läuft. Für den Anschluss analoger Faxgeräte empfiehlt Avaya, herkömmliche analoge PBX-Ports zu nutzen, die sich in die IP 600 einbauen lassen. Dazu müssen Telefonkabel zum Faxgerät verlegt werden. Eine Anbindung über Voice-over-IP-fähige TAE-Dosen, welche die Daten nach T.38 lokal wandeln und über das LAN zum Gatekeeper senden, ist derzeit mit der Lösung von Avaya nicht möglich, aber geplant.

Serverkomponenten

Den Gatekeeper und das Gateway hat Avaya zwar getrennt auf verschiedenen Einschüben des PBX-Systems implementiert. Die beiden sind jedoch voneinander abhängig und lassen sich deshalb nicht einzeln betreiben. Als Hardwarebasis für die IP 600 dient ein Windows-NT-Rechner, demnächst soll auch Linux unterstützt werden.

Die Signalisierung übernimmt wie bei VoIP-Anlagen üblich der Gatekeeper per H.323-Protokoll. Die Hardwareendgeräte können nach erfolgreichem Rufaufbau direkt miteinander kommunizieren und entlasten damit die IP 600. Der Gatekeeper wickelt lediglich Statustöne wie Frei- oder Besetztzeichen ab. Neben diesen Basisfunktionen stellt er Konferenzschaltungen, Office-Integration und Messaging-Server bereit. Call-Center-Lösungen sind optional erhältlich.

Die Bedienung der IP 600 erfolgt alternativ über ein Web-Interface, proprietäre Konfigurationssoftware oder Telnet. Alle drei Methoden sprechen die Komponenten auf dieselbe Weise an. Die von Avaya gelieferte Software "Definity Site Administration" erlaubt die Konfiguration über eine grafische Schnittstelle oder via Kommandozeile.

Der Hersteller bietet für die VoIP-Anlage eine sehr umfangreiche Dokumentation, die auf den ersten Blick unübersichtlich erschien. Dies resultiert jedoch aus der großen Anzahl von Leistungsmerkmalen, die das System unterstützt und wird deshalb positiv gewertet. Zudem enthält der Kaufpreis ein Seminar für Administratoren.

In den von uns durchgeführten Tests erwies sich das auf Windows NT implementierte System als stabil. Die mögliche Parallelschaltung von bis zu fünf Gatekeepern erhöht jedoch bislang noch nicht die Ausfallsicherheit, sondern vergrößert nur die Zahl der maximal anschließbaren Endgeräte.

Sprachqualität

Wie bei den vorangegangenen Tests setzten wir unsere Analysatoren Tiqus/SQA und Storm (siehe Ticker) auf die Voice-over-IP-Anlage an, um die Qualität der Sprachübertragung der Gateways sowie Teleworking zu testen.

Zur Beurteilung der empfundenen Qualität prüften wir mit Tiqus/SQA die Verbindung zwischen den zwei Gateways. Das Test-Tool spielte dem ersten Gateway eine ISDN-Sprachprobe vor. Dieses wandelte sie in IP-Pakete um und transportierte sie über das VoIP-Netz an das zweite Gateway, das die Pakete wieder in ISDN-Sprachsignale übersetzte. Für die Messung verwendeten wir die Codecs G.711 (PCM) und G.723-5.3K (MPE/ACELP). Das Testprogramm spielte die vom zweiten Gateway ausgegebenen Sprachproben ab und analysierte sie. Die Bewertung erfolgte anhand der Messskala "Mean Opinion Score" (MOS), welche die subjektiv empfundene Qualität abbildet.

Bei der unkomprimierten Übertragung mit G.711 erzielte das IP-600-Gateway ausgezeichnete Ergebnisse: Mit einem MOS-Wert von 4,10 kommt es dem ISDN-Referenzwert sehr nahe. Bei dem mit Komprimierung arbeitenden G.723-5.3 Codec übertrifft das MOS-Ergebnis von 3,2 die ITU-Vorgabe von 3.

Im Teleworking-Szenario kommunizieren VoIP-Telefone im Home Office oder in einer Filiale mit dem Gateway und Gatekeeper in der Unternehmenszentrale. Die Übertragung der Sprachdaten erfolgt über eine IP-Verbindung, die gleichzeitig für die Netzwerkanbindung genutzt wird. Dies spart Verbindungskosten und verhindert, dass zwei Infrastrukturen aufgebaut werden müssen. Aufgrund ihres verbindungslosen Charakters können TCP/IP-Netzwerke die Qualität der übertragenen Dienste nur unzureichend garantieren. Unter ungünstigen Bedingungen kommt es zu hohen Paketverlusten und Latenzzeiten beziehungsweise Jitter, das heißt zu einer starken Varianz in der Latenz. Hinzu kommt, dass sich unkomprimierte Codecs wie der G.711 nicht für schmalbandige (Modem-) Verbindungen eignen.

Um eine derartige Teleworking-Umgebung gezielt nachzustellen, nutzen wir den WAN-Emulator "Storm" der Firma Shunra. Das Gerät beschneidet die Bandbreite individuell in beiden Richtungen. Außerdem kann es Pakete verwerfen (Packet Loss) und verzögern (Latency und Jitter).

Für den Test simulierten wir mit den beiden Endgeräten des IP-600-Systems - dem IP 4624 und dem Softphone - Verbindungen zwischen Home Office und einem fiktiven Firmennetz. Die Qualität einer Sprachprobe beurteilten wir unter verschiedenen Verkehrsbedingungen. Für die Simulation mit DSL-Bandbreiten kam der G.711-Standard-Codec zum Einsatz, für niedrigere Bandbreiten der G.729 mit einer Bandbreite von 8 kBit/s. Die Tests bestätigten die bereits zuvor ermittelten hohen MOS-Werte des G.711-Codecs. Selbst bei schlechten Netzbedingungen bot das VoIP-System eine gute Verständlichkeit. Ein derart ausgewogenes Verhalten konnten wir bisher in keinem Test feststellen. Mit dem Codec G.729 (8 kBit/s) erzielte die IP 600 ebenfalls eine hohe Sprachqualität.

Für die guten Ergebnisse zeichnet unter anderem das Buffer-Management verantwortlich. Anstatt Pakete zu verwerfen, sammelt die Anlage sie in einem großzügig dimensionierten Puffer. Testweise beschnitten wir die Bandbreite bei ISDN-Teleworking mit dem G.711-Codec auf 64 kBit/s. G.711 benötigt mindestens etwa 70 kBit/s. Das Resultat war eine schnell ansteigende Latenz. Gesprochene Worte wurden teilweise bis zu einer Minute verzögert, da der Puffer die Sprachdaten so lange zurückhielt, bis alle Pakete eingetroffen waren. Der Einsatz von G.711 empfiehlt sich deshalb nur bei höheren Bandbreiten, wie sie beispielsweise DSL bietet.

Fazit

Mit dem Voice-over-IP-System IP 600 hat Avaya ein heißes Eisen im Feuer, um bei der anstehenden Migration auf konvergente Netze Marktanteile zu erobern. Die skalierbare Anlage bietet eine gute Sprachqualität auch bei komprimierten Übertragungen und unter schlechten Netzbedingungen. Wermutstropfen ist die fehlende Windows-95-Unterstützung. Eine flexiblere grafische Gestaltung des Software-Clients, redundante Gatekeeper und standardkonformen Fax-over-IP-Support will Avaya bis Ende dieses Jahres nachliefern.

Zur Person

Carsten Rossenhövel

ist im Vorstand des European Advanced Network Testcenter (EANTC) und leitet die Abteilung Research & Development. Das NetworkWorld PartnerLab EANTC führt unabhängige Tests von Netz-Equipment durch.

Inti Florez-Brandel

ist seit Anfang 2000 bei der EANTC AG beschäftigt. Sein Spezialgebiet ist die Durchführung von Performance- und Dienstgütemessungen für verschiedene Switching-Technologien.