Deutschland hinkt beim Thema Weblog hinterher

Schichtwechsel im Weblog

16.11.2007 von WIWO WIWO
Neue Weblogs zeugen von einem langsamen Umbruch in der deutschen Szene: Unternehmen erkennen die Möglichkeiten dieser Kommunikationsform und versuchen sich zu öffnen. Der Autobauer Daimler ist nur ein Bespiel. Eine Studie zeigt allerdings auch, dass Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern beim Thema Weblog noch deutlich hinterherhinkt.

Die Erklärung klingt einfach. Es ist ein Froschblick auf die Wirtschaft: "Wir beginnen Sonntagabends um 22.25 Uhr und die letzte Schicht endet am Freitagmorgen um 6.05 Uhr", berichtet Mario Jung. "Nach der Arbeit bin ich in aller Regel gegen 6.30 Uhr daheim, dusche noch, lese Zeitung und je nach Laune bin ich dann zwischen 7.00 Uhr und 8.00 Uhr im Bett. Aufgestanden wird dann so um 14.00 Uhr."

Jung arbeitet in der Nachtschicht des Mercedes-Werks Rastatt. Und er berichtet seit kurzem von dieser Arbeit. Ganz offiziell, im Auftrag seines Arbeitgebers - im jüngst gestarteten Firmen-Weblog von Daimler. Mit ordentlich Resonanz: "Ihr Tagesablauf beeindruckt mich schon sehr", kommentiert ein Leser, ein weiterer diskutiert mit Jung die Auswirkungen der Nachtschicht auf das Privatleben. In den ersten drei Wochen zählte das Daimler-Blog mehr als 60 000 Seitenabrufe - eine beachtliche Zahl. "Die Anlaufkurve war sehr steil, obwohl wir keine Werbetrommel gerührt haben", sagt Uwe Knaus aus dem Daimler-Bereich Web Communications.

Blog.daimler.de zeugt von einem langsamen Umbruch in der deutschen Weblog-Szene: Unternehmen erkennen die Möglichkeiten dieser Kommunikationsform und versuchen sich zu öffnen. So macht seit kurzem auch der Reinigungsmittelhersteller Frosch seine Mitarbeiter zu Autoren unter Froschblog.de.

Wordpress ist Marktführer

Gleichzeitig scheint bei den privat betriebenen Blogs ein gewisser Generationenwechsel stattzufinden. "Einige Blogger, die schon seit Jahren dabei sind, verlieren die Lust oder Zeit, andere neue kommen dazu und werden populär", sagt Jens Schröder. Der freie Journalist nahm gemeinsam mit dem Web-Entwickler Dirk Olbertz die erste verlässliche Zählung der aktiven deutschen Weblogs vor, den Blogcensus. Dessen erste Ergebnisse liegen dem Handelsblatt exklusiv vorab vor.

133 300 aktive deutsche Weblogs gibt es laut Blogcensus und täglich kommt eine dreistellige Zahl hinzu. Wobei aktiv bedeutet: Sie wurden zwischen dem 1. September und dem 31. Oktober gepflegt. Das Besondere an diesem Ergebnis: Die Zahl beruht nicht auf einer Befragung sondern auf einer Zählung. Und deren Ergebnis wurde bereinigt um Weblogs, die allein der billigen Platzierung von Online-Werbung dienen.

Genaue Daten liefern die beiden auch über die führenden Blog-Dienstleister. Marktführer mit 18,5 Prozent ist Wordpress, eine Software, die von den Autoren auf dem eigenen Rechner installiert werden muss. Rang zwei belegt My Blog mit 12 Prozent, eine dicke Überraschung ist das drittplatzierte Spin mit 9,8 Prozent. Es folgt die Google-Tochter Blogger (9,3) und die deutsche Blog.de (8,0). Nur auf dem sechsten Platz rangiert das soziale Netzwerk Myspace mit 7,3 Prozent. In einem zweiten Schritt wollen Olbertz und Schröder demnächst demografische Daten der deutschen Blogger veröffentlichen.

Deutschland und Polen Schlusslichter

Bisher gingen die auf Befragung von Internet-Nutzern beruhenden Studien von weit mehr Bloggern in Deutschland aus: 340 000 regelmäßige Autoren machte die Studie "Stern Markenprofile" jüngst aus, das Umfrageinstitut Polis/Usuma errechnete gar über vier Millionen. Doch Blogcensus-Macher Schröder hält dagegen: "Dank unserer selbstentwickelten Suchmechanismen sind wir fest davon überzeugt, dass uns keine gigantischen Mengen an Blogs durch die Lappen gehen."

Ist das Ergebnis also eine Enttäuschung für die deutsche Blog-Szene? "Jede Zahl über 200 000 habe ich immer für unseriös gehalten", sagt Wolfgang Lünenbürger-Reidenbach. Er beschäftigt sich als Head of Social Media Europe für die PR-Beratung Edelman mit Weblogs. Deutschland hinke im internationalen Vergleich hinterher: "Alle Studien zeigen, dass in Europa Deutschland und Polen die Schlusslichter sind." Warum? "Eine Frage der Kultur: In Frankreich spielt Wikipedia keine Rolle, bei uns eine gewichtige. Wir sind vielleicht keine Schnatterkultur."

Auch Lünenbürger sieht ein wachsendes Interesse der Wirtschaft an Weblogs. Schließlich sind deren Zugriffszahlen höher als die mancher Konzern-Homepage: Viele Blogs kommen auf über 100 000 Seitenabrufe im Monat, das Bildblog, das die Meldungen der "Bild" aufs Korn nimmt, zählt mehr als drei Millionen Abrufe im Monat.

Potenzial noch nicht erschöpft

Was aber will Daimler mit seinem Blog erreichen? "Wir stellen fest, dass der Andrang, zum Beispiel bei Besuchertagen, in unseren Werken sehr groß ist und sich die Menschen für das Leben hinter dem Werkstor interessieren. Sie kommen zu Tausenden zu unseren Hauptversammlungen und strömen über unsere Produktstände auf den Messen. Sie interessieren sich für Daimler. Hier bekommt Daimler ein Gesicht", sagt Daimler-Kommunikator Knaus. Edelman-Blog-Experte Lünenbürger-Reidenbach erwartet, dass noch viele Unternehmens-Blogs folgen werden: "Ich denke nicht, dass hier das Potenzial schon erschöpft ist."

Gleichzeitig legen auch die privaten Blogger mit neuen Ideen nach. Der freie IT-Projektmanager Robert Basic - dessen Blog gerade zum meistverlinkten in Deutschland aufgestiegen ist, plant eine Verbraucherattacke auf die Konsumgüterindustrie: Künftig sollen unzufriedene Kunden sich auf einem Blog versammeln und dort ihre Geschichten öffentlich machen. Geplanter Name: Das-war-nicht.net. Ein ähnliches Projekt aus den USA macht Hoffnung auf Erfolg: The Consumerist, erreicht mehr als 250 000 Leser täglich. (mje)