P2P - Revolution von unten

22.02.2001 von Reiner Gärtner
P2P (Peer-to-Peer) ist mehr als der Austausch von MP3-Dateien mit Napster. Die neue Technologie wirbelt alte Machtverhältnisse durcheinander - die Benutzer gewinnen die Oberhand.

Bis es dazu kommt, müssen allerdings noch einige technische, legale und kulturelle Hürden genommen werden. Wir haben uns auf der ersten weltweiten O'Reilly P2P-Konferenz in San Francisco umgehört. Die dortige Stimmung ist selten auf Konferenzen anzutreffen.

Während auf dem Podium erwachsene Menschen über ein "Neues Bewusstsein mit P2P" philosophieren, gruppieren sich picklige Jungs in hellen Khakihosen mit riesigen Hosentaschen kichernd um ein Notebook. Offensichtlich diskutieren sie über einen Programmcode. Nur ein paar Plätze weiter sitzen alte Männer in dunkelblauen Anzügen und mit verspannter Backenmuskulatur, die möglichst unauffällig einen Blick auf den Bildschirm erhaschen wollen.

Entsteht hier gerade ein neues Napster, das neue "Big Thing"? Boygroups, "Kiddie-Hacker" sind im Silicon Valley ganz groß in Mode, schließlich gelten sie als Vorreiter einer neuen Revolution. Spätestens seit den gerichtlichen Streitigkeiten von Napster mit der Musikindustrie und der damit verbundenen weltweiten Berichterstattung sind dezentrale Netzwerke in aller Munde.

Ausgerechnet Napster ist jedoch keine reine P2P-Anwendung: Zwar befinden sich die MP3-Dateien auf den Rechnern der Benutzer, doch ist das Verzeichnis der aktiven Benutzer und deren verfügbarer MP3-Dateien auf dem zentralen Napster-Server abgelegt. Den mittlerweile etwa 40 Millionen Nutzern ist das völlig egal. Sie haben sich die Software installiert, weil sie Musik saugen wollen. Nicht Napster ist sexy, sondern die Möglichkeit, kostenlos Musik herunterzuladen, wann und von wo man will.

Was kommt nach Napster?

"Der Erfolg der P2P-Anwendungen wie Napster oder Gnutella kommt nicht von ungefähr", meint Clay Shirky von The Accelerator Group, "denn zum ersten Mal sind die Benutzer gleichzeitig Inhaltsanbieter und Konsumenten." Shirky glaubt, dass vor allem die Bereitstellung von alternativen 'Name spaces' außerhalb des DNS den künftigen Erfolg von P2P ausmacht: "Wer bisher einen Server ins Web stellen wollte, musste sich um einige technische Dinge kümmern und viel Papierkram ausfüllen. Mit P2P ist das nicht mehr notwendig; man braucht nur noch den Client und kann innerhalb von zehn Minuten Musik und andere Dateien anbieten oder herunterladen."

Was auch immer mit Napster passieren wird, schon jetzt gibt es verschiedene Alternativen und weitere Anwendungsmöglichkeiten von P2P. Erste Ausweichmöglichkeit ist derzeit Gnutella mit einer völlig dezentralen Architektur, deren Kapazität schon vor dem Napster-Urteil völlig in den Knie ging. "Gnutella wurde für kleine Gruppen konzipiert, mit dem starken Zuspruch hatte niemand gerechnet", erklärt Gene Kan, Entwickler von Gnutella.

Wenn man den jungen, leicht asiatisch aussehenden Kan so mit seinem ultra unmodernen blauen Pullunder und hellblauen Hemd darunter sieht, dann fragt man sich schon, warum ihm ständig so viele "Groupies" hinterherlaufen. Wahrscheinlich weil er einfach verdammt gut programmieren kann.

Gnutella und andere Alternativen

Im Gegensatz zu Napster müssen Surfer bei Gnutella zunächst aktive IP-Adressen von anderen Gnutella-Benutzern finden. Das war in der Vergangenheit recht mühsam, weil erst IRC-Chats und Newsgroups durchsucht werden mussten, bevor man sich mit einem "Ping" im Gnutella-Netzwerk anmelden und auf das "Pong" eines anderen Rechners warten konnte. Technologien wie Clip2 Reflector und bessere Clients wie Limewire, BearShare und Toadnode schaffen Linderung. Doch Gnutella hat noch immer den Ruf, unübersichtlich und vor allem langsam zu sein.

Andere Alternativen wie Aimster, iMesh, MojoNation oder FreeNet arbeiten mit proprietären Formaten. Und im Gegensatz zu Gnutella legen diese Anbieter ihren Quellcode nicht offen.

Jetzt Standards oder besser warten?

Die vielen Alternativen werfen natürlich die Frage nach künftigen Standards auf. Anstatt sich schon jetzt festzulegen, glauben fast alle P2P-Experten, dass man zunächst abwarten sollte, bis sich etwas Konkreteres von selbst heraus kristallisiert. Bill Joy, Chief Scientist von Sun, stellte zwar mit JXTA eine neue Initiative vor, die grundlegende P2P-Definitionen bringen soll. Von einem festen Standard will aber auch er noch nichts wissen: "Lassen wir es mal für eine Weile laufen und dann werden wir schon sehen." Auch für Clay Shirky ist ein P2P-Standard noch kein Thema: "Wichtiger ist, dass die verschiedenen proprietären Formate miteinander kommunizieren lernen."

So trivial ist eine solche Kommunikation jedoch nicht, da die technischen Konzepte und Philosophien der einzelnen Systemen zum Teil recht unterschiedlich sind. Während Napster und Gnutella Objekte nach deren URL lokalisieren, benötigen FreeNet und MojoNation den URN (Uniform Ressource Name), der wiederum einen Verzeichnisservice und ein "Name-Space"-Management voraussetzt. Dienste wie Napster oder MojoNation benötigen IP-Adressen, während FreeNet ohne URL oder URN auskommt und ein Höchstmaß an Privatsphäre bietet.

Unterschiede gibt es auch bei der Übertragung von Dateien: Über Napster, Gnutella und FreeNet lassen sich nur vollständige Dateien übertragen. Oft passiert es, dass der Downloadpartner während der Übertragung offline geht und man nach einer anderen Quelle suchen muss. iMesh, MojoNation und Swarmcast brechen dagegen die Datei in Blöcke und fordern diese gleich von mehreren Usern gleichzeitig an - das erhöht zwar die Geschwindigkeit und Stabilität, aber auch die Netzwerkbelastung.

P2P-Suchmaschinen

Die dezentrale P2P-Struktur macht die Suche nach Dateien nicht gerade einfacher: Vor allem zwei Unternehmen basteln zur Zeit an den Suchmaschinen der neuen Generation und wollen die Googles und AltaVistas das Fürchten lehren: Infrasearch und OpenCola. Während sich Infrasearch, das neue Unternehmen von Gnutella-Entwickler Gene Kan, noch sehr bedeckt hält, steht OpenCola aus Toronto kurz vor dem Launch einer Betaversion.

"Wie findet man Informationen, von denen man noch nichts weiß?", fragt OpenCola-Gründer Cory Doctorow. Mit der Suchmaschine sollen Benutzer nicht nur Informationen, sondern auch andere Surfer finden, die einen ähnlichen Geschmack und ein hohes Ansehen haben und wissen, wonach man suchen sollte. Künftig sind laut Doctorow nur eine Internetverbindung, der OpenCola-Client sowie ein paar Suchbegriffe oder Dokumente nötig, um relevante Ergebnisse zu finden.

Um die Suche zu verfeinern, lassen sich Dokumente und Verzeichnisse auf der eigenen Festplatte in so genannte Smartfolder schieben. Diese erhalten dann eine eigene URL nach dem Muster root.opencola.com/Reiner/smartfolder/. Der OpenCola-Robot durchforstet wie herkömmliche Suchmaschinen zunächst das Web. Anschließend streift OpenCola durch die Verzeichnisse der OpenCola-Benutzer, die nach ähnlichen Dokumenten oder Dateien suchen. Der Robot überträgt nun diese Dateien in den Smartfolder, in dem sich die gefundenen Resultate bewerten und für weitere Durchgänge verfeinern lassen. Damit lernt das System, welche Dateien besser oder weniger geeignet sind.

Das hört sich in der Theorie einleuchtend an, ob es aber in der Praxis auch funktioniert, bleibt abzuwarten. Der Erfolg hängt vor allem davon ab, ob die Benutzer diszipliniert genug sind, um Dateien zu bewerten und auf der Festplatte zu lassen. Zudem benötigt ein solches System eine quantitative und qualitative "kritische Masse". Wie viele Benutzer man für ein solches Konzept braucht, kann auch Doctorow nicht sagen: "Müssen wir mal abwarten."

Andere P2P-Spielplätze

Momentan ist P2P auf den Dateiaustausch fokussiert, obwohl dieser Bereich nach Angaben von Larry Cheng von Battery Ventures nur 10 Prozent des Marktes ausmacht. Laut Cheng ist vor allem "Distributed Computing" (höhere Rechenleistung durch Verteilung auf verschiedene Rechner) wie bei dem SETI-Projekt eine zukunftsweisende Technologie. Auch Unternehmen wie Applied Meta, Popular Power, Entropia und United Devices zielen in diese Richtung. Wie berichtet, hat auch Intel eine eigene Peer-to-Peer-Arbeitsgruppe eingerichtet, die sich mit diesem Thema beschäftigt.

Ein weiterer wichtiger Bereich für P2P insbesondere in Unternehmen ist Collaborative Computing (Austausch von Informationen zwischen Computern via XML). Anbieter sind unter anderem Groove Networks Consilient, Autonomy oder World Street. Auch Unternehmen wie Xdegrees und Mindshare stellen die notwendige Infrastruktur für P2P-Anwendungen bereit.

Bremsen: Angst und Kontrolle

P2P steckt noch in den Kinderschuhen. Niemand weiß so richtig, ob P2P tatsächlich alles revolutionieren oder bald wieder, wie einst nach dem Hype um die Push-Technologie geschehen, in der Versenkung verschwinden wird. Die technische Herausforderung eines Two-way-Webs, wie es Rohit Kare von Knownow definiert, ist enorm. Doch auch mit der richtigen Infrastruktur hat P2P nur eine Chance, wenn sich das Bewusstsein der Benutzer auf die neue Situation einstellt:

Vielen Benutzern von Napster ist nicht klar, dass sie Dateien von den Rechnern anderer Napster-Benutzer laden und andere Nutzer Dateien von ihren Rechner zur Verfügung stellen. Hier werden Fragen über Sicherheit und Vertrauen akut. Visionäre wie Barry Perry von der Electronic Frontier Foundation hoffen, dass P2P-Anwendungen den Surfern mehr Macht geben und das Gefühl entsteht "Wir sitzen alle in einem Boot". "Das Netz muss sich selbst regulieren, es gibt gewisse moralische Verpflichtungen für alle", meint Perry.

Ähnlich sieht es Lawrence Lessing, Jura-Professor an der Stanford-Universität. "Ich dachte, es wäre inzwischen bekannt, dass sich das Internet selbst entwickeln soll, bevor wir es regulieren. Aber im Fall Napster hat es sich wieder mal gezeigt, dass wir nichts verstanden haben und künftige Innovationen auf dem Spiel stehen." Insbesondere die Rechtsanwälte der Film- und Musikindustrie - kurz: Hollywood - kommen bei Lessing sehr schlecht weg.

Es gehe Hollywood nicht um Künstler, sondern um Ausübung von Kontrolle: "Hollywood wird jede Technologie mit allen legalen Mitteln bekämpfen, wenn die neuen Technologien die derzeitigen Vertriebskanäle und Machtpositionen erschüttern." Lessing meint, dass es schlichtweg nur um Geld gehe und die Copyright-Diskussionen fadenscheinig seien.

"70 Millionen machen einen Höllenlärm"

Mit seiner Bemerkung über die künftige Strategie von Napster bringt Stanford-Jurist Lessing die allgemeine Stimmung des Publikums auf der P2P-Konferenz zum Ausdruck: "Es reicht - nicht mit uns!" Lessing: "Napster muss nun also die Architektur so umbauen, dass die Musikindustrie genügend Kontrolle bekommt, um einzelne Songs abzuschießen und zu sperren. 70 Millionen werden einen Höllenlärm machen und sich sagen: Hey, das könnt ihr mit uns nicht machen. Es ist endlich Zeit, zu kämpfen."

Welche Chancen die Benutzer gegen die einflussreiche und gut geölte Hollywood-Maschine haben, bleibt indes unklar. Unternehmen wie Gnutella sollten sich auf jeden Fall ein vernünftiges Geschäftsmodell überlegen, zumal Großunternehmen wie IBM an Technologien zum Schutz digitaler Rechte arbeiten. Big Blue hat im Januar eine neue Version seines Electronic Media Management Systems (EMMS) vorgestellt, einer Software zum Schutz gegen Raubkopien digitaler Medien. Das EMMS soll künftig zum Beispiel den kostenlosen Tausch von MP3-Files bei Napster & Co. unterbinden und das Urheberrecht von Musikern und Plattenfirmen schützen.

Sollte die Musik- und Filmindustrie die Oberhand behalten, bleibt wenig Platz und Durchsetzungskraft für neue Konzepte. Die Zukunft wird es zeigen. Für Barry Perry von der EFF ist indes die Situation glasklar: "Wenn du mein Pferd klaust, kann ich nicht mehr reiten. Wenn du mein Lied stiehlst, dann kann ich aber immer noch singen. MP3 ist nicht illegal, das Copyright muss weg, wir müssen uns was Besseres überlegen." (jma)