Neuer Rückenwind

16.10.1998
Der Markt der Netzwerkbetriebssysteme ist wieder in Bewegung geraten: Novell kommt mit einer neuen Netware-Version, IBM möchte alles mit Hosts konsolidieren und Microsoft verkauft weiter fleißig NT-Server. Für den Anwender zählt letztlich nur eines: Wie performant, mit welcher Verfügbarkeit und zu welchen Betriebs- und Personalkosten seine geschäftskritischen Anwendungen laufen.

Von: Dr. Franz-Joachim Kauffels

Still ist es um die früheren Helden der Netzwerkbetriebssysteme geworden. Der klare Gewinner vergangener Tage, die Firma Novell, erholt sich von den Schwierigkeiten, in die sie geraten war. Das für Novells Erfolg notwendige Client/Server-Modell wurde durch die Ideen der Arbeitsverteilung mit Java-Applets anscheinend auf den Kopf gestellt. Aber auch ohne Java und WWW sieht es düster aus für die einst gepriesene Client/Server-Welt: Die Konkurrenzprodukte IBM LAN-Server und Banyan Vines sind praktisch verschwunden, viele Kunden sind nach einigen Jahren C/S-Verarbeitung unzufrieden und IBM ruft neuerdings zur Rückbesinnung auf den Host auf. Wenn es überhaupt einen Zuwachs gibt, streicht ihn vermutlich Bill Gates mit dem NT-Server ein. Die Ankündigung Novells, eine runderneuerte Netware-Version auf den Markt zu bringen, ist vor allem wegen der immensen installierten Basis interessant.

Was die Unix-Welt angeht, so ist der heutige schlechte Stand dieses an sich hervorragenden Betriebssystems im Markt dem Unvermögen der Unix-Welt zur Einheit und der Entstehung zu vieler Splittergruppen zuzuschreiben.

Für die Besitzer von Client/Server-Lösungen bleibt die Frage, ob man nicht endlich ein richtiges, vollständiges Betriebssystem anschafft oder weiter mit Netzwerkbetriebssystemen hantiert. Letztlich hängt dies von den Anwendungen und Zielsetzungen ab.

Browser prägen Erscheinungsbild

In der Vergangenheit haben sich viele Leute immer an Feature-Vergleichen aufgehalten. Dies führt aber zu nichts, weil einzelne Eigenschaften leicht nachzurüsten sind. Viel wichtiger ist die Frage, inwieweit ein Produkt die Anforderungen an ein verteiltes Betriebssystem (VBS) realisieren kann.

Betriebssysteme gibt es seit über 40 Jahren. Wenn es durchschlagende Fortschritte in der Weiterentwicklung gab, hingen sie immer mit der Benutzerschnittstelle zusammen: von der Stapelverarbeitung zur Transaktionsverarbeitung, von Programmen auf dem Host zu eigenen Programmen unter DOS, von DOS zu Windows und von dort schließlich zu den Browsern, die heute das äußere Erscheinungsbild der Betriebssysteme prägen.

Bei der Trennung zwischen Clients und Servern, die jeweils mit unterschiedlichen Betriebssystemen ausgerüstet werden, entsteht ein Stückwerk, bei dem wichtige Funktionsbereiche unter den Tisch fallen. Beispiele sind:

die einheitliche Benutzerverwaltung, die einheitliche Systemverwaltung hinsichtlich der Anwendungen, die Durchsetzung eines ganzheitlichen Sicherheitskonzeptes, eine einheitliche Namensverwaltung, die Beobachtung und Steuerung der Anwendungsqualität, die Steuerung der Systemressource Netz, die nichts weiter als eine zusätzliche I/O-Möglichkeit ist.

Das gesamte Problemfeld "Netzwerk- und System-Management" faßt diese verlorengegangenen Funktionen zusammen und versucht, sie zu realisieren. Das Chaos in diesem Bereich resultiert daraus, daß Netzwerkbetriebssysteme unvollständig sind. In kleinen Umgebungen fällt das Fehlen wichtiger Funktionen vielleicht nicht auf. In größeren Umgebungen läuft man mit den Netzbetriebssystemen jedoch schnell gegen eine Wand. Virtuelle Speicherverwaltung über alle Server hinweg oder dynamische Prozessorverwaltung finden definitiv nicht statt. Die Folge sind hohe Nebenkosten für übergreifendes System-Management und der Ruf nach Konsolidierung.

Intranets decken Defizite auf

Die Web-Welt macht diese Situation von sich aus nicht besser. Der Verdienst der Intranets ist es aber, daß Mißstände schneller offenkundig werden. Denn damit kommen Dinge wie ein globales Verzeichnis oder der Wunsch nach Verfügbarkeit an die Oberfläche.

Eine Perspektive ist die, daß bei den Betriebssystemen in den nächsten Jahren nicht viel passiert außer signifikante Verfeinerungen etwa bei der Unterstützung von Parallelverarbeitung, Dateisystemen mit expliziten Schutzmechanismen und Echtzeitverarbeitung. Insgesamt steigert man aber die Leistung, in dem man immer breitere Basisformate (32, 64, 128 Bit) unterstützt. Die Mikrokerntechnik, die bereits fast zwei Jahrzehnte erfolgreich in der Forschung eingesetzt wird, könnte endlich den Endanwender erreichen und eine sauberere Struktur für die Etablierung neuer und die Revision alter Dienste anbieten. Einen Hoffnungsschimmer dieser Art kann man bei NT sehen. Eine andere Perspektive für die 90er ist die Weiterentwicklung des automatischen Managements, das in den vergangenen 20 Jahren vernachlässigt wurde.

Die Arbeit an verteilten Betriebssystemen brachte in den 80ern signifikante Verbesserungen, was die Struktur, die Protokolle und die hierarchische Schichtung für die Funktion vernetzter Knoten als System bei großen Betriebssystemen anbetrifft.

Ein wünschenswertes Betriebssystem wird viele der Verfeinerungen beinhalten, die derzeit entwickelt werden. Insbesondere wird die Systemverwaltung mit weniger manueller Intervention als heute arbeiten, obwohl (und weil) die Anforderungen immer weiter steigen. Ein Betriebssystem muß sich mit Betriebssystem- und Netzwerk-Fehlern befassen und Verbindungen mit Tausenden von Systemen über nationale Grenzen hinweg mit unterschiedlichen Protokollen aufnehmen. Das Management dieser Systeme muß sich mit Problemidentifikation und Wiederaufsetzen nach Fehlern durch Netzwerkisolation und Sicherheitsproblemen befassen. Sicherheitsfunktionen werden in großen vernetzten Systemen zwingend. Netzwerkmanagement ist letztlich nur ein Teilaspekt des gesamten Systemmanagements.

Eine wichtige Triebfeder für die Weiterentwicklung stellen nach wie vor die Betriebssysteme der Unix-Familie dar sowie die Aktivitäten zur Vereinheitlichung und Standardisierung.

Die Anforderungen an ein Betriebssystem in einer vernetzten oder verteilten Umgebung sind wie folgt:

Veredelung und Bereitstellung von Betriebsmitteln, Veredelung und Bereitstellung von Funktionen, Benutzerverwaltung und -kontrolle, Modularität, Portierbarkeit, Skalierbarkeit, Multiuserfähigkeit, Multitaskingfähigkeit, Multithreadingfähigkeit, Integration lokaler, netzbezogener und systemweiter Funktionen.

Die Grundidee bei verteilten Betriebssystemen ist die Zusammenfassung von Rechnern und Nachrichtentransportsystemen unter einer einheitlichen Sicht. Ein VBS stellt sich dem Anwender wie ein gewöhnliches Betriebssystem dar, ist jedoch ein Programm, das die Betriebsmittel mehrerer (eventuell heterogener) unabhängiger Systeme kontrolliert und verwaltet und den Benutzern eine einheitliche Schnittstelle bereitstellt.

Hieraus ergeben sich zwei Hauptmerkmale:

Komponentenvielfalt durch heterogene Rechenanlagen und gegebenenfalls unterschiedliche Nachrichtennetze in einer Umgebung, Transparenz durch geeignete Abstraktion der Systemkomponenten.

Die Transparenz ist ein Mittel zur Abgrenzung gegenüber Netzbetriebssystemen. Bei einem VBS braucht der Anwender nicht zu wissen, an welchem Rechner er (logisch) arbeitet, wo seine Programme ausgeführt werden und wo sich die Daten befinden.

Die Komponentenvielfalt hat folgende Wirkungen:

Funktionsvielfalt durch unterschiedliche Rechensysteme, mehrere Prozessoren, qualitative und quantitative Parallelverarbeitung, räumliche Verteiltheit ohne enge Grenzen.

Und dies sind die Hintergründe, vor denen man alle anscheinend neuen Entwicklungen messen muß. Ein marodes System wird nur marginal besser, wenn es auf einmal ein paar Web-Standards oder einen Verzeichnisdienst unterstützt. Für den Anwender zählt letztlich nur eines: Wie performant, mit welcher Verfügbarkeit und zu welchen Betriebs- und Personalkosten seine geschäftskritischen Anwendungen laufen.

Für 1998 sind drei Systeme zu nennen, die einen wesentlichen Einfluß auf das Marktgeschehen haben: Microsoft Windows NT 5.0, Novell Netware 5, Unix am Beispiel HP-UX 11 und Sunsoft Solaris 2.6.

Die Position von Microsoft ist praktisch unerschütterlich. Eine Vereinheitlichung der Ressourcenverwaltung kann man nur mit einem guten Verzeichnissystem erreichen. NT 5.0 positioniert hier den Active Directory Service (ADS) als skalierbare, replizierbare und fehlertolerante Komponente. Als Adreß-Auflösungsmechanismus wird Domain Name System (DNS) benutzt. Daraus ergeben sich Anpassungsprobleme mit bestehenden Installationen, denn im Rahmen einer sauber konstruierten ADS-Umgebung müßten bestehende DNS-Konfigurationen eventuell geändert werden, was problematisch sein kann. ADS verläßt sich auf Baumstrukturierung und setzt zur Koordination verschiedener Domänen die Kerberos-Technik ein, womit sich eine hohe Sicherheit erzielen läßt. Allerdings konvergiert das System an dieser Stelle Richtung Unix, was ihm nur guttun kann. In den bislang vorliegenden Versionen werden als Clients nur NT-4- und NT-5-Workstations unterstützt. Dazu kommen Windows 95 und 98, eine Unterstützung von Clients mit weniger als 32 Bits bleibt fraglich.

Hinsichtlich des Netzwerk- und Systemmanagements werden die Entwicklungen um SMS (System Management Server) weitergetrieben. Hier liegen Fluch und Segen nah beieinander, weil der Grad der Unterstützung von Anwendungen sich danach richtet, ob diese von Microsoft oder befreundeten Systemhäusern kommen. Wenn die Umgebung stimmt, sind viele Benutzer mit den Möglichkeiten ganz zufrieden.

Momentan fällt auf, daß die Eckdaten für NT 5.0 auf den x86er- (32 Bit) oder Alpha-64-Bit-Plattformen weit auseinandergehen. So werden unter Alpha 32 GByte RAM unterstützt, bei x86 aber nur 4, was keinen Fortschritt gegenüber NT 4.0 darstellt. Unter Alpha können 30 GByte für Anwendungen genutzt werden, das übertrifft viele bekannte Unix-Versionen. Mit "Wolfpack" geht Microsoft das Problem der Fehlertoleranz an: Ein Server kann die Arbeit eines ausgefallenen Kollegen übernehmen. Der Weg zur freien Verteilung von Tasks über verschiedene Rechner hinweg ist nicht mehr weit. Allerdings wird es bei kritischen Anwendungen besser sein, zwei Alpha-Systeme (davon eines redundant) zu betreiben, als mehrere x86er. Innerhalb von zwei Jahren will Microsoft eine NT-basierte Cluster-Lösung entwickeln, die 16 Prozessoren umfassen soll.

Zusammenfassend hat Windows NT 5.0 den Vorzug, einen weiten Bereich von Anwendungen zu unterstützen und von Dritten unterstützt zu werden. Bleibt man in diesem Bereich, sind die Managementfunktionen ausgeprägt. Das Naming-System wird von Spezialisten angegriffen, aber es ist zu früh, darüber endgültig zu urteilen. Hinsichtlich der Total Cost of Ownership kommen mit Windows NT 5.0 endlich die ersten Möglichkeiten zur Fernverwaltung von 32-Bit-PCs. Nach neuesten Analysen sind sie durchaus dazu geeignet, der Java/NC-Bewegung einiges Wasser abzugraben.

Erweiterungen bei Netware 5.0

Netware 5.0 von Novell ist der designierte Nachfolger für die meisten 4.X-Anwender, die mit den Web-basierten Zusatzfunktionen von Intranetware wenig anfangen konnten. Es bringt viele Erweiterungen, die längst fällig waren, und einige Neuerungen. So wird neben dem IPX/SPX auch TCP/IP als Kernprotokoll unterstützt. Das Netware-Core-Protokoll NCP ist jetzt ebenfalls über IP realisiert. Novell hat sich auf seine alten Fähigkeiten besonnen und "I2O" implementiert, welches die I/O-Prozesse von den übrigen System- und Anwendungsprozessen trennt. Da I/O für einen Netzwerkserver neben dem schnellen Zugriff auf Platten das wichtigste ist, kann man davon ausgehen, daß alleine die Unterstützung von "I2O" bis zu 25 Prozent mehr Leistung bringen kann.

Der Hersteller hat außerdem den Wunsch nach einem virtuellen Speicher aufgegriffen. Plötzliche Zusammenbrüche werden somit weniger auftreten. Das Verzeichnis-System NDS (Novell Directory System) bietet eine flexible, hierarchische Namensstrukturierung. Es hat Industriepreise bekommen und könnte sich auf dem Markt als Industriestandard etablieren. Es gibt auch ein "NDS für NT", das es NT-Servern und -Clients erlaubt, die NDS-Verzeichnisdienste zu nutzen. Allerdings hat Microsoft angekündigt, dies nicht weiter zu unterstützen. Der Directory-Services-Krieg geht eindeutig zu Lasten der Anwender und ist keinesfalls zu begrüßen.

Novells SFT III (System Fault Tolerant) ermöglichte schon vor Jahren Fehlertoleranz, die man im Windows-Bereich erst jetzt erreicht hat. Mit Netware 5.0 wurde ein System namens "Orion" angekündigt, das bis zu 16 Knoten clustern können soll. Orion geht weit über ein einfaches Failover-System hinaus. Anwender melden sich am Cluster an, der eine logische Einheit bildet. Alle Rechner sind mittels Gigabit-LAN untereinander verknüpft und arbeiten mit einer gemeinsamen Laufwerk-Farm. Orion ist sehr nahe am Idealbild eines VBS und wurde bereits prototypisch vorgeführt. Es ist Novell zu wünschen, daß diese Vision umgesetzt werden kann.

Wenn es darum geht, Leistung für rechenintensive Anwendungen zu erhalten, führt kein Weg an Unix vorbei. Hier werden schon seit längerem 64-Bit-Plattformen unterstützt und fast alles, was es über Clustering zu wissen gibt, wurde von Sun bereits implementiert. So nimmt es denn auch nicht Wunder, daß permanent neue Rekorde aufgestellt werden. Solaris unterstützt Cluster von 32 Rechnern, HP-UX solche von 16, und auch andere Hersteller wie Siemens mit dem Pyramid-System haben heiße Eisen im Feuer. NT muß noch einen weiten Weg gehen, um dorthin zu kommen, aber das ist vielleicht gar nicht beabsichtigt. Man darf ebenfalls nicht vergessen, daß fast alle Neuentwicklungen im Bereich der Betriebssysteme und verteilten Anwendungsprogrammierung immer im Unix-Umfeld gemacht werden. Erweiterte Sicherheitsfunktionen, die bei NT und Netware teilweise noch dazugebastelt werden müssen, sind im Unix-Umfeld meist Standard. Umgekehrt gilt: Wenn eine kleine bis mittlere Anzahl von Clients mit File/Print-Services versorgt werden soll, ist Unix das Falsche, weil derartige Dienste hier traditionell unterentwickelt sind. Auch die Systemadministration wird bei NT und Netware von den Besitzern günstiger beurteilt.

Fazit: Viele Besitzer von Client/Server-Strukturen möchten diese nur mäßig Richtung Intranet entwickeln, sondern legen eher Wert auf zusätzliche Features im Bereich Systemleistung, Sicherheit und Administration. Zwischen den drei wesentlichen Produktlinien Netware 5.0, Windows NT 5.0 und den "Unix-Derivaten" ist wenig Substitutionsdruck zu verspüren, weil jede Linie Merkmale hat, die in bestimmten Umgebungen benötigt werden. Wer zum Beispiel seine gesamte Bürowelt mit MS-Backoffice aufgebaut hat, wird mit dem Novell-Produkt nicht glücklich und braucht auch weniger Unix. Die Netware-Anwender werden froh sein, eine Zukunft zu haben, in der die früheren klaren Vorzüge von Netware wieder zu spüren sind. Es könnte hier gelingen, mit dem Bordermanager, NDS und Intranetware zwei Welten zu vereinen. Der Erzfeind der Unix-Systeme heißt NT, denn dieses System dringt in Bereiche der kommerziellen DV ein (zum Beispiel SAP), in denen man früher direkt Unix genommen hätte. So kann der Interessent endlich anwendungsorientiert entscheiden. (cep)

Dr. Franz-Joachim Kauffels

ist unabhängiger Unternehmensberater mit den Schwerpunkten Betriebssysteme, lokale Netze, Connectivity und Netzwerkmanagement. Er ist Autor zahlreicher Fachbücher und Mitglied wissenschaftlicher Vereinigungen.