Tipps für Vorgesetzte

Mitarbeiterführung – Individualisten und Spezialisten

09.11.2015 von Renate Oettinger
Je qualifizierter Mitarbeiter sind, umso selbstbewusster sind und agieren sie meist auch. Vielen Führungskräften fällt es schwer, solche Mitarbeiter zu führen. Wie es dennoch gelingt, erklärt Michael Schwartz.

Die Arbeitsstrukturen und -beziehungen in den Unternehmen haben sich verändert. Während noch vor 20 Jahren die Leistung eher selten in Team- und Projektarbeit erbracht wurde, ist sie heute zumindest in den Kernbereichen fast aller Unternehmen dominierend. Außerdem lautet ein Grundanforderung an alle Mitarbeiter: Sie sollen ihre Aufgaben weitgehend eigeninitiativ und -verantwortlich wahrnehmen. Das setzt voraus, dass die Mitarbeiter sich mit dem Unternehmen und ihren Aufgaben identifizieren - unter anderem, weil sie

Das wiederum erfordert einen anderen Führungsstil und ein verändertes Führungsverhalten.

Selbstbewusste Mitarbeiter folgen den Anweisungen ihrer Vorgesetzten nicht blind. Für sie braucht es einen offeneren Führungsstil.
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Ein verändertes Führungsverhalten ist auch nötig, weil die Führungskräfte heute oft keinen fachlichen Wissens- und Erfahrungsvorsprung vor ihren Mitarbeitern mehr haben. Denn ihre Mitarbeiter sind hoch qualifizierte Spezialisten, die bezüglich gewisser Fachaufgaben häufig ein größeres Know-how und Tiefenwissen als ihre disziplinarischen Vorgesetzten haben.

Entsprechend selbstbewusst sind diese Mitarbeiter - insbesondere dann, wenn sie wissen, dass das Unternehmen auf ihre Expertise angewiesen ist. Entsprechend selbstbewusst treten sie ihren Vorgesetzten entgegen und wollen in der Alltagskommunikation mit ihnen die Wertschätzung spüren, die ihnen und ihrer Arbeit nach ihrer Auffassung gebührt. Sonst sinkt ihre Arbeitsmotivation, und im Extremfall wechseln sie den Arbeitgeber - speziell in einer Arbeitsmarktsituation, in der viele hoch qualifizierte Spezialisten eine heiß umkämpfte Mangelware sind.

Führungskräfte müssen mehr und anders kommunizieren

Solch selbstbewusste Mitarbeiter zu führen, fällt vielen Führungskräften schwer - auch, weil sie nicht selten insgeheim noch das Credo verinnerlicht haben: Mitarbeiter haben die Anweisungen ihrer Vorgesetzten blind zu befolgen. Das tun besagte Mitarbeiter aber nicht: Sie hinterfragen mehr oder minder offen die Anweisungen und Entscheidungen ihrer Führungskräfte. Zumindest wollen sie von ihrer Führungskraft eine in ihren Augen plausible Begründung haben, warum aus deren Warte gewisse Dinge nötig sind.

Für die Führungskräfte bedeutet dies: Sie müssen mehr und anders als früher mit ihren Mitarbeitern kommunizieren. Statt Top-down-Anweisungen ist heute ein Einbeziehen der Mitarbeiter in die Ent-scheidungsprozesse angesagt. Und wenn dies nicht möglich ist? Dann müssen die Führungskräfte zumindest akzeptieren, dass ihre Mitarbeiter ihre Entscheidungen hinterfragen. Doch nicht nur das. Sie müssen auch akzeptieren, dass nicht nur sie zuweilen das Verhalten ihrer Mitarbeiter hinterfragen; ihre Mitarbeiter tun dies umgekehrt auch.

Zumindest theoretisch ist dies heute den meisten Führungskräften klar. Das bedeutet aber nicht, dass sie im Führungsalltag stets das richtige Führungsverhalten zeigen. Im Betriebsalltag registriert man oft, dass Führungskräfte gerade in Situationen, in denen sie selbst angespannt sind, ein Führungsverhalten zeigen, das eher einem autoritären als partnerschaftlich-kooperativen Führungsstil entspricht. Dadurch provozieren sie oft vermeidbare Konflikte in der Beziehung zu ihren Mitarbeitern.

Mitarbeiter "ticken" unterschiedlich

Im Betriebsalltag registriert man zudem bei Teams, die aus vielen selbstbewussten Mitarbeitern bestehen, immer wieder: Mit einigen Mitarbeitern haben die Führungskräfte eigentlich nie Probleme; in der Beziehung zu anderen tauchen aber fortwährend Konflikte auf, weshalb die betreffenden Mitarbei-ter von ihren Führungskräften gedanklich mit dem Etikett "schwierig" versehen werden.

Analysiert man die Ursachen hierfür, dann stellt man meist fest: Stimmt die Beziehung Führungskraft-Mitarbeiter, dann haben die Führungskräfte meist

Anders ist dies bei den "schwierigen Mitarbeitern". Sie haben entweder ein anderes Wertesystem als ihre Führungskraft, weshalb ihnen bei der Arbeit (und im Leben) auch andere Dinge wichtig sind. Oder sie haben aufgrund ihres Wertesystems Erwartungen an ihre Führungskraft, die diese aufgrund ihrer Präferenzen nicht erfüllt.

Unterschiedliche Wertesysteme beachten

Die divergierenden Wertesysteme und Erwartungen bezüglich des Verhaltens wären im Betriebsalltag kein Problem, wenn diese den Führungskräften bewusst wären. Denn dann könnten sie sich hierauf einstellen. Viele Führungskräfte kennen aber ihr eigenes Wertesystem und ihre eigenen Verhaltenspräferenzen nicht. Und noch weniger kennen sie die Wertesysteme und die hieraus resultierenden Verhaltensmuster und Erwartungen ihrer Mitarbeiter. Dabei wird dies für das erfolgreiche Führen von Mitarbeitern immer wichtiger - nicht nur aufgrund der veränderten Arbeitsstrukturen und -beziehungen in den Unternehmen. Hinzu kommt ein weiterer Punkt.

Darüber, ob die Menschen in den westlichen Industriestaaten heute individualistischer sind als vor 30, 40 Jahren, kann man streiten. Auf alle Fälle haben sich jedoch die Lebensstile in unserer Gesellschaft ausdifferenziert. Außerdem sind heute weniger Menschen bereit, fraglos irgendwelche nicht selbst gewählten Autoritäten zu akzeptieren. Zudem hat sich das Verhältnis der Berufstätigen zur Erwerbsarbeit verändert. Früher sahen die meisten Menschen in ihr ein notwendiges Übel, um den Lebensunterhalt zu sichern. Und die sogenannte "Selbstverwirklichung"? Sie erfolgte primär im privaten Bereich.

Anders ist dies heute - zumindest bei vielen hochqualifizierten Mitarbeitern. Für sie hat die Arbeit eine identitätsstiftende Funktion. Das heißt, sie wollen sich in ihrer Arbeit verwirklichen können und diese als sinnvoll erfahren. Sie stellen also höhere Anforderungen an ihre Arbeit und somit ihre Führungskräfte. Und die Führungskräfte? Sie stehen vor der Herausforderung, diese zu erfüllen, damit sich ihre Mitarbeiter mit ihrer Arbeit identifizieren können und die gewünschte Leistung bringen.

Auf die individuellen Bedürfnisse angemessen reagieren

Das setzt voraus, dass die Führungskräfte ihr eigenes Wertesystem kennen. Sonst besteht die Gefahr, dass sie ihre Werte-Messlatte bei allen anderen Menschen anlegen. Zudem können sie nur dann ermitteln, wo ihre "blinden Flecken" sind, weshalb sie zum Beispiel auf gewisse Verhaltensweisen ihrer Mitarbeiter allergisch reagieren.

Führungskräfte sollten, wenn sie ihre Mitarbeiter individuell, also ihren Bedürfnissen entsprechend, führen möchten, aber auch wissen:

Denn nur dann können Führungskräfte ihr Führungsverhalten wirklich dem Gegenüber anpassen. Außerdem können sie nur dann mit jedem Mitarbeiter eine tragfähige Vereinbarung schließen, was dieser braucht, um seine Arbeit als befriedigend, weil sinnstiftend und mit seinem Wertesystem vereinbar, zu erfahren.

In vielen Unternehmen besteht ein Bedarf, die Kompetenz der Führungskräfte in diesem Bereich zu schulen - speziell solchen, die sich zu High-Performance-Organisationen entwickeln möchten. Denn dieses Ziel lässt sich nur mit hoch qualifizierten, selbstbewussten Mitarbeitern erreichen, die sich voll mit ihrer Arbeit und den Zielen des Unternehmens identifizieren. Und diese Mitarbeiter erwarten eine individuelle, also sie als Person wahrnehmende und wertschätzende Führung.

Kontakt und weitere Infos: Michael Schwartz leitet das Institut für integrale Lebens- und Arbeitspraxis (ilea), Esslingen (www.ilea-institut.de). Der Diplom-Physiker arbeitete vor seiner Beratertätigkeit fast zwei Jahrzehnte als Führungskraft sowie Projektmanager in der (Software-)Industrie.