Mit IPv6 zum Echtzeit-Internet

17.11.2000
Alle zwei Jahre treffen sich Netzwerkfachleute auf dem Symposium "Interworking" und diskutieren über Entwicklungstrends bei Netzen und Diensten. Die Hauptthemen der diesjährigen Veranstaltung waren unter anderem die Integration von Internet-Techniken in Mobil- und Festnetze, Ressourcen- und Verkehrsmanagement sowie neue Forschungsprojekte in Europa.

Von: Kai-Oliver Detken

Neue Kommunikationsdienste lassen sich nur dann einführen, wenn das darunter liegende Netz und die Applikations- und Serviceplattformen dafür ausgelegt sind. Eine Schlüsselrolle spielen hier Techniken wie ATM, IP-Networking und "intelligente Netze" auf Basis von TMN, Corba und Java. Diese Themen standen denn auch im Mittelpunkt der Interworking 2000. Eine der Kernfragen war, wie sich das Zusammenspiel der diversen Systeme, Protokolle, Signalisierungsarten und Managementkonzepte sicherstellen lässt. Deren Interoperabilität ist die Voraussetzung dafür, durchgängige Dienste über große Entfernungen zu implementieren.

Das Programm des Symposiums setzte sich aus Grundsatzreden und Bird-of-a-Feather-Meetings der Internet Engineering Task Force zusammen, also den konstituierenden Sitzungen von IETF-Arbeitsgruppen. Außerdem wurden neue Projekte vorgestellt, die im Rahmen des "Information-Society-Technologies"-Rahmenprogrammes (IST) der Europäischen Union anliefen.

Die Sitzung eröffnete Horst Forster, Leiter des Bereichs "Computing, Communications and Networking" im IST-Programm. Er stellte die Strategie der EU bezüglich des neuen Rahmenwerks vor. Demnach stehen nicht mehr alleine Netzwerkfragen im Mittelpunkt der Forschung, sondern vielmehr Integration und Interoperabilität neuer Anwendungen im Bereich E-Commerce und E-Business.

Im Anschluss daran diskutierten Vertreter von Ericsson, Telenor und Alcatel über das "mobile Internet". Die Teilnehmer hinterfragten, ob Fest- und Mobilfunknetz zwangsläufig zusammenwachsen müssten. Sie wiesen darauf hin, dass gegenwärtig die Strukturen für "Mobile IP" fehlen; sie würden erst zusammen mit GPRS-Diensten (General Packet Radio Services) aufgebaut und schließlich in das "Universal Mobile Telecommunications System" (UMTS) münden.

Auch das Interworking mit dem Internet muss sich nach Ansicht der Experten ändern. So benötigt der Anwender künftig zwei IP-Adressen: eine für seinen mobilen Client und eine weitere für zu Hause ("Home Location"). Das ist aber mit der Version 4 von IP nicht in den Griff zu bekommen, weil diese Protokollversion nicht genügend IP-Adressen bereitstelle. Daher muss der Umstieg auf IPv6 beschleunigt werden. Zusammenfassend sahen die Diskussionsteilnehmer die Entwicklung im Mobilfunkbereich sehr positiv, vor allem deshalb, weil völlig neue Anwendungen möglich werden - nicht zuletzt wegen der höheren Datenraten, die UMTS bietet.

IP-Version 6 ist endlich im Kommen

Nicht nur im Zusammenhang mit Mobile IP wird IPv6 eine Hauptrolle spielen. Etliche Forschungsprojekte wurden mit dem Ziel gestartet, vorhandene SDH- oder ATM-Netze auf IPv6 umzustellen, um Erfahrungen zu sammeln und die ersten IPv6-Inseln vorzubereiten. Auf diese Weise soll der neuen Protokollversion langsam aber sicher zum Durchbruch verholfen werden. Beispiele für derartige Projekte sind "Armstrong" und "6Init".

Hinter dem Begriff "Armstrong" verbirgt sich ein experimentelles europaweites IP-Netz auf Basis von IPv6. Es wurde von acht Telekommunikationsunternehmen beziehungsweise ISPs (Internet-Service-Providern) eingerichtet, darunter der Deutschen Telecom, BT, France Télécom, Telefonica, Telenor und Tele Danmark. Im Netz kommen parallel die Versionen 4 und 6 von IP zum Einsatz. Auf diese Weise wird das Interworking der beiden Protokolle erprobt. Außerdem wollen die Projektteilnehmer Erfahrungen mit IPv6 in Verbindung mit Mobilfunktechniken sammeln, vor allem UMTS und dessen Vorläufer General Packet Radio Service (GPRS).

Ein paneuropäisches IPv6-Netz aufzubauen, über das Multimedia-Dienste inklusive Voice over IP in der Version 6 laufen, haben sich die Teilnehmer des 6Init-Projektes auf die Fahnen geschrieben. Zu ihnen zählen British Telecom, T-Nova in Deutschland, 6Wind (Frankreich) und Telia in Skandinavien. Wie bei Armstrong ist eines der Ziele, das Zusammenwirken von IPv4 und v6 zu testen, außerdem das Interworking mit dem öffentlichen Telefonnetz (Public Switched Telephone Network, PSTN). Um dies zu gewährleisten, sind ein Signalling-Gateway sowie ein Media-Gateway und ein entsprechender Controller erforderlich.

Auf dem Prüfstand stehen zudem die Signalisierungsprotokolle "Session Initiation Protocol" (SIP) der IETF und H.323 der International Telecommunication Union (ITU). Beide konkurrieren miteinander um die "Vorherrschaft" in VoIP-Netzen.

Datenpakete schneller verarbeiten

Ein weiteres "heißes" Thema der Tagung waren optische Netze, speziell deren Rolle in Zugangsnetzen (Access Networks). In diesem Bereich greifen die Carrier auf OADM-Hubs (Optical Add/Drop Multiplexing), Gigabit-Ethernet - künftig 10-Gigabit-Ethernet - sowie die Synchrone Digitale Hierarchie (SDH) in Kombination mit Datennetzen zurück. Das größte Problem ist die fehlende Flexibilität und Skalierbarkeit. Beiden Punkten rücken die Betreiber zu Leibe, indem sie wesentlich höhere Bandbreiten bereitstellen, als eigentlich benötigt werden. Die Experten diskutierten auf der Interworking neue Lösungsansätze, beispielsweise "Automatically Switched Optical Networks" (Ason). Diese optischen Transportnetze können optische Kanäle automatisch wechseln.

Zusätzlich sollen herkömmliche Techniken weiterentwickelt werden. Das "Protocol Processor Project" (Pro3) beschäftigt sich beispielsweise mit einer Prozessorarchitektur, die für die Verarbeitung von Datenpaketen (Packet Processing) optimiert ist. Pro3 soll mit beliebigen Protokollen zusammenarbeiten können und Datenpakete innerhalb von Nanosekunden bearbeiten. Um den Durchsatz zu steigern, die Verzögerungszeiten niedrig zu halten und gleichzeitig die Sicherheit zu erhöhen, griffen die Entwickler bei Pro3 auf das Konzept der "Stateful Inspections" von Paketen zurück. Damit ist es möglich, die Verbindungen pro Sekunde sowie die Anzahl der aktuellen Verbindungen zu kontrollieren und zu verwalten.

Eine immer wichtigere Rolle werden in Zukunft Virtual Private Networks (VPN) spielen. Denn Teilnehmer am elektronischen Geschäftsverkehr, sprich E-Business und E-Commerce, benötigen sichere Kommunikationspfade durch das Internet oder Extranets. Gleiches gilt für Mitarbeiter im Außendienst oder Heimarbeiter. Damit sich VPN vernünftig verwalten lassen, ist es notwendig, regelbasierte Netze ("Policy based Networks") einzuführen. Zu unterscheiden ist hier zwischen dem "Distribution Management", das durch XML ermöglicht wird, und dem "Extensible Management" auf Basis von Policies. Mithilfe dieser Instrumentarien können Internet-Service-Provider Quality of Service (QoS) anbieten und zeitkritische Multimedia- Anwendungen anbieten.

Schlüsseltechnik Multiprotocol Label

Switching

Als Schlüsseltechnik im Zusammenhang mit VPNs gilt "Multiprotocol Label Switching" (MPLS). Sie weist eine Reihe von Vorteilen auf, wie Fast Forwarding, Label Switch Path sowie die Unterstützung diverser Layer-2-Techniken und Signalisierungsprotokolle. Ein weiterer Pluspunkt ist die gute Skalierbarkeit. Service-Provider, die MPLS einsetzen, sind beispielsweise in der Lage, relativ problemlos und schnell neue IP-Mehrwertdienste zu entwickeln und ihren Kunden anzubieten.

Wer auf MPLS umstellt, muss sich allerdings davor hüten, zu viele Pfade aufzubauen und das Netz dadurch zu überlasten. Noch nicht ausgereift ist das Verfahren, das bei hoher Belastung alternative Datenpfade aufspürt. Probleme bereitet außerdem das Routing von QoS-Merkmalen. So ist beispielsweise offen, welche Ressourceninformationen verwendet werden können, um die korrekte Route zu bestimmen. Eine Lösung könnte darin bestehen, das Border Gateway Protocol (BGP) so zu erweitern, dass es Label- und VPN-Attribute verteilen kann. Auch Routen- und Topologieinformationen lassen sich mit BGP-4 übermitteln, während durch Inter-Domain-Routing die beste Route ermittelt werden kann.

Ein weiteres Projekt im Rahmen des IST-Programms ist "Adaptive Resource Control for QoS Using an IP-based Layered Architecture", kurz "Aquila". Bei ihm arbeiten unter anderem Siemens, Bertelsmann, T-Nova sowie weitere Provider und Universitäten zusammen. Die Ziele sind:

- die dynamische Bereitstellung von "End-to-end-QoS" in IP-Netzen,

- die Integration von Differentiated Services (Diffserv),

- Analyse des Marktes und technologischer Trends sowie

- die Einbeziehung der Standardisierungsgremien wie IETF, ITU und ETSI.

Aquila besteht aus mehreren Bausteinen. So ist ein flexibler und skalierbarer "Resource Control Layer" für die Zugangskontrolle und die Verwaltung der Ressourcen zuständig. Zusätzlich wird ein Core-Router entwickelt, dessen Funktion die "Admission and Traffic Control" im Zusammenspiel mit dem Resource Control Layer ist. Hinzu kommen Systeme am Rand des Netzes (Edge Devices), in denen Diffserv implementiert wurde, außerdem Hosts für die Anwendungen, inklusive eines Toolkit für QoS-Anforderungen. Geplant ist, Netzwerkdienste anzubieten, die sich - ähnlich wie ATM - für unterschiedliche Anwendungen eignen:

- Premium Constant Bit Rate (CBR): IP-Telefonie und Voice-Trunking,

- Premium Variable Bit Rate: Video-Streaming und Telekonferenzen,

- Premium Multimedia: angepasste Anwendungen wie TCP,

- Premium Mission Critical: SAP-Anwendungen, Spiele, Online-Banking sowie

- Standard: "Best-Effort"-Zugriff.

Die Voraussetzung für diese Services ist eine "Admission Control". Ihre Aufgabe besteht darin, Verkehr mit hoher Priorität möglichst zu minimieren und ihn zu steuern. Außerdem ist es notwendig, Policies zu implementieren, am Netzrand ein Bandbreitenmanagement zu etablieren und das Toolkit für die Anwender bereitzustellen, und zwar als Middleware zwischen dem QoS-Netz und den vorhandenen Applikationen. Hinzu kommen QoS-Verkehrsstudien sowie die Implementierung der Dienste in verteilter Umgebung. Zusätzlich sieht das Projekt vor, "Inter-Domain-QoS" einzuführen, wie das bereits beim Internet 2 erfolgte, sowie "Simple Interdomain Bandwidth Broker Signalling". Hinzu kommt die schwierige Aufgabe, Quality of Service für Multicast-Anwendungen bereitzustellen.

Tests mit Differentiated Services

Die Skalierbarkeit der Dienstgüte und das Datenflussverhalten von Differentiated Services untersuchten die Teilnehmer des Aquila-Projektes anhand eines Testnetzes in Bern (Schweiz). Es war aus 100-MBit/s-Vollduplex-Verbindungen und drei unterschiedlichen Typen von Routern aufgebaut: Core-, Ingress- und Engress-Systemen. Mit "Expedited Forwarding" und "Assured Forwarding" setzten die Fachleute zwei Hauptklassen auf und führten drei UDP-Datenströme von jeweils 100 MBit/s über das Netz.

Die Ergebnisse fielen sehr unterschiedlich aus. Bei der UDP-Messung traten keine Verluste bei Datenraten von 2 bis 4 MBit/s auf, und die Verzögerungszeiten blieben niedrig. Anders bei 5 MBit/s: Hier waren geringe Verluste bei maximaler Verzögerung zu verzeichnen. Das hatte zur Folge, dass der Durchsatz automatisch auf 5 MBit/s begrenzt wurde. Die TCP-Messungen ergaben bei 2 bis 4 MBit/s ebenfalls keine Verluste bei einer geringen Verzögerung und einem Jitterverhalten von 3 bis 10 Millisekunden. Bei 5 MBit/s kam es gleichfalls zu geringen Verlusten, weshalb auch hier die automatische Begrenzung griff.

Bei "Assured Forwarding" treten auch bei 5 MBit/s keine Datenverluste auf, bei 10 MBit/s betragen sie dagegen 20 Prozent. Dadurch erhöhen sich die Verzögerungszeiten enorm. Insgesamt ergaben die Tests, dass Diffserv ein zuverlässiges Verfahren ist, um in IP-Netzen eine Dienstgüte zur Verfügung zu stellen. Die Qualität hängt jedoch stark vom Verhalten des Senders ab, vor allem bei TCP.

Kommunikation als Chance und als Risiko

Mit einer Podiumsdiskussion über die Auswirkungen der Informationstechnik auf Gesellschaft und Wirtschaft schloss die Interworking 2000. An ihr nahmen Vertreter aus der Industrie, Anwender, Mitarbeiter von Universitäten und Repräsentanten der "New Economy" teil. Der Tenor der Debatte war, dass heute prinzipiell der Zugriff auf Informationen jederzeit und überall möglich ist. Auf der anderen Seite besteht die Gefahr, dass die Weltbevölkerung in eine Zwei-Klassen-Gesellschaft zerfällt: Für die eine Hälfte, vor allem Menschen in den Industrieländern, wird das Internet zu einem unentbehrlichen Informations- und Kommunikationsmedium. Der andere Teil bleibt davon ausgeschlossen, weil er aus finanziellen oder technischen Gründen keinen Zugang zum Internet erhält oder weil er nicht über das notwendige Know-how verfügt.

Ein weiterer Effekt, der nach Ansicht der Experten auftreten wird, ist die "Virtualisierung" der Gesellschaft. Die direkte Kommunikation zwischen den Menschen nimmt ab; es kommt zum "Großstadteffekt": Kommunikation ist zwar überall und jederzeit möglich, aber sie erfolgt nicht mehr direkt mit den Menschen in der unmittelbaren Umgebung, sondern über E-Mail oder Mobilfunksysteme. Die Folge, so die Befürchtung, könnte eine "Kommunikationsverarmung" sein. Welche sozialen Probleme damit verbunden sind, ist noch nicht absehbar.

Diesen Gefahren stehen Vorteile durch den Ausbau der Kommunikationsnetze gegenüber. Der größte ist die Informationsvielfalt, die hauptsächlich auf die wachsende Verbreitung des Internet zurückzuführen ist. Das weltumspannende Netz gibt vielen Menschen die Möglichkeit, zu relativ geringen Kosten weltweit zu kommunizieren. Auch für Unternehmen aus der Kommunikationsindustrie eröffnen sich durch das Internet und IP neue Chancen. So ist es heute für kleine Unternehmen einfacher, neue Produkte zu entwickeln, weil die IT-Welt zunehmend durch offene Standards geprägt ist, und nicht durch proprietäre Welten.

Allerdings, so das Fazit der Diskussion, sind viele Forschungsprojekte in den Bereichen Kommunikation und Netzwerke immer noch zu stark auf Technologien ausgerichtet. Punkte wie die Anforderungen der Benutzer oder die Auswirkungen auf die Gesellschaft werden zu wenig berücksichtigt. Dies, so die Teilnehmer des Interworking-Symposiums, soll sich allerdings in Zukunft ändern.

Die nächste Interworking-Konferenz ist für Oktober oder November 2002 geplant. Veranstaltungsort ist Perth in Australien. (re)

Zur Person

Kai-Oliver Detken

studierte Informationstechnik an der Universität Bremen. Heute ist er als Senior Consultant bei der WWL Vision2 Market GmbH tätig und leitet das Competence Center Consulting (CCC) in Bremen.