Mit 58 Pfennig in die USA

16.10.1998
Telefonieren via Internet ist nicht nur billig, die neue Technik vereint das Medium Sprache mit Web-Diensten und Messaging-Services in einer Mixed-Media-Kommunikationswelt. Thyssen Telecom hat in Zusammenarbeit mit Siemens in einem Test zwischen Düsseldorf und Hamburg geprüft, wie das Telefon der Zukunft in der Bevölkerung ankommt.

Von: Berthold Wesseler

Die Internet-Telefonie hat mit vielen Vorurteilen zu kämpfen: Die Sprachqualität sei bescheiden, die Bedienung umständlich und die Tarifstruktur unattraktiv. Teilweise sind solche Behauptungen auf Unkenntnis zurückzuführen, teilweise aber auch auf das Henne-Ei-Problem: Investoren interessieren sich für eine Technik, wenn sie sich bewährt hat. Bevor sie sich aber bewähren kann, muß jemand in ihren Aufbau investieren. Außerdem ist im embryonalen Stadium des Marktes noch unklar, für welche Services und welches Volumen die Infrastruktur ausgelegt sein muß.

Know-how aufbauen

Thyssen Telecom hat einen umfassenden Feldversuch gestartet, der prüfen sollte, ob di IP-Telefonie mit all ihren neuen Services bei deutschen Kunden auf Interesse stößt. Außerdem wollte das TK-Unternehmen wissen, welche Mehrwertdienste im Trend liegen. In dem Projekt sollen das technische Know-how für den Betrieb der Infrastruktur aufgebaut und praktikable Abrechnungsmechanismen entwickelt werden.

Nur für Ferngespräche

"Derzeit bieten wir 200 Privatkunden in Hamburg und Düsseldorf die Möglichkeit, Ferngespräche über das Internet zu führen," skizziert Edgar Schnorpfeil, zuständiger Projektleiter bei Thyssen Telecom, den Projektstatus ein Jahr nach Versuchsbeginn. "Um teilzunehmen, braucht man nicht mehr als ein konventionelles Telefon. Wir wollen neben den Sprachdiensten auch multimediale Anwendungen anbieten, allerdings nur in Verbindung mit einem PC." Geschäftskunden werden im Internet Sprach- und Bildtelefonie, Videokonferenzen und Dokumenten-Sharing betreiben, und zwar zu "akzeptablen Preisen", wie Schnorpfeil verspricht.

Bei dem Feldversuch setzen sich die Gebühren aus zwei Anteilen zusammen: Der erste ergibt sich aus der Einwahl in einen der beiden Internet-Knoten in Düsseldorf oder Hamburg. Der zweite resultiert aus den Tarifen für den Internet-Telefon-Service. "Aufgrund der überdurchschnittlich hohen Einwahlgebühren bei Ortsgesprächen ist hierzulande IP-Telefonie nur für Fern- und Auslandsgespräche interessant," so Schnorpfeil. "Da sind wir wettbewerbsfähig und können die Tarife günstiger als im Festnetz gestalten." Beispielsweise kostet ein IP-Telefonat in die USA pro Minute 50 Pfennig plus den Einwahlkosten auf Ortsebene von maximal 8 Pfennig pro Minute.

Ein Telefon genügt

Die Abrechnung erfolgt nach einem "Prepaid"-Mechanismus, wobei ein individuelles Telefonkonto mit einem monatlichen Startguthaben von 50 Mark, 100 Mark oder 200 Mark zugrunde gelegt wird. Am Ende des Monats wird das Telefonkonto per Einzugsverfahren vom Bankkonto des Kunden wieder auf das gewünschte monatliche Guthaben aufgestockt. Eine Rechnung mit detaillierter Aufstellung aller Gespräche ist auf Anfrage erhältlich.

Den ersten Härtetest hat die zwischen November 1997 und Januar 1998 installierte Infrastruktur (siehe Bild) bestanden. Bereits im Februar waren 130 externe Kunden aktiv, die weder einen PC mit Modem und Soundkarte noch irgendein anderes Multimediagerät benötigten. Ein normales Tastentelefon reicht zur Teilnahme aus.

Den Kern der Infrastruktur bilden die Gateways in Hamburg und Düsseldorf, die das gesprochene Wort gemäß dem Internet-Protokoll IP in digitale Datenpakete umwandeln. Alle Gespräche zwischen Düsseldorf und Hamburg werden derzeit auf diese Weise behandelt; die übrigen werden konventionell über das firmeneigene Plusnet geroutet. Thyssen Telecom testet Gateways der Hersteller Cisco, Intertel und Siemens.

Das Gateway macht’s

"Interxpress" von Siemens ist eine Kombination aus Hard- und Softwarekomponenten zum Aufbau eines Telefonie-Gateway. Es übernimmt die Rolle einer Drehscheibe zwischen Fernsprechnetz und Internet. Dabei ist es unerheblich, ob ein Telefongespräch über das öffentliche Internet oder über ein privates Intranet laufen soll. Das Gateway nimmt eingehende synchrone Gespräche an, komprimiert sie in TCP/IP-Pakete und schickt diese an den Internet-Port. Umgekehrt entpackt es am Internet-Port eingehende Sprachpakete, die nach Dekompression und Zwischenspeicherung wieder als synchrone Sprache an die Festnetz-Verbindung übergeben werden, die das Gateway eingerichtet hat.

Interxpress sorgt dafür, daß es zu möglichst geringen Verzögerungen und Paketverlusten im Internet kommt. Das ist wichtig, wenn Modems mit geringer Bandbreite die Datenübertragung bremsen. Das Gateway bildet die IP-Adressen der Internet-Welt und die Rufnummern des Fernsprechnetzes aufeinander ab, authentifiziert die Anrufer und rechnet nach jeweils gewünschten Tarifen ab, zum Beispiel pauschal, je nach Verbindungsdauer oder je nach Dienst.

Sprachqualität durch Bandbreitenreservierung

Thyssen Telecom verwendet als Gateway einen Pentium-Pro-Rechner und erreicht damit einen Durchsatz von bis zu 30 000 Paketen pro Sekunde. Das Gerät spricht bis zu 120 Fax- und Telefonanschlüsse an. Es gestattet Verbindungen zwischen Computern, Telefonen und Faxgeräten.

Die Teilnehmer melden sich in beiden Städten über eine spezielle Rufnummer auf den Gateways an. Nach Eingabe ihrer persönlichen Kundennummer über die Telefontastatur wählen sie die gewünschte Zielrufnummer. Ortsgespräche legt das Gateway auf das Festnetz, Gespräche innerhalb der Siemens-Filialen laufen über Plusnet.

Für die IP-Verbindung zwischen Hamburg und Düsseldorf sind 128 kBit/s auf einer 2 MBit/s schnellen Datenstrecke der Firma IS Internet Services reserviert. Die garantierte Bandbreite sorgt laut Schnorpfeil zusammen mit der bevorzugten Behandlung der Sprachpakete für eine "gleichbleibend gute Sprachqualität auch bei hoher Belastung der Übertragungsstrecke".

In technischer Hinsicht hat der Versuch nach Einschätzung des Projektleiters wesentliche Erkenntnisse gebracht: "Eine bis zu fünffache Kompression erscheint uns realistisch. Probleme bereitet allerdings noch das Wählen in mehreren Stufen. Das ist umständlich und zudem fallen während des Gesprächsaufbaus bereits Kosten an."

Viele Kunden erwartet

Thyssen Telecom will die junge Technologie weiterentwickeln. Telefonieren über IP soll künftig nach dem Standard H.323 verlaufen. Die Übertragung von Sprache und Faxsendungen wird über ein und dasselbe Gateway erfolgen. Hier unterscheiden sich die Gateway-Produkte ebenso wie in den Abrechnungsfunktionalitäten. Angesichts der zahlreich erwarteten Kunden will der Service-Anbieter neue Telefonkonten möglichst einfach und schnell einrichten, ändern und löschen können.

Auch wenn Schnorpfeil nach der ersten Testphase konstatieren muß, daß heute noch kein Gateway alle Anforderungen erfüllt, stimmen ihn der rasante Fortschritt der IP-Technik und die extrem kurzen Entwicklungszyklen der Hersteller optimistisch. Gerade bezüglich der Ausfallsicherheit, die "bei der öffentlichen Vermittlungstechnik besser ist" und bezüglich offener Sicherheitsfragen wird sich in der nächsten Zeit einiges tun. (kpl)