IP-Telefonie: Totgesagte leben länger

27.05.2004 von Dr. Thomas Hafen
Die Zeichen mehren sich, dass Voice over IP nach Jahren voller Marketing-Blasen nun tatsächlich Büro und Wohnzimmer erobert. Doch neue Probleme könnten dem Telefonieren über die Datenleitung unerwartet den Weg versperren.

Kaum eine Technologie wurde in den vergangenen Jahren so hochgejubelt wie Voice over IP (VoIP), die paketvermittelte Sprachübertragung über Datennetze. Und kaum eine enttäuschte die Erwartungen so sehr - vom Mobilfunk-Flop UMTS einmal abgesehen. Bereits Mitte der 90er-Jahre sagten Marktforscher und Hersteller eine Revolution voraus: Firmen würden großflächig ihr TK-Equipment entsorgen und fortan nur noch über ihre IP-Infrastruktur telefonieren.

Dass es nicht so kam, hatte mehrere Gründe. Zum einen sanken die Verbindungspreise im Festnetz derart, dass es kaum Kostenvorteile brachte, über Virtuelle Private Netze (VPN) oder das Internet zu telefonieren. Darüber hinaus boten IP-Telefone kaum mehr Komfortmerkmale als ISDN, wenn nicht sogar deutlich weniger. Sie ließen sich zudem wesentlich schwieriger implementieren und konfigurieren. Verfügbarkeit und Sprachqualität lagen weit hinter den Standards der klassischen Telefonie zurück. Als Hemmschuh erwies sich auch der Faktor Mensch: Vor allem in großen Unternehmen waren für IT und TK unterschiedliche Abteilungen verantwortlich. Mit dem Umstieg auf IP-Telefonie sahen sich nun die TK-Manager in ihrer Existenz gefährdet und blockten solche Projekte mehr oder weniger subtil ab.

Doch die Zeiten ändern sich. "Der Markt ist etabliert", sagt Torsten Piske, Business Manager beim Lösungsanbieter und ITK-Dienstleister Damovo. Seit 2002 habe sich die Zahl der von Damovo installierten Basis an IP-Endgeräten jedes Jahr verdreifacht. Piske steht mit dieser Beobachtung nicht allein, auch die Analysten sehen VoIP im "zweiten Frühling". So hat Gartner 2003 im Segment der IP-Anlagen mit mehr als hundert Nebenstellen ein Wachstum von 55 Prozent berechnet. Mittlerweile seien 17 Prozent der neu verkauften Nebenstellen IP-gestützt, stellten die Marktforscher fest. Glaubt man den Kollegen von Dell'Oro, gaben die Firmen im vergangenen Jahr für IP-Telefonsysteme doppelt so viel aus wie 2002. Und laut Instat/MDR übertraf die Zahl ausgelieferter IP-TK-Anlagen 2003 erstmals die der traditionellen Konkurrenz.

Hohe Zuwächse, geringe Basis

Hohe Steigerungsraten allein zeichnen allerdings ein zu positives Bild der Realität, denn die Basis, auf der die Steigerung beruht, ist dünn. Der Anteil von IP-Anlagen an der installierten Gesamtmenge beträgt nach Marktbeobachtern zwischen drei und fünf Prozent.

Ähnlich sieht es auch beim Umsatz mit IP-Sprachminuten in öffentlichen Netzen aus. So betrug der Anteil von VoIP-Calls 2002 in Westeuropa laut Gartner Dataquest mit 965 Millionen Euro nur ein Prozent des gesamten Festnetzumsatzes. Bis 2007 soll die Summe auf 3,6 Milliarden Euro steigen, was rund 3,6 Prozent der Gesamtsumme entspricht.

Erst 2020 werde VoIP die traditionelle Festnetz-Telefonie abgelöst haben, sagt Forrester voraus. Immerhin - die Analysten lassen keinen Zweifel daran, dass es die Technik schaffen wird.

IP-Fähigkeit wird Entscheidungsfaktor

"Die Zahlen sind nicht so gigantisch", gibt auch Piske zu. Doch die Nachfrage steige unaufhaltsam: "Bei jeder Investitionsentscheidung im TK-Bereich wird die IP-Telefoniefähigkeit einer Anlage berücksichtigt." Unternehmensberater Robert Willebrand unterstützt diese Aussage: "Wir machen für unsere Kunden schon lange keine Ausschreibungen mehr, die nicht die IP-Fähigkeit einer TK-Anlage voraussetzen."

Diesem Trend kann sich mittlerweile keiner der Anlagenbauer mehr entziehen. So erklärte zwar der eher konservative Hersteller Auerswald auf der Cebit 2004, VoIP sei für das Traditionsunternehmen noch kein Thema. Doch die Messegespräche mit Kunden und Händlern belehrten den Hardwareanbieter anscheinend schnell eines Besseren: "Voice over IP wird für Auerswald das "Projekt Zukunft" sein. Wir werden in der nächsten Zeit eine Lösung in Verbindung mit einer TK-Anlage anbieten können", versichert mittlerweile Gerhard Auerswald, Inhaber und Geschäftsführer des Unternehmens. Selbst die T-Com kann sich dem Boom nicht entziehen und stellte auf der Cebit 2004 ein VoIP-Produkt für Geschäftskunden namens "Netphone" vor.

Netzbetreiber entdecken VoIP

Doch nicht nur bei den TK-Anlagenherstellern werden VoIP-Funktionen mehr und mehr zum Standard. Auch Netzbetreiber und Service-Provider bauen das Angebot an IP-basierten Sprachdiensten massiv aus. Seit kurzem haben die Anbieter dabei nicht nur den professionellen Nutzer, sondern auch den Privatkunden im Visier. So bieten beispielsweise QSC und Broadnet Mediascape seit Dezember 2003 IP-Sprachprodukte für zu Hause; Telefonica hat ein Whole-sale-Produkt im Portfolio, das Partnern IP-Telefonie-Angebote für Endkunden ermöglichen soll.

Die Carrier profitieren dabei vom Breitbandboom, der die Zahl der DSL-Anschlüsse hier zu Lande in den vergangenen drei Jahren von 160.000 auf 4,5 Millionen hochschnellen ließ.

"Der Erfolg von VoIP hängt sehr stark von der Verfügbarkeit schneller Zugänge ab", erklärt Klaus von den Hoff, Kommunikationsspezialist bei Mercer Management Consulting. Johannes Nill, Geschäftsführer von AVM, sieht die kritische Masse erreicht: "VoIP ist reif für den Massenmarkt."

Nur mit Breitbandverbindung und Flatrate oder großzügigem Freivolumen ist das Telefonieren übers Internet attraktiv. Ein zehnminütiges Telefongespräch beansprucht zirka 12 MByte an Datenvolumen, dazu kommen noch zeitabhängige Verbindungskosten, die in etwa auf dem Niveau von Call-by-Call-Tarifen liegen. Interessant wird die IP-Telefonie also vor allem dann, wenn sich der Anwender die Grundgebühren fürs Festnetz sparen kann.

Derzeit sind nur QSC und Broadnet dank eigener DSL-Zugänge in der Lage, den Telefonanschluss komplett zu ersetzen. VoIP-Angebote wie "Iphone" von Freenet oder die angekündigten Services von Web.de und 1&1 setzen einen T-DSL-Anschluss voraus - und den gibt es nur in Verbindung mit einem Telefonvertrag. Auch beim Netzbetreiber Arcor, der im Herbst 2004 mit IP-Telefonie für Endkunden starten will, wird VoIP wohl nur in Verbindung mit einem Festnetzanschluss zu haben sein. Unabhängige Anbieter schließlich, wie Indigo Networks (Sipgate) oder Nikotel, betreiben nur IP-Gateways, die Anrufe via Internet so nah wie möglich an die Festnetz-Nebenstelle des Angerufenen bringen.

Sparen ist nicht alles

Neben einer - wenn auch geringen - Kostenersparnis bietet VoIP allerdings deutliche Vorteile gegenüber dem üblichen Festnetzanschluss. So lassen sich IP-Telefone überall hin mitnehmen. Der Nutzer benötigt nur einen IP-Zugang, beispielsweise über ein Internet-Cafe, und kann sich dann aus New York, Sydney oder Kapstadt ohne teuren Auslandszuschlag ins deutsche Festnetz einwählen. Prinzipiell ist er auch unter der dem Telefon zugeteilten Nummer weltweit erreichbar.

Die Mobilität bringt allerdings auch Probleme mit sich: IP-Telefone sind nur bedingt Notruf-tauglich. Während sich bei Festnetzgeräten und Handys der Standort eines Anrufers ermitteln lässt und der Notruf so an die nächstgelegene Polizei- oder Unfallstation weitergeleitet werden kann, ist dies bei einem Internettelefon derzeit noch nicht möglich. Und ohne Stromanschluss oder Internetverbindung ist an einen Notruf erst gar nicht zu denken.

Problem Notruf

Für Frank Brügmann, Geschäftsführer von Broadnet Mediascape, ist die Notruffunktion jedoch unabdingbar: "Wenn man vom IP-Telefon aus nicht die Polizei oder den Krankenwagen rufen kann, wird sich das System nicht durchsetzen." Der Provider löst das Problem teilweise, indem er von seinen VoIP-Kunden die Angabe einer Primäradresse verlangt. Notrufe werden dann zur nächstgelegenen Notrufzentrale geleitet. Standardisierungsgremien wie die National Emergency Number Association (NENA) oder das European Telecommunications Standards Institute (ETSI) prüfen die Möglichkeit, VoIP-Anrufe mit GPS-Daten (Global Positioning System) zu verknüpfen und so die Position eines Anrufers bestimmen zu können.

Aber nicht nur der Standort eines VoIP-Teilnehmers lässt sich nicht ermitteln, ein IP-Telefonanschluss lässt sich derzeit auch nicht so ohne weiteres von einem "normalen" unterscheiden. Dies hat praktische Konsequenzen: Ruft ein VoIP-Nutzer einen anderen an, wird das Gespräch aus dem IP-Netz ins öffentliche Netz und dann wieder zurück geroutet, es entstehen unnötige Interconnect-Kosten. Bliebe das Gespräch dagegen im IP-Netz, fielen diese Gebühren nicht an, der Anruf wäre kostenlos oder zumindest wesentlich billiger. Diese reine Internettelefonie funktioniert derzeit nur zwischen Kunden desselben Providers. Dieser kennt natürlich die Anschlüsse und kann die Gespräche entsprechend routen.

Vorwahl für VoIP

Regulierungsbehörde und Standardisierungsgremien arbeiten daran, dieses Problem zu lösen. So hat die Regulierungsbehörde für Telekommunikation und Post (RegTP) für VoIP-Teilnehmer die Vorwahl 032 vorgesehen, diese aber bisher noch nicht vergeben. Stattdessen erhalten IP-Telefon-Kunden eine Nummer aus ihrem eigenen Ortsnetz oder aus einem der Ortsnetze, in dem der Provider ein Gateway stehen hat.

Endgültig ließe sich das Problem mit dem Telephone Number Mapping (ENUM) lösen. Das von der IETF standardisierte Verfahren erlaubt es, Telefonnummern per Domain Name System (DNS) auf einen Unified Resource Identifier (URI) zu mappen, der in seiner Struktur einer numerischen Internetadresse entspricht und verschiedene Dienste unter einer Nummer zugänglich macht. Derzeit ist dieses System in einigen Ländern in der Testphase, so beispielsweise auch in Deutschland, Österreich und Schweden.

Überregulierung droht

Doch nicht nur Notruf-Problematik und ENUM treiben die Regulierungsbehörden dieser Welt um. Die IP-Telefonie wird in Sprachqualität und Verfügbarkeit der klassischen Telefonie immer ähnlicher. Es besteht also eigentlich kein Grund mehr, VoIP von der regulatorischen Seite her anders zu behandeln. Vorschriften des Telekommunikationsgesetzes (TKG) oder des G10 (Gesetz zum Artikel 10 des Grundgesetzes), das Abhörmaßnahmen regelt, könnten also bald auch für VoIP-Provider gelten - mit zum Teil erheblichen Auswirkungen.

"Für einen Anbieter ohne eigenes Netz wird es schwierig, Überwachungsmaßnahmen zu realisieren", erklärt Frank Radeck, Bereichsleiter Technische Systemlösungen bei QSC. "Wenn ich eine vollständige Regulierung habe, wird sich VoIP nie durchsetzen", befürchtet Mercer-Analyst von den Hoff. Für Augenmaß bei der Regulierung plädiert AVM-Chef Nill: "Das TKG kann nicht der alleinige Maßstab für VoIP sein." Wahrscheinlich sind die Sorgen sowieso unbegründet, denn die Regulierungsbehörde zeigt sich aufgeschlossen: "Wenn es gelingt, dem Wettbewerb durch die Internettelefonie neue Impulse zu verleihen, kommt dies letztlich allen Verbrauchern zugute", erklärt RegTP-Chef Matthias Kurth. Die Behörde versucht gerade, sich einen Überblick über das Thema zu verschaffen, und hat ein Dokument mit 87 Fragen entworfen. In einer Anhörung, die bis zum 18.06.2004 läuft, können Marktteilnehmer und sonstige "interessierte Kreise" Stellung nehmen.

Sicherheitsrisiko Sprache

Je mehr sich IP-Telefonie verbreitet, desto wichtiger wird das Thema Sicherheit. Die IP-TK-Anlage oder das IP-Telefon sind Geräte, die mit dem Internet verbunden sind und damit Hackern als Ziel für ihre Angriffe dienen können. "Das Sprach-Gateway darf kein Einfallstor ins Unternehmen sein", warnt Damovo-Manager Piske. Neben den aus der Datenwelt bekannten Gefahren wie Viren, Würmern oder Denial-of-Service-Attacken können Angreifer auch Schäden anrichten, indem sie beispielsweise über Firmennetze kostenlos telefonieren oder Gespräche mitschneiden. Dass viele Firewalls mit VoIP-Gesprächen Schwierigkeiten haben, erleichtert die Situation auch nicht gerade. Hersteller wie Cisco oder Avaya bieten deshalb Sicherheitsmechanismen für ihre VoIP-Produkte an.

"Wir können Signalisierung und Inhalte verschlüsselt übertragen, ohne dass die Sprachqualität darunter leidet", versichert Michael Bücker, Key Account Manager bei Avaya. Piske empfiehlt außerdem die logische Trennung von Sprach- und Datenverkehr durch virtuelle LANs.

VoIP könnte auch eine neue Art von Spam-Botschaften nach sich ziehen. Gespräche übers Internet sind ähnlich billig wie E-Mails. Spammer könnten also IP-Anschlüsse mit Werbebotschaften überschwemmen, bei den Teilnehmern würde ununterbrochen das Telefon klingeln. Filterhersteller wie Pan Amp haben auf die Gefahr reagiert und die ersten Spam-Blocker für VoIP vorgestellt.

IP-Telefon im Kurztest

Einen (fast) vollwertigen Telefonanschluss ohne monatliche Grundgebühr bietet die Indigo Networks GmbH mit "Sipgate" an. Einzige Voraussetzung ist der Kauf eines 99 Euro (Stand: 26.05.2004) teuren VoIP-Telefons, das vorkonfiguriert ausgeliefert wird und das der Kunde an eine bestehende Internetverbindung anschließen muss. Telefonate ins deutsche Festnetz kosten bei dem Düsseldorfer Anbieter rund um die Uhr 1,79 Cent pro Minute (bei Abnahme von 1.000 Minuten sogar nur 0,89 Cent). Jeder Anschluss erhält darüber hinaus eine eigene Telefonnummer, unter der er zu erreichen ist - sofern sein Telefon mit dem Internet verbunden und am Sipgate-Server angemeldet ist. Das geht in der Regel aber problemlos.

Wir haben das System unter verschiedenen Bedingungen getestet. Zum einen in einem Firmennetz, das über eine Standleitung mit dem Internet verbunden ist, und zum anderen an einem herkömmlichen DSL-Anschluss, wie er bei kleinen Unternehmen und Privatanwendern üblich ist. In beiden Umgebungen konnte schon wenige Augenblicke nach Anstöpseln des Apparats ganz normal telefoniert werden. Aus- sowie eingehende Anrufe waren mühelos möglich. Die Sprachqualität war gut, teilweise vielleicht etwas leise, aber bei weitem nicht so wie aus den Anfangszeiten der Internettelefonie gewohnt.

Fazit: Das System ist alltagstauglich, der Anbieter muss aber die Zahl der unterstützten Ortsnetze zügig ausbauen, wenn er ein breites Kundenspektrum ansprechen will.

Meinung

Dass sich Voice over IP langfristig durchsetzen wird, daran besteht kein Zweifel. Bis die IP-Telefonie allerdings die klassischen Vermittlungstechniken vollständig ablöst, werden noch viele Jahre vergehen.

Rudolf h. Saken von der GFT: "Voice over IP war vor ein paar Jahren nicht mehr als ein aufgeblasenes Marketing-Schlagwort der ITK-Boomphase. Doch mittlerweile ist die Übertragung von Sprachdaten über IP-Netze eine der Basistechnologien für Sprachkommunikation. Bei Investitionsentscheidungen in Sprachlösungen wird es daher immer wichtiger abzuwägen, welcher Ansatz - leitungsvermittelt oder VoIP-basiert - im konkreten Anwendungsfall die optimale Lösung bietet." (mec)

Dieser Beitrag stammt von unserer Schwesterzeitschrift ComputerPartner, der Fachzeitschrift für den ITK-Handel.