IP ist Hype

25.11.1999
Der Glaubenskrieg zwischen den Befürwortern unterschiedlicher High-Speed-Techniken im LAN und Weitverkehrsbereich geht weiter. ATM ist nicht tot, wie es viele behaupten, Gigabit-Ethernet nicht das Allheilmittel. Nur eines scheint für alle klar zu sein: Die Zukunft gehört IP.

Von: Kai-Oliver Detken

Einigkeit herrscht unter den IT-Fachleuten, daß die Anforderungen an die Netze in den kommenden Jahren drastisch steigen werden, denn

- Kommunikationsanwendungen erfordern eine immer höhere Übertragungsqualität;

- der Bedarf an schnellem Transfer von Video, Sprache und Daten nimmt zu und

- die Verfügbarkeit von mehr Bandbreite im Netz wird zum entscheidenden Kriterium einer effizienten Kommunikation.

Uneinigkeit herrscht jedoch in der Frage, welche Netzwerktechnik am besten den schnellen und sicheren Transport großer Datenaufkommen sicherstellen kann. Während die einen ATM vor allem wegen seiner Multiservice-Fähigkeit und der bereitgestellten "Quality of Service" (QoS) loben, lehnen andere diese Technik unter Verweis auf die hohen Kosten und die Komplexität ab. Für sie hat ATM vor allem im lokalen Netz den Anschluß verpaßt. Gigabit-Ethernet und insbesondere IP, die sich durch hohe Übertragungsgeschwindigkeiten bei einfacher Handhabung und niedrigere Kosten auszeichnen, sind für viele eine Alternative zum asynchronen Übertragungsverfahren.

Doch auch diese scheinbar überzeugenden Alternativen bergen Tücken, wie Ende Oktober auf der Konferenz "ATM, Gigabit-Ethernet, IP und SDH; Hochgeschwindigkeitsnetze - wer macht das Rennen" des I.I.R. deutlich wurde. Im Mittelpunkt stand die Frage, wie sich Sprache am besten über heutige Netze transportieren läßt. ATM bietet mit seiner festen Zellengröße von 53 Byte eine für Sprache ausreichende Latenzzeit von sechs Millisekunden. Neu in den ATM-Spezifikationen ist die "Guaranteed Frame Rate" (GFR), die es in Verbindung mit dem "Traffic Management 4.1" erlaubt, einen Verkehrsvertrag ("Traffic Contract") auf der ATM-Anpassungsschicht 5 (AAL) auszuhandeln, und nicht auf dem ATM-Layer.

Neu bei ATM ist außerdem eine Spezifikation für "Video on Demand" (VoD), welche die Übertragung von MPEG-2-Strömen über ATM ermöglicht und dabei Video, Sprache und Daten berücksichtigt. Um Fernsehqualität zu erreichen, sind Bandbreiten von 23 bis 25 MBit/s erforderlich. Ebenfalls in der Diskussion ist "Frame ATM over SDH Transport" (FAST), um ATM-Endgeräte über unterschiedliche Techniken anzusprechen.

Ein ATM-Referenzprojekt hat die Deutsche Bibliothek in Frankfurt am Main realisiert. Dort hat sich die LAN-Emulation in der Praxis bewährt, auch wenn durch den Einsatz von IPX unter Windows NT Probleme auftauchten. Der Grund: Meldungen, die ein Client mittels Broadcast versendete, wurden so schnell übermittelt, daß der Sender nicht alle Unicast-Meldungen wieder empfangen konnte. Als Lösung wurde empfohlen, die Server auf Linux umzustellen.

Schwieriger Vergleich zwischen ATM und IP

Einen anderen Standpunkt vertreten die Protagonisten des Internet-Protokolls. Nach ihrer Auffassung ist zwar in heutigen Netzen im lokalen Umfeld Broadcast eine Schlüsselfrage, weil IP-Applikationen diese Funktion benötigen, um sich regelmäßig im Netzwerk miteinander "bekannt zu machen". Allerdings, so die Kritiker von ATM, lasse sich ATM an Endgeräten nicht effizient und kostengünstig einsetzen, weil es ein Non-Broadcast-Medium sei. Außerdem hänge die Leistung der LAN-Emulation (LANE), die Broadcast im ATM-Netz ermöglicht, von der Zahl der gleichzeitig aufgesetzten Verbindungen ab. Die Erfahrungen der Deutschen Bibliothek widerlegen allerdings diese Argumentation.

Wer IP und ATM miteinander vergleicht, muß sich darüber im klaren sein, daß beide Techniken erhebliche Unterschiede aufweisen. So berücksichtigt IP im Gegensatz zu ATM keine "Intelligenz" im Netz. Intelligent sind in reinen IP-Netzen nur die Endgeräte und die Router. Zusätzliche Probleme entstehen, wenn Gigabit-Router Datenraten von 2,54 GBit/s durchschalten beziehungsweise weiterleiten, denn diese Datenmengen müssen auch verarbeitet werden. ATM verfügt dagegen über ein effizientes Routing-Verfahren.

Quasi als Integrator können beide Protokolle verwendet werden, wobei ATM heute nur als reines Transportnetz zum Einsatz kommt. Es bietet aber die Dienstgüte und Serviceklassen, die notwendig sind, um dem Anwender möglichst viele Optionen zu offerieren. Der wachsende Wettbewerbsdruck wird dazu führen, daß die Carrier ihren Kunden immer mehr Bandbreite zur Verfügung stellen. Das hat zur Folge, daß die Kapazitäten im Backbone-Netz stark anwachsen.

Im LAN sollte der IT-Fachmann soviel Bandbreite wie möglich bereitstellen, um für die steigenden Anforderungen der Anwendungen gewappnet zu sein. Gleiches gilt im Prinzip auch für das Weitverkehrsnetz, aber hier spielen die Kosten eine größere Rolle. Deshalb sollte nur die notwendige Bandbreite bereitgestellt werden.

Einen anderen Weg geht der Serviceprovider Level 3 (www.level3. de). Er verzichtete auf eine Mixtur aus ATM, IP und Sonet/SDH und hat ein reines IP-Netz aufgebaut. Es kommt also keine Leitungsvermittlung ("Circuit Switching") zum Einsatz, sondern nur "Packet Switching". Level 3 bietet demnächst über das IP-Netz auch Sprachverbindungen an. Momentan befindet sich dieser Service in der Testphase; allerdings wurde laut Level 3 bereits eine gute Sprachqualität erzielt.

Reine IP-Netze nicht ohne Tücken

Probleme bereitet noch die mangelhafte Interoperabilität zwischen den Systemen unterschiedlicher Hersteller. Hinzu kommen Schwierigkeiten mit der Netzwerkverwaltung und der Abrechnung (Billing und Accounting). Letzteres läßt sich heute nur über das Datenvolumen durchführen. Bei Sprachanwendungen ist aber ein präziseres Accounting wünschenswert. Weil dies fehlt, denken immer mehr IP-Serviceprovider über sogenannte "Flat Rates" nach, bei denen der Kunde einen Basisservice erhält, für den er eine Pauschale bezahlt. Ergänzt wird er durch Zusatzdienste, die individuell berechnet werden. Dieses Modell funktioniert aber nur dann, wenn die Preise weiter fallen. Dennoch rentiert es sich nach Meinung von Level 3 bereits heute, statt eines ATM-Netzes eine IP-Infrastruktur aufzubauen.

IP ist auch für Cisco eine, wenn nicht sogar "die" Schlüsseltechnologie. Als Beleg dafür führt das Unternehmen an, daß sich die Zahl der Teilnehmer im Internet alle acht bis zwölf Monate verdoppelt. Deshalb werde der Bandbreitenbedarf stark zunehmen. Ausschlaggebend für das weitere Wachstum seien IP-Services beziehungsweise -Applikationen. Besonders gefragt sind Mehrwertdienste, die gegenwärtig nur wenige Unternehmen bereitstellen können.

Die vorhandenen Sonet/SDH-Infrastrukturen reichen laut Cisco für die heute benötigten Bandbreiten nicht mehr aus. Eine weitere Klippe ist der Anspruch, Sprache über Datennetze zu transportieren. Im Weitverkehrsnetz sind unterschiedliche Protokollstrukturen denkbar, etwa IP über ATM-SDH-DWDM, IP über SDH-DWDM und IP über DPT/SRP-SDH-DWDM. Langfristiges Ziel von Cisco ist "IP over Dark Fiber". Um IP auf die Glasfaser zu bringen, sind jedoch mit dem "Spatial Reuse Protocol" (SRP) und "Dynamic Packet Transfer" proprietäre Verfahren notwendig.

Koexistenz unterschiedlicher Techniken

Die komplexen Protokolle der höheren Schichten werden laut Cisco jedoch überflüssig, wenn genügend Bandbreite zur Verfügung steht. Der Grund: Die Netze müssen sich dann nicht in derselben Weise skalieren lassen, wie das heute der Fall ist. Auch die Cisco-Fachleute räumen jedoch ein, daß die "IP only"-Variante nicht für alle Anwender gleichermaßen günstig ist. Deshalb favorisiert Cisco "Multiprotocol Label Switching" (MPLS) mit IP und ATM.

Notwendig sind offene Module, um die Interoperabilität sicherzustellen. Dies gilt für den "Open Service Application Layer", den "Open Call Control Layer" sowie die physikalische Schicht (Physical Layer). Wünschenswert ist in jedem Fall eine geringere Komplexität. Mittelfristig zeichnet sich eine Konzentration auf zwei Technologien ab:

- DWDM als Transportschicht sowie IP beziehungsweise ATM als Grundlage von MPLS als Service-Layer und

- in Campus-Netzen eine Koexistenz von ATM, LAN-Emulation, Multiprotocol over ATM sowie Gigabit-Ethernet mit Layer-3-Switching.

Ethernet auf dem Weg zu 10 GBit/s

Eine wichtige Rolle wird in künftigen Netzen zweifellos Gigabit-Ethernet spielen. Im Juni wurde der Standard für die Übertragung über Kupferkabel verabschiedet. Seitdem haben mehrere Hersteller Gi-gabit-Ethernet-Komponenten für diese Technik vorgestellt (im Special Focus der nächsten Ausgabe werden wir eine Marktübersicht über GE-Adapterkarten für Lichtwellenleiter und Kupferkabel bringen). Gegenwärtig diskutieren die Fachleute über den nächsten Schritt: GE mit 10 GBit/s oder 9,95 GBit/s. Welche Datenrate letztendlich zum Zuge kommen wird, ist unter den Herstellern von LAN-Komponenten und den Telekommunikationsfirmen noch umstritten. Dagegen steht fest, daß Gigabit-Ethernet Entfernungen bis zu 80 Kilometer überbrücken soll und nicht mehr auf das CSMA/CD-Zugriffsverfahren fixiert sein wird.

In den bestehenden Gigabit-Ethernet-Netzen kommen unterschiedliche Techniken zum Einsatz: Auto-Sensing beziehungsweise Auto-Negotiation, also die automatische Anpassung an Datentransferraten von 10 über 100 bis zu 1000 MBit/s, die Kombination von Cut-through- und Store-and-Forward-Switching sowie Layer-3- und Layer-4-Switching. Der Durchsatz in solchen Netzen liegt im Schnitt bei 50 bis 100 MBit/s; Switching und Routing spielen sich nahezu in Wire-Speed ab.

Eine wichtige Rolle spielt die "Link Aggregation", um hochverfügbare redundante Verbindungen aufzubauen. Die meisten Hersteller setzen dazu noch proprietäre Verfahren ein, doch bereits im nächsten Jahr soll ein entsprechender Standard vorliegen. Ein positiver Nebeneffekt dieses Ansatzes ist die Möglichkeit, eine Kanalbündelung mit Lastteilung vorzunehmen und eine höhere Performance (skalierbare Bandbreite) zu erzielen. Ein weiterer Pluspunkt ist die "intelligente Redundanz", weil eine schnellere Rekonfigurierung als beim Spanning-Tree-Verfahren erfolgt. Zudem kann Link Aggregation als kostengünstige Alternative zu höheren Datenraten dienen, weil sich bis zu sechs Links beziehungsweise deren Bandbreiten bündeln lassen.

Schwächen bei der Dienstgüte

In bezug auf die Dienstgüte (QoS) weist Gigabit-Ethernet allerdings im Vergleich zu ATM Schwächen auf, weil die Hersteller nur ein proprietäres Mapping zwischen dem IP-"Type of Service"-Feld (TOS) und IEEE 802.1p anbieten. Weitere Schwachpunkte sind:

- Prioritäten lassen sich nur mittels "Class of Service" (CoS) vergeben;

- es ist nicht geklärt, ob Netzwerkverwalter oder Anwender Applikationen definieren können, die auf die CoS-Mechanismen zugreifen.

Unter dem Strich läßt sich festhalten, daß die Classes of Services von Gigabit-Ethernet und die Quality of Service von ATM zwei unterschiedliche Paar Stiefel sind. Allerdings reicht CoS für viele Anwendungen im LAN aus. Wer jedoch glaubt, der Schritt hin zu GE bedeute im Gegensatz zur Implementierung von ATM keinen "Technologiesprung", liegt falsch: Auch bei Gigabit-Ethernet sind Schulungen und höhere Betriebskosten einzuplanen, wenn CoS und das dazugehörige Management vorgesehen sind, weil kein transparentes Layer-2-Switching mehr durchgeführt wird.

Eine Konsequenz der Konvergenz von Sprache und Daten ist, daß Datennetze eine vergleichbare Ausfallsicherheit bieten müssen wie das klassische Sprachnetz, sprich eine Verfügbarkeit von nahezu 100 Prozent. Das bedeutet unter anderem, daß künftige Dienste stärker als bisher die Anwendungen und damit den transportierten Dateninhalt berücksichtigen. Um das zu erreichen, ist jedoch ein einheitliches Management beider "IT-Welten" erforderlich, das jedoch in den heutigen Netzen nicht gegeben ist, selbst dann, wenn die Management-Tools vom selben Hersteller stammen.

Insgesamt läßt sich festhalten, daß es momentan nicht "die" High-Speed-Technik für konvergente Netze gibt. Vielmehr findet ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen unterschiedlichen Glaubensrichtungen statt, die sich jedoch in einem einig sind: Das Konvergenzprotokoll heißt IP. Die weitere Entwicklung läßt sich zum jetzigen Zeitpunkt kaum abschätzen. So werden die Teilnehmer einschlägiger Fachtagungen und Diskussionsrunden auch künftig zu folgendem Fazit kommen: "I’m very confused, but on a much higher level now!" (re)