Gewehre für Indianer

16.10.1998
Durch die Fusion mit Bay Networks wird Nortel zu einer der wenigen Firmen in der Kommunikationstechnik, die wirklich "Ende-zu-Ende-Lösungen" anbieten kann. Die Zielgruppe sind in erster Linie Carrier und Großfirmen.

Von: Nikolaus Ebbinghaus

Die Mitte Juni von Nortel und Bay Networks beschlossene Fusion gilt bei Fachleuten alleine wegen ihres Umfangs als eine der "ganz großen" Transaktionen in der TK-Branche Immerhin ist von 9,1 Milliarden Dollar die Rede. Auf den zweiten Blick stellt sich jedoch eine gewisse Ernüchterung ein. Zunächst wird der Zusammenschluß durch einen Aktientausch vollzogen, nicht ein einziger Dollar wird dabei den Besitzer wechseln. Und allein der boomenden Börse ist zu verdanken, daß dieser Deal "künstlich" auf einen solchen Betrag aufgebläht wurde. Normalerweise wäre Nortel sicher niemals bereit gewesen, soviel Geld für ein re-lativ kleines Unternehmen hinzulegen; denn durch diese vermeintliche Megafusion erhöht sich der Umsatz gerade einmal von 15,5 auf 17,7 Milliarden Dollar.

Also viel Lärm um nichts? Einiges spricht dafür. Denn tatsächlich hat Nortel einen großen Nachholbedarf, was seinen Bekanntheitsgrad angeht. Das Unternehmen ist zwar der größte nordamerikanische TK-Ausrüster und führend beim Ausbau von Internet-Backbones; bei mittelständischen Unternehmen oder gar in Privathaushalten ist der Name Nortel hingegen ziemlich unbekannt. Dies gilt vor allem für die Märkte im Ausland, wo die meisten großen Carrier bis vor kurzem stets die gleichen nationalen Lieferanten bevorzugten.

Dennoch ist die Fusion weit mehr als eine bloße "Luftbuchung". Denn Nortel wird nicht nur vom Bekanntheitsgrad und Vertriebsnetz von Bay profitieren, sondern auch von einem einzigartigen Synergiepotential: Während Nortel im WAN-Bereich seine Stärken ausspielen kann, ist Bay auf dem Gebiet der lokalen Netzwerke führend. Gemeinsam sind beide nun erstmals in der Lage, komplette End-to-End-Lösungen aus einer Hand anzubieten. Damit besitzt Nortel als weltweit wohl einziger Anbieter ein komplettes Sortiment für global tätige Großunternehmen, Service-Provider und Carrier.

Zielgruppe Telekommunikationsfirmen

Gerade den Markt der aufstrebenden Telekom-Dienstleister hat der neue Riese im Visier: Stromerzeuger, Kabelnetzbetreiber, Bahn- und Autobahngesellschaften werden in den kommenden Jahren verstärkt in die Telekommunikation investieren und dabei auf Nortel angewiesen sein. So sollen bereits zahlreiche Stromerzeuger ihr Interesse an Nortels "Digital Powerline"-Technik bekundet haben, mit der sich Stromleitungen für die Telekommunikation nutzen lassen. Betreiber von Fernsehkabelnetzen sehen sich dagegen durch die wachsende Konkurrenz des Satellitenfernsehens mehr und mehr gezwungen, ihre Netzwerke zu Multimediazwecken auszubauen und umzurüsten. Das dafür erforderliche Know-how hat Bay Networks im Angebot.

Daß man mit einem so breit gefächerten Produktspektrum auf vielen Märkten gegen mächtige Konkurrenten bestehen muß, kümmert die Verantwortlichen von Nortel offenbar wenig. Für Vizepräsident Peter Boland sind nicht die vielen Kleinbetriebe interessant, die sich vielleicht dann und wann "einen Router anschaffen"; vielmehr wolle man die Carrier und die anderen großen Dienstleister ansprechen, die integrierte Systemlösungen verlangen. Und dann werde man unter allen potentiellen Abnehmern einen solchen Wettbewerbsdruck entfachen, daß schließlich alle in moderne Infrastruktur investieren müssen, um konkurrenzfähig zu bleiben. Peter Boland: "Wir wollen gewissermaßen den Indianern Gewehre verkaufen." Zumindest den Endkunden kann dies recht sein, schließlich werden sie von einem besseren Service und niedrigeren Gebühren profitieren.

Am Ende dieser Entwicklung könnte dann stehen, was Nortel gerne als "Webtone" bezeichnet: Sprach- und Datennetze werden zu einem einzigen Netzwerk verschmelzen, wobei alle Dienste ebenso leicht zu bedienen sind wie heute das Telefon. Das Internet soll dann über eine solche Bandbreite verfügen, daß "Voice over IP", Videoconferencing und andere Multimediadienste zum Alltag gehören. Das herkömmliche Telefonnetz wird dagegen mehr und mehr an Bedeutung verlieren und eines Tages vielleicht sogar völlig überflüssig werden. Auf diesen tiefgreifenden Paradigmawechsel, der uns gerade bevor- steht, sind Nortel und Bay nun zweifellos bestens vorbereitet. Die Transaktion soll bis September abgeschlossen sein. Bay Networks wird als Tochtergesellschaft von Nortel die Geschäfte weiterführen. Vorgesehen ist, den Bereich "Enterprise Data Networks" von Nortel in Bay zu integrieren. John Roth, Präsident und CEO von Nortel, bleibt als Chief Executive Officer an der Spitze des Unternehmens. Dave House, bislang Chef von Bay, wird Präsident bei Nortel und rückt in den Aufsichtsrat auf. (re)