Generationswechsel steht vor der Tür

28.09.2001
Man nehme ein paar Gateways, stelle einen Switch hierhin und einen Server dorthin - und fertig ist das Next Generation Network. Doch so einfach geht es nicht. Schließlich müssen die "alten" leitungsvermittelnden Telekommunikationsnetze in die neuen paketorientierten Infrastrukturen integriert werden. Dennoch steht eines fest: Den Netzen der neuen Generation gehört die Zukunft.

Von: Hans-Jörg Schilder

Der Siegeszug des Internetprotokolls sorgt nicht immer für strahlende Gesichter. Während im Datenbereich die Vorteile von IP auf der Hand liegen, stößt die Integration der Telefonie in die paketgestützte Übertragung auf Barrieren. Der Grund ist, dass zeitgetaktete Netze wie ISDN, Kabelnetze und Mobilfunknetze in die neuen Strukturen eingepasst werden müssen. Diese Techniken in ein konvergentes Netz zu überführen, ist eine der größten Herausforderungen für IT-Hersteller und Serviceprovider. So müssen Übergänge geschaffen werden - zu den alten Strukturen, den "Intelligenten Netzen" und den bestehenden Telefonietechniken.

geräte voraus, die möglichst viele Netzwerktechniken unterstützen.

Konkret bedeutet das, Inhalte (Content), Transaktionsvorgänge wie Online-Abrechnung (Payment), Warenwirtschaftssysteme, Terminal-Host-Verbindungen sowie Sprachverbindungen in einem Netz abzubilden. Erst dann lohnt sich der Aufwand. Aus diesem Grund propagieren Fachleute die Integration von Multimedia und E-Commerce.

Die Telefonie spielt auch in einem "Netz der nächsten Generation" eine Schlüsselrolle. Zum einen, weil über diesen Dienst trotz E-Mail oder Short Message Services (SMS) ein Großteil der Kommunikation laufen wird, zum anderen, weil er besonders hohe Anforderungen in Bezug auf Dienstgüte (Quality of Service) stellt.

Mit der Thematik "Next Generation Networks" (NGN) müssen sich drei Zielgruppen auseinandersetzen: Netzbetreiber (Network Service Provider, NSP), Serviceanbieter (Communication Service Provider, CSP) sowie Application Service Provider (ASP). Eine Untermenge der CSP bilden die Internet Service Provider (ISP). Alle Unternehmen, die den genannten Gruppen angehören, stehen derzeit mächtig unter Druck. Sie müssen ihre Kosten in den Griff bekommen und neue Dienste entwickeln, die sie von ihren Konkurrenten abheben. In den USA entstehen bereits neue Kategorien von TK-Firmen, etwa Internet Telephony Service Provider (ITSP), welche die Strukturen der NSP nutzen. Davon ist der deutsche Markt jedoch noch weit entfernt.

Drei Kostenfaktoren bestimmen den Aufbau der Infrastruktur:

- Die Netzkapazität: die Anzahl der Gespräche, die gleichzeitig geführt werden können. 10 bis 20 Prozent der gesamten Kosten für ein Netzwerk entfallen auf die Infrastruktur.

- Die Betriebskosten teilen sich in Gebäude, Strom und gemietete Anlagen. Gerade die Mieten haben die Entstehung der ASP und CSP gefördert.

- Die Servicequalität: Sie bestimmt die Ausgaben für die Netzausrüstung, etwa Ausgaben für Hochverfügbarkeits-Systeme oder die Verfügbarkeit von Servicemitarbeitern rund um die Uhr.

Ein weiterer Kostenfaktor ist der Parallelbetrieb von alten proprietären Strukturen und NGN-Elementen. So behauptet die Vermittlungsanlage weiterhin ihren Platz. Sie ist das Bindeglied zwischen analoger und ISDN-Telefonie, Anrufsteuerung (Call-Control), dem Routing der Gespräche und dem Billing, also dem Erstellen von Daten für die Abrechnung. Darüber hinaus gibt es noch SS7-Router und Geräte wie Signaling Control Points (SCP) oder Service Node/Intelligent Peripheral (SN/IP), die Mehrwertdienste bereitstellen.

Bausteine von Next Generation Networks

Die Funktionen einer Vermittlungsanlage müssen sich im NGN umsetzen lassen, um künftig die teuren Schaltzentralen abzulösen. In einem NGN teilen sich mehrere Geräte die Arbeit der Vermittlung: Media-Gateways, Signalisierungs-Gateways, Softswitches sowie unterschiedliche Typen von Servern.

Media-Gateways bilden die Schnittstelle zwischen dem Unternehmensnetz und den IP- oder zeitgetakteten Netzen. Sie können zudem die Formate "übersetzen", die in unterschiedlichen (IP-)Netzen Verwendung finden. In diese Kategorie fallen beispielsweise Rufzeichen wie "belegt" und das Freizeichen, aber auch Ansagen wie "Kein Anschluss unter dieser Nummer".

Signalisierungs-Gateways übernehmen die Anrufsteuerung zwischen den zeitgetakteten und paketübermittelnden Netzen. Ein Softswitch ist gleichsam das "Mädchen für alles" im Netz. Geräte dieser Kategorie verfügen über Routing- sowie Switching-Funktionen. Zusätzlich sind sie für Autorisierung, Authentifizierung und das Accounting (AAA) zuständig.

Aus diesen Funktionen ergeben sich für die Elemente unterschiedliche Schnittstellen für die Steuerung der Anrufe - oder im NGN-Kontext - den Aufbau einer Sitzung mit mehreren Teilnehmern. Mit "First Party" und "Third Party" finden hier zwei unterschiedliche Techniken Verwendung. Analog zur Computertelefonie bezeichnet First-Party den Aufbau eines Telefonats, in dem beide Geräte am Gespräch teilnehmen. Third-Party bezeichnet Geräte, die zwar den Ruf aufbauen, aber nicht am Gespräch teilnehmen. Solche Anwendungen dienen beispielsweise in Call-Centern dazu, die Anrufe an die Agenten zu verteilen.

Vier Protokolle für die Anrufsteuerung

Für die Anrufsteuerung kommen mehrere Verfahren infrage, die miteinander konkurrieren: Call-Server (H.323), das Session Initiation Protocol (SIP) und Bearer Independent Call Control (BICC). Damit nicht genug: Zusätzlich hat sich das Stream Control Transmission Protocol (SCTP) eingebürgert, das zeitgetaktete Anrufsteuerung und IN-Protokolle (Intelligent Network) über ein IP-Netz transportiert.

H.323 zählt schon zu den Oldtimern. Ursprünglich entwickelte die israelische Firma Radvision dieses Protokoll für Multimediakonferenzen. Während sich der Standard bei den Internettelefonie-Service-Providern (ITSP) weitgehend durchgesetzt hat, gibt es Stimmen, die das Regelwerk für zu komplex halten, um neue Anwendungen in einem Netz einzurichten.

Von der Internet Engineering Task Force (IETF) stammt der Vorschlag des Session Initiation Protocol (SIP). Als die MMUSIC-Arbeitsgruppe (Multiparty Multimedia Session Control) die Technik konzipierte, standen das Hypertextprotokoll HTTP und die E-Mail-Norm Simple Mail Transport Protocol (SMTP) Pate. Zusätzlich kümmerte sich eine eigene SIP-Arbeitsgruppe um die Telefonie. Das Verfahren funktioniert ähnlich wie Centrex, bei dem Telefonservices ohne Nebenstellenanlage (PBX) bereitgestellt werden. Dies ist allerdings eher in den USA populär, vor allem bei ASP und CSP, die mithilfe von Centrex zusätzliche Dienste bereitstellen.

Eine Spielart des NGN ist die Bearer Independent Call Control (BICC). Sie übernimmt die Anrufsteuerung zwischen den einzelnen NGN-Elementen, beispielsweise von einem Softswitch zu einem anderen. Das Ziel war, die Parameter für diese netzbezogene Rufsteuerung in einheitliche Formate überzuführen, und das unabhängig von der Transporttechnik, also ATM, reinem IP oder Multiprotocol Label Switching (MPLS). Die NSPs verwenden BICC, um unterschiedliche Dienstklassen (Class 4 und 5) abzubilden.

Als Ersatz für das verbindungsorientierte Transmission Control Protocol (TCP) entwickelte das IETF das Stream Control Transmission Protocol (SCTP). Es war ursprünglich dafür vorgesehen, SS7-Informationen aus dem Telefonnetz in IP-Netze zu übermitteln. Mittlerweile erwuchs daraus unter der Leitung der Signaling-Transport-Arbeitsgruppe (Sigtran) ein Protokoll für die Übertragung von Signalisierungsprotokollen aller Art über IP-Netze.

Die Elemente des NGN lassen sich flexibel für Steuerungsaufgaben einsetzen. So übernimmt ein Feature-Server die Kontrolle über das IN. Er verwaltet die Third-Party-Rufsteuerung sowie die Rufnummernzuordnung in einer Datenbank und ermittelt die Informationen für die Abrechnung (Billing). Für die Kontrolle der Media-Gateways lässt sich ein Softswitch einsetzen, der den Auf- oder Abbau einer Verbindung zwischen zeitgetakteten oder paketgestützten Netzen veranlasst. Neben der Transcoder-Funktion liefert der Softswitch Statistiken. Unter einem Transcoder verstehen Fachleute die Umsetzung der verschiedenen Sprachcodecs, beispielsweise G.711 in G.729.

Dass es eine Vielzahl unterschiedlicher Gateways gibt, hat folgenden Hintergrund: Signalisierungs- und Media-Gateways sowie die dazugehörigen Controller sollen es Anbietern einfacher machen, für ihre Produkte Abnehmer zu finden. Darüber hinaus lässt sich die Infrastruktur besser skalieren. Für die Steuerung der Gateways haben sich zwei Normen etabliert: das Media Gateway Control Protocol (MGCP) als De-facto-Standard sowie H.248/Megaco. Beide bevorzugen einen Ansatz mit Master-Slave-Verbindungen.

Eine wichtige Rolle im NGN spielt die Steuerung der Media-Server. Spezielle Media-Controller sind für die Kontrolle der Messaging-Anwendungen zuständig, stellen eine Sprachsteuerung zur Verfügung und wandeln Faxe in andere Formate um. Vor allem die ASP-Fraktion scheint großen Druck ausüben, um die Weiterentwicklung von Voice-XML (vXML) weiterzutreiben. Diese Schnittstelle soll die Rufsteuerung mittels First-Party und Spracherkennung übernehmen.

Insgesamt lässt sich bereits heute sagen, dass NGN an die Stelle der "alten" Telekommunikations-Infrastrukturen treten werden. Zudem entwickeln sich die Netze der nächsten Generation zu einem Antriebsmoment für offene Systeme. Das heißt: Linux statt der bisherigen Unix-Derivate von Hewlett-Packard oder Sun im Softwarebereich, und PCI, Compact-PCI und Infiniband im Hardwarebereich.

Die ersten Nutznießer dieser Technik werden die Serviceprovider sein. Sie müssen sich entscheiden, ob sie eine reinrassige neue Infrastruktur aufbauen wollen oder auf hybride Netze setzen. (re)

Zur Person

Hans-Jörg Schilder

ist freier IT-Fachjournalist.