Frostfreie Verbindungen

14.10.1998
Die Anfangseuphorie um ATM hat sich mittlerweile etwas gelegt. Was übrigbleibt, ist der Einsatz im LAN-Bereich kombiniert mit Switching-Techniken. Erste positive Erfahrungen auf diesem Gebiet weist ein Hochschulinstitut in Bremerhaven vor, das auch in der Planung des ATM-Landesnetzes in Bremen mitbeteiligt war.

Von: Doris Strobl

Mehr als 500 Menschen arbeiten am Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung (AWI) in Bremerhaven. Neben der eigenen Forschung in den Polargebieten ist es die Aufgabe des AWI, der deutschen Polarforschung Logistik-Dienstleistungen zu erbringen: das Forschungsschiff "Polarstern", die deutsche Antarktisstation "Neumayer" auf dem Ekström-Schelfeis, die Koldewey-Station auf Spitzbergen und andere kleinere Stationen in der Antarktis und Arktis zu betreiben und dort eine Umgebung zu bieten, in der die deutschen Polarforscher ihrer Arbeit nachgehen können. Dazu gehört unter anderem auch, eine leistungsfähige Datenverarbeitungs- und Kommunikationsinfrastruktur bereitzustellen.

Dr. Hans Pfeiffenberger ist stellvertretender Leiter des wissenschaftlichen Rechenzentrums, das die Wissenschaftler in allen Fragen der Datenverarbeitung und Datenkommunikation unterstützt. Hier einige Beispiele für die Arbeit der Experten im AWI-Rechenzentrum: In der Antarktis wurde ein lokales Netz mit sieben Sun-Workstations eingerichtet. Über Inmarsat-Satelliten tauscht die Neumayer-Station regelmäßig EMail mit dem AWI aus. Die Polarstern ist mit Datentechnik förmlich vollgestopft, die dortigen Unix-Rechner sind ebenfalls vernetzt. Vom lokalen Netz in der Station Koldewey besteht seit rund zwei Jahren eine ständige Internet-Verbindung über Satellit nach Spitzbergen.

Alle diese Netzwerke wurden im Rechenzentrum konzipiert und zum Teil sogar realisiert. Von der AWI-Dependance in Potsdam aus installierten die Techniker die neuen Netzwerke auf Koldewey. Ein- oder zweimal im Jahr, wenn die Polarstern nach Bremerhaven zurückkehrt, wird auch bei den Rechnern und Netzen an Bord klar Schiff gemacht, neues Equipment installiert und restrukturiert. Dabei müssen die Spezialisten des AWI besonders darauf achten, daß die Systeme miteinander kommunizieren können.

Acht Mitarbeiter hat das Rechenzentrum, mit zeitlich befristeten Projektstellen sind es etwa 20. Über die technische Dienstleistung hinaus sind diese zumeist an wissenschaftlichen Projekten beteiligt. So zum Beispiel beim Leiter des Rechenzentrums, Dr. Wolfgang Hiller, der hauptsächlich das Gebiet Parallelisierung und Massenspeichersysteme bearbeitet. Hier wie in anderen Projekten sind hohe Rechenzeiten ganz normal. "Bei der Klimamodellierung gehen Rechenzeiten schnell in Tausende von Cray-Stunden", so Dr. Pfeiffenberger. Die Produktionsrechner, die dazu benutzt werden, stehen sowohl in Hamburg am Klimarechenzentrum als auch in Bremerhaven am AWI.

Hieraus erwuchs auch der Bedarf des Instituts nach einer Breitbandverbindung innerhalb Deutschlands. Bis April dieses Jahres war das Institut im Rahmen des "Regionalen Testbetts" RTB-Nord (AWI, Klimarechenzentrum Hamburg, die Universitäten Hannover und Braunschweig) und des Vereins zur Förderung eines deutschen Forschungsnetzes e.V (DFN) an das deutsche "Wissenschaftsnetz" angeschlossen. Das Testbett ist inzwischen im Breitband-Wissenschaftsnetz aufgegangen, das den RTB-Anwendern deutschlandweit 34-MBit/s-Anschlüsse bietet. Das Wissenschaftsnetz, das seit dem 1.Juli 1996 auch der Uni Bremen zur Verfügung steht, verbindet Forschungsstätten in ganz Deutschland, nach der CeBIT 1996 arbeitet es auf Breitbandbasis.

Seit das AWI in eigenen Gebäuden untergebracht ist, betreibt das Institut dort ein Datennetz. Vor zwölf Jahren war dies ein Netz von Terminals, die mit VMS-Rechnern gekoppelt waren. Etwa nach 1985 breiten sich die lokalen Netze (LAN) im AWI aus, im Benutzerbereich auf der Basis von Ethernet- und Local-Talk-Verkabelung (Apple). Denn die Hälfte der Rechner am AWI stammen von Apple und waren bis vor kurzem auch überwiegend über dieses "sehr schmalbandige" Netz verbunden. Im Hochleistungsbereich verließ man sich auf FDDI und Ultranet http://www.fokus.gmd.de/nthp/dfn-atm/. Ultranet ist neben TCP und ISO-OSI TP4 ein Transportprotokoll, das auf der Basis der Compatibility-Library für Convex-, Cray-, Silicon-Graphics- und Sun-Rechner arbeitet. Der Bedarf an großen Rechenleistungen führte zunächst dazu, daß Kapazitäten in Stuttgart angemietet wurden. Neben einer Standleitung nach Stuttgart gab es schon Mitte der achtziger Jahre Experimente über den damaligen Vorläufer des Breitbandnetzes, später das vermittelte B-ISDN der Telekom. Schon zu dieser Zeit wurden über die Ultranet-Technik 140 MBit/s nach Stuttgart genutzt - im Wählverfahren, nicht als Standleitung.

Immer mehr Rechner und eine zunehmende Nutzung von vernetzten Ressourcen veranlaßten das AWI, die historisch gewachsenen Ethernet-Netze zu optimieren. 1994 wurde zunächst die Neuverkabelung des Instituts ausgeschrieben. Ende 1995 war eine strukturierte Verkabelung mit Glasfaser im Sekundärbereich und Class-D-Kupferverkabelung im Tertiärbereich abgeschlossen. Dabei wurden fünf Prozent der Enduser-Plätze zusätzlich mit Glasfaseranschlüssen ausgestattet.

Glasfaser reagiert empfindlich auf Umstecken

Der stellvertretende Leiter des Rechenzentrums nennt einen der Gründe für diese Vorsicht: "Wie in allen wissenschaftlichen Einrichtungen wird am AWI viel experimentiert - das Equipment für eine bestimmte Aufgabe wandert ständig, zum Beispiel zwischen dem Arbeitsplatz und der Polarstern oder zwischen dem Büroarbeitsplatz und dem Labor. Damit sind viele Steckvorgänge verbunden, die von einer optischen Steckdose nicht so ohne weiteres verkraftet werden." Dr. Pfeiffenberger: "Darüber hinaus wollten wir nicht von Anfang an alle PCs, Workstations und Macintoshs mit Breitband-Anschlüssen ausrüsten. Für FDDI- beziehungsweise ATM-Enduser-Anschlüsse wäre es bei weitem zu früh gewesen." Ein Arbeitsplatz hätte sich außerdem nach seiner Einschätzung um einige hundert Mark verteuert.

Bei der Verkabelung hat man sich allerdings an die für Klasse D bestehenden Längenbeschränkungen gehalten: Dasselbe Kupferkabel, das heute für Ethernet benutzt wird, kann später auch für ATM verwendet werden, sobald diese Technik in den Benutzerbereichen eingesetzt wird. Ähnlich vorausschauend gestalteten die Verantwortlichen die Parameter des neuen Institutsnetzes: Der Übergang von den vorhandenen unstrukturierten Netzen mußte berücksichtigt werden, das Netz sollte möglichst weitgehend vom Arbeitsplatz des Netzwerkingenieurs zu managen sein und dedizierte Bandbreiten flexibel an bestimmte Arbeitsplätze verteilt werden können. "Wir haben uns daraufhin unterhalb des ATM-Backbone für ein hierarchisches Konzept entschieden", so Dr. Pfeiffenberger. Auf der Suche nach einem Partner entschied man sich für das Siemens Geschäftsgebiet Vernetzungssysteme und dessen OEM-Partner Cisco.

An den Arbeitsplätzen verwendet man im Augenblick aus wirtschaftlichen Gründen mehrheitlich Shared-media-Hubs. Diese sind über 10-MBit/s-Verbindungen an "Catalyst 5000"-Switches der Firma Cisco angeschlossen, so daß sich beispielsweise 24 Anwender eine Kapazität von 10 MBit/s teilen. Derzeit stehen 24- und 48-Port-Hubs für Ethernet zur Verfügung. Einzelne Anwender fordern aber auch dedizierte 10 MBit/s. Daher stammen die fünf Prozent Glasfaser, die diese Bandbreite für die einzelnen Workstations liefern.

Dr. Pfeiffenberger weiß: "Mit dem ATM-Backbone können wir in naher Zukunft jeden Anwender im Institut mit ATM bedienen, der es braucht." In den nächsten Monaten werden an einigen Stellen mit besonders hohem Datenaufkommen Shared-media-Hubs durch entsprechende Catalyst-3000-Switches ersetzt, was bereits eine Kapazitätssteigerung bewirkt, da diese einen ATM-Backbone-Anschluß mit 155 MBit/s haben.

Produktionsnetz mit ATM ausgerüstet

Am AWI gehen die Verantwortlichen davon aus, daß sich zukünftig ATM-Technik von den Workstations im Anwenderbereich bis hin zum WAN einsetzen läßt. Die Erfahrung mit dem ATM-Anschluß an das RTB-Wissenschaftsnetz hatte gezeigt, daß die Router-Verbindungen mittels ATM-PVCs (Permanent Virtual Circuit) funktionieren. Damit war der Sprung auf das technische Neuland beschlossene Sache. "Ich vermute, daß wir eines der ersten Produktionsnetze mit ein paar hundert Rechnern auf Basis der ATM-LAN-Emulation aufgesetzt haben", resümiert Dr. Pfeiffenberger.

Die aktiven Komponenten (Lightstream- und Catalyst-Switches) wurden im Januar geliefert und installiert, so daß das Netz umgestellt werden konnte. Einen Monat arbeitete man mit zwei Subnetzen im Testbetrieb. Dann konnten innerhalb von vier Wochen etwa die Hälfte der 500 PCs und Workstations angeschlossen werden. Im Juni 1996 war die Umstellung des Netzes im AWI vollendet.

"Die wesentliche Arbeit, nämlich die vorhandenen Ethernet-Segmente von Routern auf Switches umzuklemmen, war in wenigen Tagen geschehen", erinnert sich der Netz-Experte. "Eine Menge Umsteckarbeiten mußte beim Aktivieren der Shared-media-Hubs geleistet werden." Diese Aktion hat sich einige Wochen hingezogen. Die Konfiguration und der Netzwerkverkehr liefen innerhalb von Tagen. Damit war die erste Bewährungsprobe bestanden.

Aufbau des Bremer Landesnetzes

Die Verantwortlichen des AWI-Rechenzentrums waren auch an der technischen Konzeption und am Aufbau des Bremer Landesnetzes beteiligt. Anfang 1994 keimte in Gesprächen mit dem Bremer Institut für Betriebstechnik und angewandte Arbeitswissenschaft an der Universität Bremen (BIBA) die Idee zu diesem Projekt. Nach einem Senatsbeschluß wurde für das Land Bremen ein Netz aufgebaut, das es sowohl der Wirtschaft als auch der Wissenschaft ermöglicht, sich mit breitbandiger Kommunikation und deren Nutzung vertraut zu machen.

ATM kam hier ins Spiel, weil man beispielsweise am BIBA Entwicklungsprojekte im EU-Rahmen nur mit einem Anschluß an überregionale ATM-Netze durchführen kann. "Zum damaligen Zeitpunkt wurden überregionale ATM-Netze aber nur von der Telekom zu hohen Kosten angeboten", erinnert sich Dr. Pfeiffenberger, "deren Nutzung hätte ein einzelnes Institut oder eine einzelne Firma kaum finanzieren können". Das regionale Netz sollte diese Belastung verteilen, die Möglichkeit für einzelne Nutzer vergrößern, sich an das ATM-Netz der Telekom anzuschließen oder auch andere regionale Netze und Kapazitäten zu teilen. Zeitlich liefen die Konzeption des Landesnetzes und des hausinternen Institutsnetzes etwa parallel. Daß für beide die gleiche Technik benutzt wurde, bringt beispielsweise Vorteile bei der Verwaltung mit sich, aber auch bei der Anschaffung und Installation der Komponenten.

Wodurch unterscheidet sich das Bremer von anderen Landesnetzen, etwa in Berlin? "Wir haben als erste versucht, bestimmte Punkte im Land über ATM anzuschließen, ohne dort überhaupt Router hinzustellen", beantwortet Dr. Pfeiffenberger diese Frage. "Es ist einfach kostengünstiger, für Ethernet-Anschlüsse einen Switch mit einem ATM-Backbone-Anschluß zur Verfügung zu stellen, statt einen ATM-fähigen Router mit der gleichen Kapazität. Deshalb haben wir im Landesnetz nur zwei große Router, die alles miteinander verbinden. Der eine davon steht am AWI in Bremerhaven und der andere an der Uni in Bremen." Den angeschlossenen Teilnehmern stellen Catalyst-Switches die Anwenderschnittstellen zur Verfügung. Die Router spielen nur noch die Rolle von Vermittlungseinrichtungen zwischen zwei Switches. Die erste Übertragung zwischen Bremen und Bremerhaven fand im November 1995 statt, am 14. Dezember wurde während eines Workshops beim BIBA zum ersten Mal eine Videoübertragung vom AWI zum BIBA über ATM durchgeführt. (hjs)