Fahrzeug-Produktion: Zukunftsplanung in 3D

03.10.2007 von DaimlerChrysler 
Mit dem Projekt Digitale Fabrik beschreiten Produktionsplaner von DaimlerChrysler neue Wege. Digitale Methoden und Prozesse sowie 3D-Geometrien von Bauteilen, Produktionsanlagen und Gebäuden sollen für einen hohen Reifegrad bei neuen Fahrzeug-Baureihen sorgen.

Der Weg in die Zukunft führt zunächst in den Keller – genauer gesagt, ins Untergeschoss von Gebäude 28 im DaimlerChrysler-Werk Sindelfingen. Dort, im „Planungsraum Digitale Fabrik“, treffen sich Planungsspezialisten aus allen Fachbereichen des Konzerns und beraten über Neu- und Umbauten von Fabrikhallen und Produktionsanlagen.

Das Besondere an den regelmäßigen Meetings: Die Fabrik- und Produktionsplaner sitzen im Halbkreis vor einer „Powerwall“ von der Größe eines Fußballtors. Mit Hilfe von 3D-Brillen können sie dort in virtuelle Welten eintauchen, die sehr realistisch anmuten und detaillierte Einblicke in Gebäude und Anlagen von morgen gewähren.

Die digitale Reise in die Zukunft beginnt, wenn etwa Klemens Benz, Mitarbeiter des Teams „Digitale Fabrikplanung“, vom zentralen Steuerpult die sechs Hochleistungsprojektoren ansteuert, die ihre Bilder von hinten auf die Spezialleinwand der Powerwall projizieren. Auf dieser erscheinen dann räumlich wirkende Darstellungen, die zeigen, wie zum Beispiel ein komplettes Werk, eine Fertigungshalle mitsamt der Produktionseinrichtung oder ein vollständig eingerichtetes Großraumbüro einmal aussehen werden.

Powerwall: Das digitale Luftbild des DaimlerChrysler-Werks Sindelfingen ist auf die Powerwall projiziert. Die Planer können jedes einzelne Gebäude nicht nur heranzoomen, sondern auch „betreten“ und einen virtuellen Rundgang durch Büros und Werkhallen starten. (Quelle: DaimlerChrysler)

Benz und sein Teamleiter Peter Csavajda demonstrieren dies Besuchern am Beispiel des Van Technology Centers (VTC), das DaimlerChrysler 2005 im Werk Untertürkheim in Betrieb genommen hat. Im VTC Beschäftigte konnten sich an der Powerwall schon vor dem ersten Spatenstich ein virtuelles Bild ihrer künftigen Arbeitsplätze machen. Der digitale Rundgang mit seinen fotorealistischen Darstellungen führt durch den gesamten Gebäudekomplex des VTC und zeigt in den einzelnen Büros und Werkstätten nicht nur Schreibtische und Werkbänke, sondern erlaubt sogar einen Blick aus dem Fenster zum neuen Mercedes-Benz-Museum.

„Was Sie hier sehen, ist aber viel mehr als nur eine beeindruckende 3D-Visualisierung“, sagt Csavajda. „Für uns ist dieses System vor allem ein exaktes, zuverlässiges und schnelles Werkzeug, mit dem sich alle Fabrikkomponenten als digitales Mockup darstellen und absichern lassen.“

In diesem Artikel erfahren Sie mehr über die moderne 3D-Produktionsplanung von Fahrzeugen und ganzen Produktionsgebäuden.

Virtualisierung mit Bentley Microstation

Grundlage dieses virtuellen Systems ist zum einen die Basissoftware Microstation der Firma Bentley, die das umfassende dreidimensionale Planen von Gebäuden erlaubt. Auf diese Basis haben die DaimlerChrysler-Spezialisten das Fabrikplanungssystem FAPLIS gesetzt. Dessen erste Versionen kamen schon 1984 zum Einsatz; heute kann FAPLIS alle Komponenten einer Fabrik dreidimensional darstellen und zusammenbauen.

Virtuelle Fertigung: Produktionsanlagen und den optimale Material-Workflow werden am Rechner simuliert. (Quelle: DaimlerChrysler)

„Vereinfacht gesagt, haben wir also digitale Bauklötzchen, mit denen man komplette Fabrikgebäude errichten kann. Dazu werden alle der 50 bis 60 Gewerke, die am Bau einer neuen Fabrik beteiligt sind, auf einer einheitlichen Datengrundlage digital erfasst“, erläutert Peter Csavajda. „Das Besondere an unserem digitalen Planungsraum ist, dass wir hier im Sinn einer integralen Werkplanung Menschen und Daten gleichzeitig zusammenbringen und nach optimalen Lösungen suchen.“

Clash Detection senkt Baukosten

Wie dies abläuft, demonstriert Klemens Benz am Beispiel einer „Clash-Detection“, mit der er die zwei Gewerke Stahlbau und Heizungsplanung miteinander abgleicht. Zuerst erscheint auf der Powerwall ein Abbild der Halle im Rohbau, das alle Stahlträger und -pfosten zeigt. Überlagert Benz dies per Knopfdruck mit dem zweiten Gewerk, zeigt das 3D-Bild zusätzlich alle Heizungs- und Lüftungsrohre. Ein weiterer Mausklick – und in Sekunden führt das System zu allen kritischen Stellen mit Planungsfehlern.

Durchschneidet zum Beispiel ein virtuelles Heizungsrohr einen virtuellen Stahlträger, sind solche Stellen farbig markiert und auf der Powerwall plastisch zu erkennen. Heizungsbauer und Rohbauplaner können das Problem „vor Ort“ diskutieren und nach einer Lösung suchen. Diese wird dann bis zum nächsten Meeting detailliert ausgearbeitet und in das System übertragen. „Zu Beginn eines neuen Projekts sind mehr als tausend solcher Kollisionen nicht ungewöhnlich, doch schon nach sechs bis acht Wochen liegt dieser Wert nahe bei Null“, weiß Benz aus den Erfahrungen der bisherigen Arbeit, bei der das Planungsteam seit 2002 neben Großprojekten wie dem VTC auch sämtliche Hallenumbauten für die Mercedes Car Group digital geplant und abgewickelt hat.

Clash Detection: Der Rechner erkennt sofort alle Stellen, an denen beispielsweise eine Rohrleitung einen Stahlträger durchschneiden würde. (Quelle: DaimlerChrysler)

Voraussetzung dafür war und ist, dass alle beteiligten Firmen – vom Elektroinstallateur bis zum Anlagenlieferanten – ihre Planungsdaten auf FAPLIS-Basis digital abliefern anstatt für jedes Gewerk zahlreiche Einzelpläne auszuarbeiten und auf Papier auszudrucken. Vor allem in der Startphase eines neuen Vorhabens bedeutet dies einen enormen Aufwand, den die spätere Zeit- und Kostenersparnis aber mehr als wettmacht. Wurde früher ein Projekt zum Beispiel mit einer Investitionssumme von einer Million Euro geplant, stiegen die Kosten durch ständig notwendige Umplanungen auf der Baustelle im Durchschnitt um 20 Prozent an. „Diese Mehrausgaben können wir durch die digitale Planung um 95 Prozent verringern“, erläutert Csavajda die bisherige Erfolgsbilanz.

Alle DaimlerChrysler-Werke digital erfasst

Die Arbeit im Planungsraum Digitale Fabrik trägt laut DaimlerChrysler noch weitere Früchte: Jedes DaimlerChrysler-Werk ist mittlerweile digital erfasst und kann vollständig in 3D dargestellt werden. Dadurch lassen sich Neu- und Umbauten rasch planen und visualisieren, was dem Management wiederum schnellere Entscheidungen ermöglicht. Zudem können Bauanträge nun auch als 3D-Darstellung eingereicht und den Behörden sowie der Öffentlichkeit plastisch erläutert werden. Die digitalen Fabrikmodelle sind zudem schon mehr als ein Jahr vor Baubeginn fertig, sodass bereits vor dem ersten Spatenstich die ersten virtuellen Fahrzeuge „vom Band rollen“ und die künftigen Produktionsprozesse optimiert werden können.

Runder Tisch: Im „Planungsraum Digitale Fabrik“ treffen sich die Experten aller Gewerke. An der Powerwall beraten sie „vor Ort“ über künftige Fabrikanlagen. (Quelle: DaimlerChrysler)

Die vollständige digitale Umsetzung nicht nur der Gebäude-, sondern auch der gesamten Produktionsplanung sind Teil des 2001 gestarteten Projekts „Digitale Fabrik“ (DiFa), mit dem DaimlerChrysler ein klares Ziel verfolgt. „Keine Produktionsanlage wird geplant, gebaut, in Betrieb genommen und betrieben, ohne dass vorab Produkt, Produktionsprozesse und Produktionsanlage digital abgesichert wurden“, erläutert Abteilungsleiter Rainer Eißrich das Vorhaben.

Damit soll – vergleichbar zur Einführung von CAD-Systemen in der Konstruktion und Entwicklung – auch in der Produktionsplanung eine digitale und 3D-basierte Planung der Prozesse und Betriebsmittel möglich werden. „Während Produktionsplaner bisher mit text- und tabellenorientierten Programmen wie etwa Excel, Access und Word arbeiteten, können sie in der Digitalen Fabrik auf ein Planungstool zurückgreifen, das auf der DELMIA-Software aufbaut, welche eng mit der bei DaimlerChrysler eingesetzten Konstruktionssoftware CATIA verwandt ist. Im DELMIA-Planungstool unterscheidet man zwischen Produkten, Prozessen und Ressourcen (PPR). Die Daten dieser drei Gruppen werden aus verschiedenen anderen Systemen importiert und mittels 3D-Geometrien bildhaft dargestellt. Erst die digitale Verknüpfung der Gruppen in einem System führt zu den positiven Effekten“, erläutert Sigurd Schneider vom Team Digitale Rohbauplanung.

Änderungen, die etwa ein Entwicklungsingenieur oder ein Montageplaner vornimmt, müssen nun nicht mehr von Hand umständlich und teilweise redundant in sämtliche Teilprogramme eingetragen und den Kollegen mitgeteilt werden, sondern stehen mit der Eingabe in den Rechner allen Planern automatisch zur Verfügung. Abgestufte Prozesse und definierte Zugriffsrechte sorgen dafür, dass die als „PPR-Hub“ bezeichnete gemeinsame Datenbank den Planern die notwendigen und rollenmäßig zugewiesenen Informationen zum richtigen Zeitpunkt bereitstellt.

DiFa-Bausteine schon erfolgreich im Einsatz

Bevor in Zukunft erste Fertigungsanlagen real aufgebaut oder bestellt werden, will das DiFa-Team sie im Rechner umfassend simulieren und als 3D-Darstellung überprüfen. „Somit ist sichergestellt, dass die einzelnen Gewerke wie Fördertechnik und Roboterzellen optimal zusammenpassen, die Bauteile auf kürzestem Weg transportiert und mit kostengünstigen Standardanlagen hergestellt werden können“, betont Rainer Eißrich.

In seiner Abteilung werden die digitalen Planungsstandards und -tools für die zentrale Produktionsplanung erarbeitet, mit denen die Produktionsprozesse vernetzt und transparent gestaltet werden. An der Schnittstelle zwischen Entwicklung und Serienproduktion greift DiFa bereits in das Konzeptheft der Entwicklungsingenieure ein und berücksichtigt auf diese Weise schon frühzeitig die Anforderungen der Produktionsplaner für die einzelnen Werke und Baureihen.

So wurden für Mercedes-Benz die aktuellen Baureihen der A-, B-, M-, R- und S-Klasse mit DiFa-Bausteinen geplant. Auch für die neue C- und die Nachfolgegeneration der E-Klasse setzen die Produktionsplaner inzwischen ihr umfangreiches Softwarepaket ein, das intern als „DiFa Release“ bezeichnet wird und nun sukzessive in die Planung aller neuen Fahrzeugprojekte Einzug hält. Für diese Planungen hat DaimlerChrysler dann neben der Fabrik- und Hallenplanung zum ersten Mal die drei Kernprozesse Rohbau, Montage und Logistik mit Hilfe der neuen Planungstools durchgängig digital erarbeitet und abgesichert. Weitere Bereiche wie zum Beispiel die Planung im Bereich Antriebstrang/Powertrain sollen folgen.

Digitaler Produktionsprozess optimiert Karosserieschweißungen

In der digitalen Rohbauplanung erstellt der Planer auf Basis der von den Entwicklern gelieferten CAD-Daten der einzelnen Bauteile und Schweißpunkte einen digitalen Produktionsprozess, wobei er zuerst Betriebsmittel und Fügefolgen und dann das 3D-Layout festlegt. So geht es zum Beispiel darum, sicherzustellen, dass alle Schweißpunkte auch tatsächlich von den Schweißzangen in akzeptablen Zeiten und zu definierten Kosten erreicht werden können.

Deshalb fließen in die Planung neben den Geometriedaten der Bauteile auch die 3D-Darstellungen der Betriebsmittel wie Roboter und Förderbänder sowie eine entsprechende Kostenkalkulation ein, sodass jede Änderung eines Rohbauteils oder -prozesses sofort genau kalkuliert werden kann. „Durch frühzeitige Zugänglichkeitsuntersuchungen und digitale Absicherung der Schweißpunkte für die aktuelle Baureihe der C-Klasse ließ sich die Zahl der notwendigen Schweißzangen drastisch reduzieren“, berichtet Harald Jetter vom DiFa-Team Digitale Planungsabsicherung.

Ergonomie: Beim Entwurf von Produktionsstraßen wird auf die ergonomischen Voraussetzungen und Belastungen der Mitarbeiter geachtet. (Quelle: DaimlerChrysler)

In der digitalen Montageplanung wird zu jedem Bauteil ein Arbeitsvorgang erstellt und mit Zeitvorgaben detailliert, wobei für einzelne Baureihen bis zu 6000 verschiedene Arbeitsvorgänge geplant und überprüft werden müssen. Dabei berücksichtigen die Planer nicht nur die möglichen Montagereihenfolgen und Taktzeiten, sondern untersuchen bei Bedarf auch die ergonomischen Voraussetzungen und Belastungen für die betroffenen Mitarbeiter, die in der jeweiligen Baureihe in der Montage beschäftigt sind.

Fahrzeugmontage mit Softwaretool ALB optimiert

Mit Hilfe des Softwaretools ALB (Automatic Line Balancing) optimieren die Montageplaner dann die Bandbelegung und Auslastung aller Montagestationen. ALB visualisiert auch die Ladungsträger, in denen die Bauteile angeliefert werden, und ermöglicht die Planung der Materialbereitstellzonen.

Das in der digitalen Montageplanung steckende Einsparpotenzial ist enorm. „Durch digitale Planung erreichen wir heute im Innenausbau und Fahrwerk schon zu Produktionsstart eine deutlich höhere Bandauslastung im Vergleich zum konventionellen Vorgehen; dadurch sinken die Fertigungskosten drastisch“, erläutert Steffen Körner, der das Team Digitale Montageplanung leitet.

Software-Optimierung: Das Softwaretools ALB (Automatic Line Balancing) optimiert die Bandbelegung und Auslastung aller Montagestationen. (Quelle: DaimlerChrysler)

Mit der Logistikplanung hat die DiFa-Projektgruppe schließlich einen weiteren Kernbereich der Produktion in die digitale Welt übergeführt und setzte dieses Know-how bereits für die aktuelle C-Klasse erstmals in der Praxis ein. Basis bildet auch hier eine Standardbibliothek, die sowohl Betriebsmittel wie etwa Ladungsträger oder Transportsysteme als auch Prozesse und Transportbausteine wie „Beladen“ oder „Heben“ enthält und zudem die jeweiligen Kosten hinterlegt hat.

In der Logistikplanung bündelt man die Bauteile, die für ein Fahrzeug gebraucht werden, in so genannte Teilefamilien, die aus Sicht eines Logistikers mit denselben Arbeitsschritten erledigt werden. „Auf dieser Basis kann der Planer dann für jede Teilefamilie die Versorgungskette vom Lieferanten bis zur Bereitstellung am Band erstellen, wobei auch der Rücklauf des Leerguts berücksichtigt wird“, erläutert Roberto Adrian, Teamleiter Digitale Logistikplanung und Ablaufsimulation.

Das System unterstützt den Planer beim Erstellen der Versorgungskette, indem es nur bestimmte logistische Abläufe zulässt. So ist etwa die Kette „Lieferant-Lager-Lager-Fertigung“ nicht erlaubt, weil es wenig Sinn macht, ein Teil zweimal hintereinander an verschiedenen Orten zu lagern. Die im Werk vorhandenen Orte wie beispielsweise Gebäude, Hallen oder Montagestationen werden der Versorgungskette zugeordnet, sodass eine Materialflussplanung erstellt werden kann. Ziel dabei ist es, Güter zu optimierten Kosten innerhalb des Werks zu befördern. Das Ergebnis dieser Planung lässt sich am Bildschirm dreidimensional darstellen.

Früher Reifegrad durch Vernetzung

„Zudem erlaubt es diese Durchgängigkeit, die Ladungsträger zu optimieren“, ergänzt Adrian. Stellen die Logistikplaner zum Beispiel fest, dass ein Ladungsträger nicht optimal befüllt werden kann, weil an einem Bauteil eine Befestigungsöse hervorsteht, können sie mit den Entwicklern rasch abklären, ob sich diese Öse konstruktiv anders gestalten lässt, sodass statt 100 nun 120 Bauteile in einen Ladungsträger passen und dadurch Logistikkosten reduziert werden können. „Im Einzelfall“, so Adrian, „macht das pro Fahrzeug nur eine Ersparnis von wenigen Cent aus, bei Volumenbaureihen summiert sich dies aber auf beträchtliche Summen.“

Auch dieses Beispiel zeigt, wie sich durch die digitale Umsetzung des Planungsprozesses Bereiche und Gewerke miteinander vernetzen lassen, die auf den ersten Blick weit voneinander entfernt scheinen. Doch gerade diese Vernetzung führt dazu, dass im Rahmen des gesamten Produktentstehungsprozesses sehr früh ein hoher Reifegrad erreicht wird. Als Mittler zwischen Entwicklung und Serienproduktion spielt das Projekt Digitale Fabrik eine immer wichtigere Rolle. DiFa-Leiter Rainer Eißrich drückt es so aus: „Die Digitale Fabrik ist ein zentraler Erfolgsfaktor, um die zukünftigen Herausforderungen der Produktionsplanung zu bewältigen.“ (cvi)