Eine Stadt fällt aus dem Netz

28.06.2002
Im hessischen Stadtallendorf erzwangen Behörden die Stilllegung zweier T-Mobile-Sendeanlagen. Firmen- und Privatkunden reagierten mit Unverständnis und heftigem Protest. Die Aktion gehe an Bürger- und Wirtschaftsinteressen vorbei, sagen die Betroffenen.

Von: Simon Demmelhuber

Bürgermeister Manfred Vollmer hat ein undankbares Amt. Da zieht er für Recht und Gesetz in den Kampf, zwingt den Netzbetreiber T-Mobile, zwei Sender im hessischen Stadtallendorf stillzulegen, und nun will keiner mit ihm feiern. Statt zu jubeln, fordern Bürger und Wirtschaft, dass die Antennen wieder ans Netz gehen. Kein Wunder, seit T-Mobile am 14. April zwei "formell illegale" Sender abschalten musste, klaffen behördlich verfügte Funklöcher im gesamten Bereich der Innenstadt. In den unteren Stockwerken vieler Häuser sind D1-Handys derzeit absolut tot. Wenn überhaupt, funktioniert das Netz nach dem Blinkerprinzip: geht, geht nicht, geht...

Die Quittung für den amtsbefohlenen Stotterfunk traf prompt im Rathaus ein. Während anderswo Bürgerinitiativen gegen neue Masten aufbegehren, gingen in Stadtallendorf kaltgestellte Handynutzer auf die Barrikaden. "Die Leute sind verärgert", bringt Rentner Winfried Schmidt das Volksempfinden auf den Punkt, "hier hat es richtig gebrodelt". Am Pranger stehen dabei nicht die Mobilfunkbetreiber, sondern die kommunalen Funkverhinderer: Was als Lektion für die eigenmächtigen Herrn der Netze gedacht war, missriet den Urhebern zum Eigentor.

Stadt legt "illegale" Sender still

"Da ist tatsächlich einiges schief gelaufen", räumt Bürgermeister Vollmer ein, "das war so nicht vorhersehbar". Die Reue kommt spät. Den Wind nämlich, der jetzt als Sturm durch Stadtallendorf fegt, hat Vollmer vor gut einem Jahr eigenhändig gesät. Damals war die Stadt von der Bauaufsichtsbehörde des Landkreises Marburg-Biedenkopf aufgefordert worden, den Bestand an Mobilfunksendern auf ihrem Terrain zu überprüfen. Ins Visier der Kontrolleure gerieten dabei zwei seit 1996 und 1999 betriebene Anlagen von T-Mobile. Dass beide Sender in Wohngebieten stehen, hatte zum Zeitpunkt der Errichtung niemanden gestört. Da eine Standortbescheinigung der Regulierungsbehörde vorlag, und keine der Antennen höher als zehn Meter über die Gebäudedächer ragte, musste der Betreiber keine Baugenehmigung einholen. Doch inzwischen vertrat der Hessische Verwaltungsgerichtshof eine neue Rechtsauffassung. In reinen und allgemeinen Wohngebieten seien Sendeantennen auf Wohngebäuden als Nutzungsänderung zu betrachten und mithin genehmigungspflichtig. Eine entsprechende Bewilligung lag nicht vor, also waren die Masten illegal. Das Bemühen des Betreibers, die Situation durch nachgereichte Genehmigungsanträge zu entschärfen, fruchtete wenig. Weil die Stadt einer Nutzungsänderung nicht zustimmte, konnte die zuständige Kreisbehörde keine Baugenehmigung erteilen und untersagte den Betrieb der Anlagen.

"Wir waren verärgert, weil T-Mobile die beiden Sender ohne unser Wissen und unsere Mitsprache hingestellt hatte", begründet Bürgermeister Vollmer die Haltung der Stadt. "Wir wollten nicht vor vollendeten Tatsachen stehen und haben deshalb unser Einvernehmen verweigert". Den Einwand, dass beide Anlagen gebaut worden waren, bevor die Rechtsauffassung der Kasseler Richter eine neue Sachlage schuf, ließen sowohl die Kreis- als auch die Stadtbehörde nicht gelten; die Bauaufsichtbehörde beharrte auf der sofortigen Stilllegung. Dagegen legte T-Mobile beim Verwaltungsgericht in Gießen Widerspruch ein und bekam Recht. Die Richter erklärten die Verfügung für unwirksam und plädierten dafür, dem "unterstellten rechtswidrigen Zustand" durch nachträglich genehmigte Bauanträge abzuhelfen.

Bauaufsicht verhindert nachträgliche Genehmigung

Spätestens hier tritt Thomas Naumann, Chef der Bauaufsichtbehörde des Landkreises Marburg-Biedenkopf, ins Rampenlicht. Naumann fügte sich nicht in die Schlappe und war bereit, den Fall bis zum Ende durchzufechten. Namens des Kreises legte er Beschwerde beim Hessischen Verwaltungsgerichtshof ein, der das Gießener Urteil schließlich kassierte. Der Kasseler Senat bestätigte die "formelle Illegalität" der Anlagen und setzte zugleich mit dem aufgeschobenen Nutzungsverbot eine ebenfalls verfügte Beseitigungsanordnung erneut in Kraft.

Als T-Mobile daraufhin die beiden Sender am 14. April abschaltete und im Stadtallendorfer D1-Netz nichts mehr ging, rieben sich nicht nur rund 5000 Kunden des Betreibers verwundert die Augen. "Dass der Kasseler Gerichtshof die Dinge derart auf den Kopf stellt, hat uns selbst überrascht", erklärt Vollmer, "das war nicht unsere Absicht." Die habe vielmehr darin bestanden, den Betreiber an den Verhandlungstisch und von der Konfrontations- auf eine Kooperationslinie zu bringen. "Eine definitive Stilllegung haben wir nie bezweckt". Dumm gelaufen, aber nicht ganz so unvorhersehbar, wie Vollmer den Hergang darstellt. "Spätestens mit der Beschwerde gegen den Gießener Beschluss musste jeder wissen, worauf die Sache hinauslaufen würde", rückt Naumann die Dinge zurecht.

Dass Vollmer den Schwarzen Peter gerne dem Kreisbauamt zuspielen möchte, ist verständlich. Wo der nun de jure tatsächlich liegt, spielt jedoch kaum eine Rolle. De facto nämlich bleibt er bei der Stadtverwaltung hängen, die sich schlagartig mit unerwartet vehementen Protesten konfrontiert sieht: "Hellen Aufruhr" habe es nach der Abschaltung gegeben, vor allem von Seiten der Wirtschaft, bestätigt Vollmer. "Deshalb haben wir nicht gezögert und innerhalb weniger Stunden eine mobile Antennenanlage im Industriegebiet genehmigt." Viel ist damit aber nicht gewonnen. Denn obschon der Notmast auf dem Gelände einer Eisengießerei den völligen Zusammenbruch des T-Mobile-Netzes verhindern konnte, bleibt dieses löchrig und instabil.

Das bringt die Betroffenen in Rage. Stocksauer darüber, dass sein Mobiltelefon zeitweise keinen Mucks mehr macht, ist beispielsweise Ali-Raza Sharamfer, der für ein Stadtallendorfer Taxiunternehmen fährt. "Wenn ich schon den ganzen Tag über im Auto sitze, möchte ich wenigstens telefonisch für meine Familie erreichbar sein", schimpft der Taxifahrer. "Das muss funktionieren, sonst komme ich mir isoliert vor". Für Sharamfer ist das Handy sein wichtigster Draht zur Außenwelt. "Mein Kind ist in Kirchhain im Kindergarten, meine Frau arbeitet in Marburg. Wenn da mal was passiert, muss man mir doch Bescheid sagen können."

Wirtschaftliche Nachteile drohen

Über dem Stadtallendorfer Rathaus ging indes nicht nur das Gewitter privater Zornkundgebungen nieder. Was es für die Wirtschaft bedeutet, wenn ein mittlerweile selbstverständliches, fest im sozialen und gewerblichen Gefüge verankertes Medium plötzlich ausfällt, machten ortsansässige Unternehmer ihren Stadtvätern klar. Zwei Großspediteure befürchten für den Fall einer ersatzlosen Komplettabschaltung schwer wiegende Dispositionsprobleme und Serviceeinbußen; ein Industrieunternehmen sieht Schlüsselfunktionalitäten seiner Betriebssteuerung in Frage gestellt.

"Alarmierend und in der weiteren Perspektive äußerst bedrohlich" ist das Antennendilemma für die Fritz Winter GmbH, einen international ausgerichteten Zulieferer der Automobilindustrie. Das Gießereiunternehmen setzt auf eine zuverlässig verfügbare Netzabdeckung, um reibungslose Produktionsabläufe zu gewährleisten. Mobiltelefone haben sich auf dem weitläufigen Werksgelände für die Arbeitsorganisation bewährt. Mit ihrer Hilfe steuert das Unternehmen den Personaleinsatz. Techniker sind rasch erreichbar, wenn Probleme an den Öfen oder den Montagebändern auftreten. Dadurch ließ sich die Ausschussquote deutlich senken. "Da die gesamte Kommunikation der Bereiche Verkauf und Produktion sowie die innerbetriebliche Abstimmung weitestgehend auf mobilen Verbindungen beruht, wäre ein Komplettausfall des D1-Netzes eine Katastrophe", sagt Unternehmensjustitiar Thomas Wetzler.

Unverzichtbar ist eine funktionierende mobile Kommunikations-Inf-rastruktur auch für die Fuhrunternehmen Kautetzky und Segendorf. Beide Speditionen wickeln ihre Personal- und Frachtdisposition, das Auftragsmanagement, die funkgestützte Fahrzeugortung, die Kühlüberwachung sowie ihre Kundendienstleistungen über D1-Telefone ab. Bricht die Mobilfunkversorgung zusammen, drohen empfindliche Verluste und die Abwanderung unzufriedener Auftraggeber. Weil die mobile Erreichbarkeit der Fahrer in vielen Fällen vertraglich vereinbart ist, stehen zudem erhebliche haftungsrechtliche Konsequenzen im Raum. "Unser Geschäft ist ohne Handy nicht mehr zu stemmen", erklärt Klaus Segendorf, "das gilt für die Steuerung der Fahrzeugflotte und erst recht im Bereich klimasensibler Waren".

Segendorf hat allen Grund zur Sorge: Sowohl in den Lagerhallen der Spedition als auch in den Auflegern wird wärmeempfindliches Gut durch Kühlsysteme geschützt, die ihre Statusdaten per Funk an den Frachtunternehmer oder direkt an den Kunden übermitteln. Tritt ein Defekt auf, schlägt das System automatisch Alarm und verschickt Warnmeldungen unterer anderem auf das Handy des Fuhrunternehmers. "Dann zählt wirklich jede Sekunde", sagt Segendorf, "ein Fahrer oder Lagerarbeiter muss benachrichtigt und eingewiesen werden, um den Fehler zu beheben, bevor die Fracht verdirbt." Wie er diesen Service garantieren soll, wenn seine rund 40 D1-Telefone lahm gelegt sind, ist dem Fuhrunternehmer schleierhaft. "Solche Dinge haben die Politiker wahrscheinlich gar nicht bedacht."

Schlichtweg undenkbar wäre ein Verzicht auf mobile Kommunikationstechnologien auch für Kurt Kautezky. "Es ist im Speditionsgewerbe selbstverständlicher Standard, dass wir jederzeit Kontakt mit den Fahrern halten und Informationen über den aktuellen Standort einer Ladung sowie zum Abfertigungs- oder Transportstatus abfragen können", sagt der Fuhrunternehmer. "Ohne Handy können wir unsere Arbeit nicht erledigen, jedenfalls nicht so, wie unsere Auftraggeber das erwarten."

Mangelnde Funkversorgung gefährdet Schmerzpatienten

Tief besorgt über die Entwicklung zeigt sich auch Dr. Branco Marcovici. Der niedergelassene Facharzt für Anästhesiologie hat sich auf die ambulante Behandlung chronischer Schmerzpatienten spezialisiert und implantiert rückenmarksnahe Katheter oder Pumpen, die hoch dosierte Morphiumpräparate in den Körper leiten. "Für viele meiner Patienten ist das die einzige Möglichkeit, ansonsten unbeherrschbare Schmerzen erträglich zu machen", erläutert Marcovici.

Ungeachtet ihrer Vorzüge birgt die ambulante Schmerztherapie jedoch eine Reihe gravierender Risiken: "Verschieben sich die Katheter im Gewebe oder stimmt die Dosierung nicht, kann es innerhalb weniger Stunden zu einer zentralen Atemlähmung mit eventuell tödlichem Ausgang kommen." Darum muss der Arzt die Behandlung laufend überwachen, um bei möglicherweise lebensbedrohlichen Komplikationen eine rasche Akutversorgung zu garantieren.

"Eine derart qualifizierte Rufbereitschaft kann ich aber nur dann leisten, wenn ich auch unterwegs jederzeit persönlich via Handy erreichbar bin", sagt Marcovici. Delegieren kann er die lückenlose Betreuung nicht, da andere Ärzte und Notdienste oftmals nicht das nötige Hintergrundwissen haben, um mit solchen Akutsituationen angemessen umzugehen. Oft reicht ein telefonisches Gespräch aus, um die Pumpe für das Schmerzmittel abschalten zu lassen oder um einen sofortigen Termin zu vereinbaren, damit ein Gegenmittel gespritzt werden kann, "aber trotzdem bleibt die ständige Erreichbarkeit oberstes Gebot der ambulanten Therapie."

Stadt will einlenken

Praktischer Mehrwert für Bürger statt formaljuristischer Muskelspiele heißt die klare Devise. Den Ruf nach einer möglichst raschen, einvernehmlichen und vor allem stabilen Lösung hat auch der Magist-rat vernommen. "Wir werden gemeinsam mit T-Mobile nach einer konstruktiven Lösung suchen, die Misshelligkeiten ausräumt und allen Seiten dient", läutete Vollmer seine Kehrtwende bereits zwei Wochen nach der Abschaltung ein. Ende Mai stellte er auf einer Bürgerversammlung dann nochmals klar: "Eine mobilfunkfreie Stadt wollen wir keinesfalls werden."

Am 13. Juni segnete die Stadtver-ordnetenversammlung den neuen Kooperationskurs dann auch amtlich ab. Gestützt auf die Stimmen von CDU, FDP und Bürgerblock genehmigte das Gremium fürs Erste den Betrieb der stillgelegten Sendeanlage im allgemeinen Wohngebiet. Über die Zukunft der zweiten Anlage im reinen Wohngebiet wird das Stadtparlament nach einem weiteren Prüfungsverfahren im August entscheiden.

Überraschend kommt dieser Ausgang nicht. Um ganz sicher zu gehen, dass nicht wieder "einiges schief läuft", hatte der Bürgermeister eigens einen Testlauf vorgeschaltet. Bei der inoffiziellen Generalprobe, einer Sitzung des Ausschusses für Stadtentwicklung, Bau, Umwelt und Landwirtschaft, sprachen sich die Mitglieder mehrheitlich dafür aus, allen umstrittenen Sendeanlagen die nötige Befreiung zu erteilen.

Dass die Zulassung des zweiten Senders dann doch noch von der Tagesordnung genommen und damit vorerst offen bleiben würde, war ebenfalls vorhersehbar. Ohne Naumanns Zustimmung wäre jeder Beschluss des Stadtparlaments das Papier nicht wert, auf dem er geschrieben steht. Denn letztlich zählt allein das Wort des Kreisbauamtsleiters: In seinem Ermessen liegt es, ob er die Willenserklärung der Stadt akzeptiert, oder als streitlustiger Michael Kohlhaas des Baurechts abschmettert.

Zweifel an Naumanns Bereitschaft, einer umfassenden Kulanzregelung zuzustimmen, sind berechtigt. Dass er als ehemaliger Richter am Verwaltungsgerichtshof keine Lust hat, mit anzusehen, wie Kommunen je nach Belieben die rechtssprechende Gewalt des Landes mit Füßen treten, daraus machte der Bauamtschef schon im Vorfeld keinen Hehl: "Wenn Behörden eigenständig rechtswidrige Zweckmäßigkeitsüberlegungen darüber anstellen, ob sie sich an geltendes Recht halten oder nicht, müssen wir einen Riegel vorschieben."

Damit sitzt Vollmer erneut in der Zwickmühle. Gegenwärtig sieht es ganz danach aus, als würde er die Geister, die er rief, so einfach nicht mehr los. Zum einen hält er an seiner Absicht fest, auch für den Sender im reinen Wohngebiet eine Befreiung und damit die Betriebsgenehmigung zu erwirken, zum andern droht ein Kräftemessen mit dem Kreisbauamt. Da tut guter Rat, und vor allem mächtige Schützenhilfe, bitter Not. Beides soll der Deutsche Städte- und Gemeindebund gewähren, den Vollmer um Rechtsbeistand und eine Beurteilung der juristischen Sachlage angerufen hat. (haf)

Zur Person

Simon Demmelhuber

arbeitet als freiberuflicher Fachjournalist in München.