"Die Prägephase wird vernachlässigt"

02.02.2001 von Michael Eckert
Meistens sind Berufsanfänger und Unternehmen froh, wenn sie sich gefunden haben. Doch jetzt fängt die eigentliche Arbeit erst an. Ein Interview mit Heiko Christian - Elektroingenieur und Leiter einer Personalberatung für Führungsnachwuchs - über das, was Informatiker und Ingenieure in den ersten Berufsjahren beachten sollten, worin die häufigsten Fehler bestehen und wie man seine Karriere von Anfang an professionell planen kann.

Von: Dr. Thomas Hafen

NetworkWorld: Das Examen ist bestanden, der erste Arbeitgeber gefunden. Jetzt kann doch nichts mehr schief gehen, oder?

Heiko Christian: Das genau ist der Riesenirrtum. Viele Berufsanfänger meinen, mit Erreichen des Jobs können sie sich erst mal zur Ruhe setzen. Sie schalten ab und verpassen die Chance auf eine anspruchsvolle Entwicklung. Erst nach zwei, drei Jahren merken sie, dass sie sich weiterentwickeln müssen. Aber dann ist der Zug bereits abgefahren, das Meinungsbild über sie ist geprägt.

NetworkWorld: Was sind denn die typischen Fehler eines Berufsanfängers?

Christian: Sie lassen sich Arbeit zuteilen, statt sie sich selbst zu holen. Sie verpassen damit die Chance, Qualität und Quantität ihrer Arbeit aktiv zu beeinflussen. Ein weiterer typischer Fehler besteht im unprofessionellen Umgang mit dem Vorgesetzten. Entweder der Berufsanfänger hängt sich auf Gedeih und Verderb an den Chef oder lehnt ihn völlig ab, statt professionell mit den Stärken und Schwächen des Vorgesetzten umzugehen.

NetworkWorld: Wie kann man sich bereits im Studium optimal auf das Berufsleben vorbereiten?

Christian: Man sollte sich möglichst früh mit dem Wirtschaftsleben bekannt machen und regelmäßig den Wirtschaftsteil einer Tageszeitung lesen. Das ist wichtig und bietet einen hervorragenden theoretischen Einstieg. Praktika würde ich nicht überbewerten. Sie finden doch meist in einer geschützten Umgebung statt. Da bringt es mehr, wenn man während des Studiums arbeitet. Dabei ist die Branchenspezifität unwichtig, wichtiger ist, dass man in einem echten ungeschützten Arbeitsverhältnis steht.

NetworkWorld: Gibt es in den technischen und naturwissenschaftlichen Studiengängen typische Defizite, die einen Berufseinstieg erschweren?

Christian: Auf der fachlichen Seite: nein. Doch die Schnittstellen werden vernachlässigt. Es gibt zu wenige Professoren, die darauf aufmerksam machen, dass es noch etwas anderes gibt als das eigene Spezialgebiet. Dieses "Sektierertum" ist in Deutschland leider üblich. Es sollen ja nicht fachfremde Inhalte gelehrt werden, aber der Blick über den Tellerrand muss gefördert und gefordert werden.

NetworkWorld: Viele Berufsanfänger wollen in die großen Konzerne. Halten Sie das für eine sinnvolle Strategie?

Christian: Im Prinzip ja. Hier gilt der "Dioden-Effekt": Man kann schlecht von einem kleinen in ein größeres Unternehmen wechseln, umgekehrt schon. Allerdings beobachten wir zurzeit eine massive Diversifikation: Ausgründungen und Startups schaffen ein großes Angebot an kleineren und mittleren Firmen. Es können ja auch nicht alle Absolventen zu einem Großkonzern gehen. Wer risikofreudig ist, der fühlt sich vielleicht bei einem kleineren Betrieb wohler. Kleine oder mittlere Unternehmen sind in den Universitäten jedoch häufig nicht präsent, während die großen kräftig die Werbetrommel rühren. Hier geht auch wieder mein Appell an die Professoren: Sagt euren Studenten, dass es noch etwas anderes gibt als Telekom, Siemens und IBM. Allerdings beobachtet man bei kleineren Firmen zunehmend die Tendenz, sich die Rekrutierung an der Uni oder FH zu sparen und Mitarbeiter ganz gezielt aus den Großunternehmen herauszukaufen.

NetworkWorld: Wie findet der Berufsanfänger heraus, ob er sich besser zum Spezialisten oder in Richtung Management entwickelt?

Christian: Genau an diesem Punkt setzt das VDE-Seminar an. Ich mache den Teilnehmern den Unterschied zum Beispiel anhand eines DIN-A-4-Blattes deutlich: Mit der schmalen Seite nach oben gehalten repräsentiert es das Wissensspektrum des Spezialisten. Er will sein Wissen in die Tiefe entwickeln. Waagerecht zeigt es das Spektrum des Managers, dessen Fähigkeiten in die Breite gehen. Das Integral, die Fläche des Blattes, bleibt aber dasselbe.

Für Berufsanfänger ist es nützlich, Fragebögen mit unternehmerischen Kriterien anzuschauen, wie sie in manchen Broschüren und Büchern zur Job-Beratung veröffentlicht werden. Wer sich mit ihnen wohlfühlt, der eignet sich fürs Management. Als Führungskraft sollte man hohe kommunikative Kompetenz haben, wobei ich allerdings der Meinung bin, dass die Notwendigkeit zur Kommunikation in den Spezialistenfächern Forschung und Entwicklung von den Absolventen massiv unterschätzt wird. Im Seminar sprechen wir auch über die Probleme des Managements zum Thema "Leitender/Leidender".

NetworkWorld: Warum ist das so ein Problem?

Christian: Viele Berufsanfänger wollen zunächst Führung gar nicht anstreben, nicht andere Menschen managen. Vielleicht ist das Thema durch die Erfahrungen in Schule und Elternhaus negativ besetzt. Im Grunde kann aber jeder Mensch führen wollen lernen, wenn er erst einmal Führungstechniken kennen gelernt hat.

NetworkWorld: Welche Strategie ist langfristig gesehen die bessere?

Christian: Das hängt vor allem von den eigenen Zielen ab. Wenn man das große Geld will oder sich später selbstständig machen möchte, ist natürlich eine Managementkarriere das Richtige. Wenn man fachlich tief bohren möchte, sollte man sich zum Spezialisten entwickeln. Allerdings läuft man Gefahr, rasch überflüssig zu werden. Die Veränderungsgeschwindigkeit hat sich drastisch erhöht. Man kann heute nicht mehr 20 Jahre lang Widerstände zersägen und messen. Viele junge Leute schließen von der Arbeit der Gegenwart auf die Tätigkeit in der Zukunft. Das ist ein fataler Fehler, denn notwendig sind große Flexibilität und lebenslanges Lernen.

NetworkWorld: Schon wieder bietet mir ein Startup 50 Prozent mehr Gehalt. Soll ich jedes verlockende Angebot annehmen?

Christian: Es ist sicher nicht sinnvoll, alle halbe Jahre den Arbeitgeber zu wechseln. Spätestens nach dem vierten oder fünften Jobhopping ist Schluss. Dann wird man von keiner Firma mit einigermaßen vernünftiger Personalpolitik mehr eingestellt.

NetworkWorld: In welchen Abständen kann ein Arbeitgeberwechsel hilfreich für die Karriere sein?

Christian: Alle zwei bis drei Jahre den Arbeitgeber zu wechseln ist sicher für beide Seiten in den ersten Jahren vernünftig. Die Firma hat wieder herausgeholt, was sie in den Mitarbeiter hineingesteckt hat und der Mitarbeiter hat genügend gelernt und Ausdauer bewiesen. Jetzt können beide etwas Neues ausprobieren. Man kann das zwei- bis dreimal machen, bis man eine Stelle beziehungsweise einen Arbeitgeber gefunden hat, der einem auch eine langfristige Perspektive bietet. Aufgrund der Bevölkerungsentwicklung wird sich allerdings der Trend zur beruflichen Veränderung verstärken. Es kann durchaus sein, dass sich in 20 Jahren auch ein 63-Jähriger noch ohne Probleme einen neuen Job suchen kann.

(www.vde.com, www.die-akademie.de)

NetworkWorld: Spielt das Angebot an Weiterbildungsmöglichkeiten eine Rolle bei der langfristigen Bindung von Arbeitnehmern?

Christian: Langfristige Firmenbindungen kommen zunehmend aus der Mode. Die Weiterbildung als "Goldene Uhr" für langjährige Betriebszugehörigkeit ist nicht in Ordnung. Entscheidend für eine Weiterbildungsmaßnahme ist einzig und allein der Bedarf des Einzelnen und der direkte Nutzen für die Firma, nicht die emotionale Bindung.

NetworkWorld: Wo kann sich der Berufsanfänger Hilfe holen?

Christian: Außer in Seminaren, wie sie zum Beispiel vom VDE angeboten werden, kommen auch Karriereberater infrage.

Ein Coach muss nicht extern sein, sondern kann aus der eigenen Firma kommen. Dieses System war früher sehr viel üblicher. Man nannte das einen "Paten". Viele erfolgreiche Manager wurden von Paten auf die richtige Schiene gesetzt. Mit seiner Erfahrung kann ein Pate bei wichtigen Entscheidungen helfen, zum Beispiel, wenn es um den richtigen Zeitpunkt einer Veränderung, einen Auslandsaufenthalt oder eine neue fachliche Ausrichtung geht. Ein Pate muss nicht unbedingt ein Vorgesetzter sein. Ebenso geeignet sind erfahrene gleich gestellte Mitarbeiter an anderem Ort oder auch jemand aus der Personalabteilung. Entscheidend ist, dass es sich um eine Vertrauensperson handelt.

NetworkWorld: Seminare und Karriereberater kosten Geld. Welchen Nutzen hat der Arbeitgeber, wenn er seinen jungen Mitarbeitern solche Hilfe spendiert?

Christian: Bei externen Karriereberatern entstehen die Kosten in der Regel dem Mitarbeiter selber. Im Gegenteil, er wird sich hüten, eine solche Beratung in der Firma bekannt zu machen. Bei den Gehaltssprüngen, die heute möglich sind, kann sich die Investition aber sehr schnell lohnen. Bezahlt eine Firma internes Coaching oder einen Seminarbesuch, so ist auch dieses Geld zur Weiterentwicklung des Mitarbeiters sehr gut angelegt.

NetworkWorld: Wie weit ist dieses Problembewusstsein bei den Firmen?

Chistian: Es ist unterentwickelt. Zwar gibt es Traineeprogramme, die in die richtige Richtung weisen, aber das Verständnis und Interesse der meisten Unternehmen geht über die bloße Vermittlung von Fachwissen und Führungstechniken nicht hinaus. Man stopft kurzfristig Löcher. Dabei sind die ersten Monate und Jahre im Betrieb so enorm wichtig. Um mit Konrad Lorenz zu sprechen: Die "Prägephase" wird vernachlässigt, was sich sehr schnell rächen kann, weil der Mitarbeiter nicht zu seiner besten Leistung aufläuft oder, zumindest innerlich, kündigt. Hier müssen Firmen viel tun, um auf einem boomenden IT-Markt Mitarbeiter zu halten.

Wenn man bedenkt, dass ein Mitarbeiterwechsel ein Unternehmen circa 200 000 Mark kostet, dann sind ein paar Tausend Mark für Coaching oder Seminare gut angelegt.