Die dicksten Dinger

31.03.1999
Extranets sind für die meisten Anwender Neuland. Deshalb befinden sich viele Projekte noch in der Testphase. Beispiele aus der Schiffahrt und der Flugzeugindustrie lassen jedoch bereits heute erkennen, welchen praktischen Nutzen Firmen und Behörden aus der Technik ziehen können.

Internet-Techniken werden nach Einschätzung fast aller Fachleute in den kommenden Jahren eine wichtige Rolle bei der Kommunikation zwischen Firmen oder Behörden und ihren Kunden beziehungsweise Partnern spielen. Beispiele aus der Praxis sind jedoch noch rar. Eine Vorreiterrolle haben Großfirmen aus der Automobil- und Luftfahrtindustrie sowie Forschungseinrichtungen übernommen.

Zur letztgenannten Kategorie zählt das EU-Forschungsprojekt "European Information Exchange Service for the Communication between Harbour Areas" (Eies), (http://www.isl.uni-bremen.de/Eies). Seine Mitarbeiter bearbeiteten

l die Definition von Informationssystemen für Unternehmen der Hafenwirtschaft, inklusive der erforderlichen Kommunikationslösungen,

l den Einsatz von Netzwerklösungen im LAN- und WAN-Bereich auf Basis von ATM, ISDN und nationalen ATM-Pilotprojekten,

l die Verknüpfung der überregionalen Lösungen mit den lokal verfügbaren Netzen und Anschlußknoten und

l die Implementierung einer Multimedia-Pilotanwendung zwischen den beteiligten Häfen Bordeaux, Bremen, Brest und Santander.

Eies sollte in Häfen neue Dienste bereitstellen und Standorte miteinander verbinden. Zu diesem Zweck wurden unterschiedliche Kommunikationssysteme zusammengefaßt. Die Grundlage bildeten Techniken wie Ethernet, ATM und ISDN. Die mobile Anbindung erfolgte über "Digital Short Range Radio" (DSRR) und Satelliten der Reihe "Inmarsat-B". Die Plattform basierte auf IP, um auch IP-Multicast für Videokonferenzen einsetzen zu können.

Folgende Applikationen standen zur Verfügung:

l Blue Pages, ein Pendant zu den "Gelben Seiten", mit Geschäftsinformationen von Unternehmen;

l Port Entry Guide (PEG), eine elektronische Variante der Hafenhandbücher, die einem Kapitän detailliert Informationen über den Hafen sowie temporäre Daten, etwa das Wetter, geben;

l Electronic Data Interchange (EDI): Austausch von Daten zwischen unterschiedlichen Standorten in verschiedenen elektronischen Formaten;

l Computer Supported Cooperative Work (CSCW): Zusammenarbeit mit Hilfe von Systemen, die Videokonferenzen und "Application Sharing" ermöglichen;

l WWW-Browser und E-Mail: Einsatz von Internet-Techniken, um die Kooperation zwischen den Häfen innerhalb eines virtuellen Netzes zu ermöglichen.

Den Blue Pages liegt eine SQL-Datenbank zugrunde. Die WWW-Seiten bestehen aus Elementen, die SQL-Angaben für entsprechende Abfragen erzeugen. Dadurch werden Papierformulare überflüssig. Als Ergänzung dient PEG, eine weitere Datenbank, die mit den Blue Pages verbunden ist. Sie enthält Informationen, die der Benutzer über Festnetze (ATM oder ISDN), Mobilfunk (DSRR) sowie Satellitenverbindungen abfragen kann, etwa elektronische Hafenhandbücher oder Daten über Wasserstände, freie Liegeplätze et cetera. Mit Hilfe einer grafischen Benutzeroberfläche kann der Anwender Abschnitte aus elektronischen Karten heranzoomen und Informationen abrufen.

Durch die Anbindung an das World Wide Web, Videokonferenzsysteme, "Application Sharing" und "Electronic Data Interchange" (EDI) wurde ein europaweites Extranet geschaffen, das die Kommunikation zwischen Häfen und Kunden ermöglicht. Weil es sich um ein Forschungsprojekt handelte, wurden jedoch nur wenige Sicherheitsmechanismen eingebaut. Diese müßten bei einer kommerziellen Nutzung nachträglich implementiert werden.

"Marvelous": Basis für den Aufbau virtueller Unternehmen

In einem ähnlichen Umfeld wie Eies ist "Marvelous" angesiedelt, ebenfalls ein EU-Forschungsprojekt. Es spezifiziert Prozeßketten für den Entwurf, die Fertigung, die Logistik und die Evaluierung im Schiffbau. Den Anstoß gab ein Konsortium europäischer Schiffswerften, zu dem Astilleros Españoles, Chantiers de l’Atlantique, Fincantieri, die Howaldtswerke Deutsche Werft AG und Odense Stahlschiffswerft gehörten. Zu diesem Verbund gesellten sich weitere Partner, etwa Forschungseinrichtungen und Beratungsunternehmen.

Im zweiten Schritt formierten sich Benutzergruppen, welche die Anforderungen an das System festlegten. Auf diese Weise entstand eine Extranet-Kooperationsplattform, die maßgeschneiderte Lösungen anbot. Im Verlauf des Projektes wurden folgende Kriterien herausgefiltert, die für "virtuelle Unternehmen" entscheidend sind:

l Unterstützung des Projektmanagements durch Software-Tools,

l kooperatives Arbeiten,

l Speichern und Verwalten von Dokumenten,

l Sicherheit (Zugriffssicherheit und Datenschutz),

l Vertraulichkeit sowie

l rechtsgültige Ein- und Ausgaben.

Die nächsten Phasen münden in neue Projekte, etwa "Seasprite". Auf Grundlage der Erfahrungen von Marvelous soll Seasprite eine interoperable elektronische Umgebung aufbauen, die Fachleuten an unterschiedlichen Standorten dabei hilft, neue Schiffstypen zu konstruieren sowie Wartungs- und Reparaturarbeiten durchzuführen. Bei "Edimar" dient dagegen EDI als Kommunikationsbasis. Im Extranet soll ein Workflow aufgesetzt werden, der den Informationsfluß zwischen den Mitgliedern der virtuellen Organisation sicherstellt.

"Spock": Kürzere Entwicklungszyklen im Flugzeugbau

Für den Einsatz von Extranets geradezu prädestiniert ist das Airbus-Konsortium. Seine Mitglieder stellen an mehreren Standorten in Europa Passagierflugzeuge her. Im nächsten Jahrzehnt soll bei der Daimler Chrysler Aerospace Airbus der neue "Airbus Jumbo" in Serie gehen, der 600 Passagiere aufnehmen kann.

Konstrukteure aus ganz Europa arbeiten an dem neuen Flugzeug, unterstützt von"Spock" (Schnelle Produktentwicklung durch optimierte computerbasierte Kommunikation, http://www.cebenetwork.de/referenzen/spock.html. Dank dieses Projektes sind die Ingenieure in der Lage, den neuen Airbus wesentlich schneller fertigzustellen. Die Kommunikation läuft über ATM oder ISDN. Dadurch lassen sich Arbeitsschritte zusammenfassen, die bis jetzt zeitlich und räumlich getrennt waren. So wurden die Eigenschaften eines neuen Flugzeugs zunächst am Computer simuliert. Dann folgte der Test des Modells im Windkanal und abschließend im Freiflug. Tauchten Fehler auf, mußte der gesamte Arbeitsprozeß wiederholt werden. Dank Spock kann der Experte nun jederzeit bereits erhobene Daten abrufen, etwa Informationen aus dem Windkanal in den Niederlanden.

Das Projekt kostete etwa zehn Millionen Mark und wurde von den Partnern, der Deutschen Telekom und dem Senator für Wirtschaft, Mittelstand, Technologie und Europaangelegenheiten des Landes Bremen getragen. Neben den Airbus-Konstrukteuren unterstützen Forschungseinrichtungen und Firmen den Versuch. So steuerte das Rechenzentrum der Universität Stuttgart die Software "Collaborative Visualization Environment" (Covise) bei. Sie ermöglicht es Anwendern an verschiedenen Standorten, Computerdaten zu verarbeiten.

"ANX": Bindeglied zwischen Automobilherstellern und Partnern

Als viertes Projekt soll die kommerzielle Umsetzung eines Extranets in der amerikanischen Automobilindustrie vorgestellt werden. Für die Kommunikation mit ihren Geschäftspartnern verwendeten die Unternehmen meist veraltete, proprietäre Protokolle. Deshalb empfahl die Automotive Industry Action Group (AIAG) im Jahr 1994 das Protokoll TCP/IP als Standard für den Transport elektronischer Daten. Im Jahr darauf akzeptierten Chrysler, Ford und General Motors den Vorschlag TCP/IP . Die "Implementation Task Force" (ITF) der AIAG entwickelte daraufhin das Konzept eines TCP/IP-Netzes für alle Handelspartner der Automobilindustrie - das "Automotive Network Exchange (ANX) Extranet" (http://www.aiag.org/anx). Dieses Netz ersetzt die komplexen und kostspieligen Standverbindungen zwischen den Automobilfirmen und ihren Partnern.

ANX wird von ausgewählten Internet-Service-Providern aufgebaut und verwaltet. Die Handelspartner sind über IPsec-Tunnel angebunden. Zusätzlich ist ein Zugang zum öffentlichen Internet vorhanden, der aber nicht die Kriterien des ANX-Netzes erfüllt.

Alle angebotenen Dienste müssen hohe Qualitätsstandards erfüllen, unter anderem in bezug auf Interoperabilität, Performance, Zuverlässigkeit und Sicherheit. Das "normale" Internet hat diesbezüglich Schwächen: Es bietet kein zentrales Management, die Fehlerbehandlung und Verwaltung ist komplex und zeitaufwendig, und die Leistungsfähigkeit läßt sich nicht voraussagen. Außerdem gibt es keinen ausgereiften Sicherheitsstandard für Virtual Private Networks (VPNs) und Extranets. Das ANX-Netz ist deshalb ein "kooperierendes Extranet" zum Internet, das eine Kooperationsplattform innerhalb des Internet bietet.

Projektergebnisse: Sicherheitsfunktionen ein Muß

Im Rahmen der vorgestellten EU-Projekte entstanden Extranets, die unterschiedliche Anforderungen erfüllen mußten, weil sie auf verschiedene Benutzergruppen zugeschnitten waren. Eies und Marvelous verbanden im maritimen Umfeld Hafenstandorte und Produktionsstätten miteinander und ermöglichten den Teilnehmern, zu interagieren. Spock schaffte dagegen eine High-end-Kooperationsplattform für die Entwicklung von Prototypen im Flugzeugbau. Die Automobilhersteller, die in erster Linie mit ihren Handelspartnern in Kontakt bleiben wollen, stellen wiederum spezielle Anforderungen an die Performance und Sicherheit.

Alle Projekte haben jedoch eines gemeinsam: Sie schufen eine Extranet-Umgebung, die eine Kooperationsplattform über das Internet oder Standleitungen bereitstellte, um Organisationsstrukturen schlanker zu gestalten beziehungsweise die Kommunikation zwischen externen Partnern zu ermöglichen.

Bei den Forschungsprojekten dominierten die Kooperationsmöglichkeiten, Dienste und Teilnehmeranforderungen. Aspekte wie Sicherheitsmechanismen, Verfügbarkeit, Management und Performance wurden vernachlässigt. Diese Punkte sind aber in kommerziellen Projekten extrem wichtig. Beim EU-Projekt Spock kam aus diesem Grunde ATM über Festverbindungen zum Einsatz. Das ANX-Extranet wiederum berücksichtigt nur ISPs, die in der Lage sind, IPsec-Tunnel aufzubauen. Bei Eies wurden die Multimedia-Anwendungen etwas zu früh in die Extranet-Umgebung eingeführt. Erfolgreich waren hier eher konventionelle Ansätze über EDI oder der globale Einsatz von Internet-Diensten. Es fehlten Sicherheitskonzepte, die allerdings auch nicht gefordert waren.

Marvelous sollte die Anwender auf neue Techniken und Anwendungen im Zusammenhang mit "virtuellen Unternehmen" vorbereiten. Allerdings war die Umsetzung mangelhaft. Spock wiederum führte Entwickler auf europäischer Ebene zusammen. Als Manko erwiesen sich fehlende ATM-Strecken sowie organisatorische Probleme. Ein Extranet auf Basis von ATM-Weitverkehrsverbindungenn kommt zudem nur für Großunternehmen in Frage.

ANX ist der erste kommerzielle Ansatz, der IPsec in ein Extranet integriert und Kunden beziehungsweise Zulieferer mit einbezieht. Die IPsec-Spezifikationen sollten künftig als Plattform für den Aufbau eines Extranets angesehen werden, die unbedingt in solche Kooperationsplattformen integriert werden müssen. Dabei ist neben der Performance auch auf das Management einer solchen Lösung zu achten.

Welche Produkte zur Verfügung stehen, mit denen sich ein Extranet aufbauen läßt, erläutert der letzten Teil der Artikelserie. (re)