Der Teufel steckt im Detail

16.06.2000
Beim Einsatz von Abrechnungs- und Kundenmanagement-Systemen müssen TK-Anbieter und Internet-Serviceprovider heute eine Vielzahl von Faktoren berücksichtigen. Der zweite Teil dieses Beitrags behandelt die Auswahl, die technische Implementierung und die organisatorische Einführung.

Von: Ralf Müller

Ist das Projektziel definiert, die Vorgehensweise festgelegt und das Konzept erstellt, steht als nächster Schritt die Auswahl des geeigneten Billing-Systems an. Hierzu erstellen die Mitarbeiter aus dem abgestimmten Betriebskonzept das Anforderungsprofil und eine Compliance-Matrix. Diese wird im Ausschreibungsverfahren potenziellen Lieferanten von Billing-Systemen zugestellt. Um konkrete Angebote zu erhalten, ist den Lieferanten gleich zu Beginn der Ausschreibung deutlich zu machen, dass der Inhalt des Angebots und der beantworteten Compliance-Matrix Grundlage des abzuschließenden Kaufvertrages wird und später abnahmerelevant ist.

In der Ausschreibung sollten unbedingt die folgenden Punkte abgefragt werden:

Allgemeine Daten zum Unternehmen des Lieferanten: Hinterfragen Sie besonders Referenzinstallationen, die Größe und Qualität des Serviceteams und die Qualität der Projektleitung. Besonders wichtig ist hier die Flexibilität und Bereitschaft, in kurzer Zeit neue Produkt, Tarif- und Service-Ideen im Billing-System stabil abzubilden ("Time to Market"). Viele Unternehmen in der Telekommunikationsbranche und bei den Internet-Serviceprovidern wollen permanent neue Produkte und Services einführen, ohne dass bereits bei der Auswahl des Billing-Systems im Detail feststeht, was wie auf den Markt gebracht werden soll. Das System muss es dem Anwender erlauben, einzelne Produkte und Services nacheinander einzuführen.

Allgemeine Daten zum System: Wichtig ist hier die Systemarchitektur, ob das System homogen entwickelt wurde oder einzelne Module hinzugekauft und integriert wurden:

-Skalierbarkeit: Inwieweit ist ein Customizing möglich? Kann das System mit vertretbarem Aufwand an die eigenen Unternehmensprozesse angepasst werden oder muss sich das Unternehmen den Systemprozessen unterwerfen?

-Modularität: Verfügt das Billing-System über Funktionsmodule für Tarife oder Rabatte, die sich beliebig zur Umsetzung von Produkten kombinieren lassen?

-Achtung bei Systemen, die keine multidimensionale Struktur aufweisen und die keine Kombinationen über Vektorstrukturen vornehmen. Die Pflege und das Handling werden immer schwieriger, je mehr Produkte und Tarife es gibt. Produkt-Bundles können dann ein unlösbares Problem werden. Fest programmierte Komponenten sind hier zu unflexibel.

-Schnittstellen zu Finance-Systemen, Informationssystemen, Netzwerken und Switches, Mediation-Device.

-Kundenorientierung: Steht der Kunde oder das Produkt im Mittelpunkt der Architektur? Im ersten Fall lässt sich eine Segmentierung der Kunden und seinen gegebenenfalls individuell bereitgestellten Lösungen einfacher abbilden.

-Datenbanksystem und Funktionsweise (relational, mutidimensional, objektorientiert et cetera).

-Die Abbildung der Vertrags-, Produkt-, Tarif- und Servicestrukturen muss so einfach sein, dass die Fachabteilung mittels einer GUI-Oberfläche die Komponenten der jeweiligen Produkte und Services individuell konfigurieren kann.

-Welche Performance des Systems benötigt wird, ist abhängig von der Anzahl der Rechnungen, die im Monat erstellt werden müssen.

-Dokumentation (ein ganz wichtiger Punkt): Ist keine aktuelle Dokumentation verfügbar, darf man an einem ordentlichen Projektmanagement der Softwareentwicklung zweifeln. Meistens sind dann keine homogenen Kenntnisse über das eigene System beim Lieferanten vorhanden. Besonders in der Phase der Implementierung beim notwendigen Customizing des Produktes kann das sehr hinderlich sein. Die Implementierungsmannschaft ist hier dann einfach nicht flexibel genug, auf die Wünsche des Kunden einzugehen.

Migration: Falls es bereits ein Billing-System im Unternehmen gibt, das abgelöst werden soll, ist auch die Migration der vorhandenen Daten eine Anforderung an das neue Billing-System. Entsprechende Lösungen müssen dann vom Lieferanten des neuen Billing-Systems angeboten werden.

Abbildung der Produkte und Services: Fragen Sie neben den Standardtelefonprodukten und -services auch danach, ob und wie Internet-Produkte und Produkt-Bundles Postpaid und Prepaid abgerechnet werden können. Bei Carriern werden Grundgebühren für die einzelnen Produkte und Dienste berechnet. So ist es besonders wichtig, wann und zu welchem Zeitpunkt ein Wechsel von einem zum anderen Produkt und von einem zum anderen Dienst stattfinden kann. Hier darf kein Bruch entstehen und muss taggenau abgerechnet werden können, auch wenn der Wechsel erst Tage nach der eigentlichen Bereitstellung im System aufgenommen wird. Umzüge der Kunden im Lizenzgebiet sind ähnlich komplex für das Billing-System.

Neue Internet-Dienste: Im Bereich der Internet-Dienste werden die neuen Datendienste anhand von Parametern berechnet, die sich von denen traditioneller Telefonie unterscheiden. Prüfen Sie, inwieweit das Billing-System für die neuen Abrechnungsmodi offen ist und ob es neue Dienste wie WAP abrechnen kann.

Abbildung der Tarife: Können neben den normalen Telefon- und Mobilfunkverbräuchen auch volumenorientierte Verbräuche abgerechnet werden? Denkbar ist zum Beispiel, dass sich der Tarif abhängig vom Volumen gleitend ändert. Viele Billing-Systeme versagen hier. Auch das IP-Billing, das nur das transportierte Datenvolumen und die benutzte Bandbreite abrechnet, ist eine harte Nuss, die die meisten - auch große und namhafte Lieferanten - bis heute nicht realisieren konnten.

Reporting des Billing-Systems: (Umsätze je Kunde, Kundengruppe, Region, Key-Accounter, Provisionsliste, Boniliste et cetera): Besonders wichtig sind hier die Schnittstellen zur Kundendatenbank und den Managementinformationssystemen. Für die Erfolgskontrolle bestehender Produkte und Services und fundierter Weiterentwicklungen ist ein differenziertes Reporting ein Muss.

Rating: Abrechnen von Starttakten, um 0,00-Mark-Gespräche zu vermeiden, Hotbilling, erneutes Durchführen des Ratings

Rechnungsstellung: Besonders wichtig ist hier die Abrechnung auch nicht zusammenhängender Rufnummernblöcke, Zuordnung verschiedener Leistungen zu einer Telefonnummer, Abrechnung nach Kundenhierarchien, verschiedene Rechnungszyklen und Rechnungsläufe je Kundengruppe und anderer Kriterien (Segmentierung der Billingläufe, nicht nur nach Kundengruppen), wobei auch der Wechsel einzelner Kunden zwischen diesen Zyklen und Läufen einfach möglich sein muss. Die Durchführung von Rechnungstestläufen, Verifikation der Rechnung und Daten-Review vor der endgültigen Rechnungsproduktion ist besonders nach Tarifwechseln beziehungsweise der Einführung neuer Produkte und Services wichtig. Je nach den Diensten muss zwischen tagesbezogener Abrechnung und monatsbezogener Abrechnung unterschieden werden. Solange eine Periode noch nicht abgerechnet wurde, muss es möglich sein, rück-wirkende Veränderungen der Vertragsbedingungen mit den Kunden nachträglich einzupflegen.

Rabattierung

Rechnungslayout: Da jedes Unternehmen sein eigenes Rechnungslayout hat, empfiehlt es sich hier, den Ausschreibungsunterlagen einen Layoutentwurf beizulegen. Besonders wichtig ist es, ob alle Dienste auf einer Rechnung erscheinen können, wie Produkt-Bundles abgebildet werden und welche Formate der Rechnungen von Papier über Edifact und andere elektronische Formate möglich sind.

Fulfillment und Rechnungsversand

Zahlungen und Kundenbuchhaltung: Lastschriftverfahren, Barbezahlung, Kreditkarten et cetera, Unterstützung von EDI mit den Banken, Debitorenverwaltung, Forderungsmanagement und Schnittstellen zum Fibu-System.

Schnittstelle zum Kundenservice: Imaging der Rechnungen, Archivierung, Rechnungskorrekturen et cetera.

Intercarrier-Billing: Abrechnung der Interconnection mit der Telekom und anderen Carriern aus denselben Rating-Daten, wie für das Rating der Kunden.

Kauf-, Leasing-, Outsourcing- und Servicevertrag: Welche Optionen enthalten mögliche Konstrukte der Zusammenarbeit? Welche Service-Level-Agreements können geschlossen werden? Hat die Analyse ergeben, dass nicht nur ein Billing-System sondern ein CustomerCare-&-Billing-System ausgeschrieben werden soll, kommen zu den oben genannten Punkten noch die Anforderungen an ein Customer-Care-System hinzu.

Das aktive Projektteam umfasst in dieser Phase den Projektleiter, den Leiter der zukünftigen Billing-Abteilung und Kollegen aus den Abteilungen IT und Qualitätsmanagement. Die Ergebnisse der Ausschreibung und die Empfehlung für ein bestimmtes System wird dem Lenkungsausschuß präsentiert und mit diesem abgestimmt.

Nach der Auswahl eines Billing-Systems werden mit dem Lieferanten die vertraglichen Regelungen getroffen und der Lenkungsausschuß wird durch einen Entscheider des Lieferanten erweitert. Für die technische Implementierung besteht das Projektteam neben dem Projektleiter idealerweise aus dem Leiter der zukünftigen Billing-Abteilung. Des weiteren sind in diesem Team seitens des Unternehmens Kollegen aus der IT-Abteilung und seitens des Lieferanten ein Implementierungsteam. Hierbei arbeiten der Projektleiter des Unternehmens und der des Lieferanten eng zusammen und erstellen nach den klassischen Regeln des Projektmanagements eine Planung mit entsprechenden Meilensteinen, deren Inhalt und Aufwand.

Der erste Schritt der Implementierung ist die Erstellung eines Pflichtenheftes aus dem Anforderungsprofil und der beantworteten Compliance-Matrix durch die beiden Projektgruppen. Es muss unbedingt darauf geachtet werden, dass bei der Einführung eines so unternehmenskritischen Systems kein Prototyping - egal welcher Art - durchgeführt wird.

Oftmals versucht der Lieferant, die aufwendige und bindende Erstellung eines Pflichtenhefts zu vermeiden. Die Erfahrung lehrt: Verzichtet man auf das Pflichtenheft, trägt das Projekt während der ganzen Implementierungsphase und auch noch nach der Abnahme durch unterschiedliche nicht dokumentierte Auffassungen ein hohes Fehlerrisiko und es entstehen höhere Kosten als geplant. Während der Implementierung müssen auf Basis des Pflichtenheftes alle Module, Teilsysteme und Schnittstellen umfangreichen Tests unterzogen werden. Die Abnahme erfolgt dann für jedes Modul, Teilsystem und je Schnittstelle, dokumentiert durch Abnahmeprotokolle.

Ein guter Projektleiter plant natürlich Fall-Back-Lösungen für den Fall, dass das Billing-System nicht die versprochenen und angebotenen Leistungen zum vorgegebenen Termin erfüllt.

Organisatorische Einführung

Parallel zur technischen Einführung verläuft die organisatorische Einführung. Hier besteht das Projektteam neben dem Projektleiter aus dem Leiter der zukünftigen Billing-Abteilung und Kollegen aus der Qualitätsabteilung und dem Customer Care.

Das Team richtet jetzt entsprechend dem Billing-Betriebskonzept die bestehenden Prozesse auf den Billing-Prozess aus und führt alle Prozessveränderungen in den CRM-Prozessen der Organisation durch. Das Team passt die internen Organisationsstrukturen an und sorgt für das Training der Mitarbeiter im Unternehmen. Abschließend werden die Änderungen in das Qualitätsmanagement integriert und die betroffenen Betriebshandbücher aktualisiert.

Die Durchführung der Prozessänderungen und Schulungen betrifft sehr viele Mitarbeiter aus den verschiedensten Abteilungen und Bereichen im Unternehmen. So ist auch hier nach den klassischen Regeln des Projektmanagements zu arbeiten.

Bei der Auswahl und Implementierung eines Billing-Systems steckt oft der Teufel im Detail. Die Fallen können meistens nur jene erkennen, die schon umfangreiche Projekterfahrung haben. Die Dauer eines Projektes zur Einführung eines Billing-Systems ist abhängig von den Rahmenbedingungen und den Voraussetzungen. Bis zur operativen Betriebsaufnahme sind bei einer straffen Projektführung drei bis sechs Monate anzusetzen. (cep)

Zur Person

Ralf Müller

hat Physik, Angewandte Informatik und Mathematik studiert und Informatik mit Diplom abgeschlossen. Er ist Vorstand der Cure AG für Customer Management.