Wir stehen erst am Anfang der Evolution. Einer Evolution des Verhältnisses von Unternehmen zu und mit ihren Kunden. Wohin die Reise geht, darüber rätselt die Wissenschaft. Um die Beziehungen zu durchleuchten, die Unternehmen mit ihren Kunden in Zeiten von Facebook, Xing, Twitter etc. eingehen, haben drei Forschungsinstitute Entscheider in Firmen aus Deutschland, der Schweiz, Österreich und Liechtenstein befragt. Herausgekommen ist die Untersuchung "Social Media Marketing in KMU" der Universität Liechtenstein, der Wirtschaftsuniversität Wien und des Menlo College (USA) für das Jahr 2013. Obwohl auch Großunternehmen untersucht wurden, lag der Fokus, wie schon der Studientitel ausdrückt, eher auf kleinen und mittelständischen Unternehmen (KMU)
Die Ergebnisse zeigen, wie ambivalent die Haltung der Firmen zur neuen Welt der sozialen Medien noch ist. Sie vermitteln auch einen Eindruck, welche Chancen Unternehmen vergeben, die diesen Informations- und Kommunikationskanal nicht in geeigneter Weise für ihr Geschäftsmodell zu nutzen wissen, indem sie Kunden in ihre Entscheidungsprozesse einbinden.
An der Befragung beteiligt waren branchenübergreifend 411 Unternehmen aus Kleinbetrieben in Deutschland, Österreich, der Schweiz und Liechtenstein. Von diesen nutzen 62 Prozent in irgendeiner Form soziale Netze zur Unterstützung der Unternehmens- und Markenstrategie. Drei von zehn Unternehmen sind abstinent, acht Prozent untersuchen noch die Chancen sozialer Medien für ihr Geschäftsmodell und wollen hier innerhalb der nächsten zwei Jahre aktiv werden.
Eklatant ist der Unterschied zwischen Großunternehmen und kleinen Betrieben. KMU sind wesentlich zögerlicher, sich des Themas sozialer Netze anzunehmen. Für die Volkswirtschaft insbesondere in Deutschland könnte das Auswirkungen haben: Nach Angaben des Instituts für Mittelstandsforschung in Bonn sind von 3,72 Millionen Unternehmen in Deutschland 99,6 Prozent dem KMU-Segment zuzuordnen. Der Mittelstand ist bekanntlich das Rückgrat der deutschen Wirtschaft. Wenn er sich technologischen Trends verschließt, könnte das negative Folgen haben.
Wer sich in einem sozialen Netzwerk engagiert, wählt in den meisten Fällen Facebook. 77 Prozent aller aktiven Unternehmen sind dort präsent. Es folgen Xing und - mit einigem Abstand - Twitter, Google+ und LinkedIn.
Für das Verhältnis zwischen Unternehmen und Kunden ist eine weitere Erkenntnis der Analyse von Bedeutung: Unternehmen, die ihre Produkte an Endkunden verkaufen (B2C), sind deutlich stärker auf Facebook aktiv (94 Prozent). Demgegenüber verkehren Unternehmen, die ihre Produkte an andere Unternehmen vertreiben (B2B), vorzugsweise in dem Business-Netzwerk Xing (79 Prozent). Die analogen Zahlen für Twitter liegen weit unter diesen Angaben. Sie stellen aber mit 30 respektive 41 Prozent einen ebenfalls nicht zu vernachlässigenden Wert dar.
Aus den Angeln gehoben
Die wissenschaftliche Untersuchung zeigt, wie relevant soziale Netze für das Verhältnis von Unternehmen zu Kunden geworden sind. Sie wird in ihrer Aussage bestätigt durch eine Studie des Marktforschungsinstituts Gartner. Dessen Analystenpool ist zwar nicht gerade als Brutstätte des Kampfes gegen das kapitalistische Wirtschaftssystem verdächtig. Trotzdem haben vier Gartner-Analysten mit dem Maverick-Report eine Untersuchung auf den Markt gebracht, deren Titel es in sich hatte: "Kapitalismus geht Richtung Social. Oder: Wie Technik die 99 Prozent befähigt, ihr Geschäft für immer zu verändern."
Mit dieser Titelgebung treffen die Maverick-Autoren manche konservativen Unternehmen ins Mark. Die Kunden sind es, die immer stärker Pläne, Entwicklungen und Entscheidungen von Unternehmen beeinflussen werden. Klare Ansage der Analysten: "Der Kapitalismus unterliegt wesentlichen Veränderungen. CIOs und Topmanagement müssen verstehen, wie eine neue Generation von sozialen Kapitalisten Technik nutzen wird, um heute noch funktionierende Geschäftsmodelle aus den Angeln zu heben."
Das ist starker Tobak - vor allem deshalb, weil die wissenschaftliche Untersuchung bei den Kleinbetrieben zeigt, dass heute nur große Konzerne damit begonnen haben, den digitalen Schatz zu heben. "Die positive Hebelwirkung auf den Unternehmenserfolg durch den Einsatz von Social Media gilt aktuell nur für Großunternehmen", sagt die Studie der Forschungsinstitute. Angesichts der Tatsache, dass 99,6 Prozent aller deutschen Unternehmen dem KMU-Segment zuzuordnen sind, heißt das wohl: Hier wird ein Trend verschlafen!
Kaum Ahnung vom Social Web
Noch problematischer sind die Gründe, warum sich Kleinbetriebe den sozialen Medien verweigern. Mitarbeiter seien mit sozialen Netzen nicht vertraut, der Zeitaufwand sei groß und der Nutzen unklar. Die Studienautoren empfehlen dagegen eindeutig: Die unternehmerische Haltung in Sachen Nutzung sozialer Medien muss proaktiv, risikobereit und innovativ werden.
Wie wenig zielgerichtet soziale Medien genutzt werden und wie marginal auch die Strategien sind, ihre Inhalte für den Geschäftserfolg gezielt auszuwerten, zeigt die Studie ebenfalls.
Knapp zwei Drittel aller Unternehmen, die soziale Netzwerke nutzen, hätten kein Controlling-System, das den Erfolg der Unternehmen in sozialen Netzwerken misst. "Damit verpassen diese Unternehmen die Chance, ihre Aktivitäten auf Basis einer regelmäßigen Überprüfung zu verbessern", mahnen die Wissenschaftler. Aber auch das Drittel der Unternehmen, das die Aktivitäten in sozialen Netzwerken fortlaufend überprüft, kommt im Urteil nicht viel besser davon: Sie nämlich würden "vorwiegend die Anzahl der Klicks auf ihren Seiten, die erhaltenen Freundschaftsanfragen sowie die Anzahl der Nutzerkommentare" messen. Nur wenige würden sich die Mühe machen, genau zwischen positiven und negativen Kommentaren zu unterscheiden. Damit vergeben sie die Chance der "qualitativen beziehungsweise inhaltlichen Überprüfung des Kunden-Feedbacks".
Der Kunde entwickelt mit
All diese Erkenntnisse sind erstaunlich vor dem Hintergrund anderer Ergebnisse, die die Gemeinschaftsstudie herausfilterte: Gefragt, wozu sich soziale Netzwerke eignen, vertritt eine Mehrheit (70 Prozent) der teilnehmenden Entscheidungsträger die Meinung, dass "soziale Netzwerke sich zur Identifikation neuer Produkt- und Dienstleistungsideen durch die Kommunikation mit externen Personen eignen". 63 Prozent, also fast zwei Drittel, sind der Ansicht, mit sozialen Netzwerken sei es möglich, "neue Produkte und Dienstleistungen schneller in den Markt einzuführen". Auch "die Diskussion und Bewertung neuer Produkte und Dienstleistungen" erkennen die Verantwortlichen weit überwiegend (74 Prozent) als Chance, wie neue Kommunikationskanäle ausgeschlachtet werden können (siehe Grafik Seite 18: "Wofür eignen sich ..."). Adidas beispielsweise nutzt das Feedback aus dem Social Web längst für die Einführung neuer Produkte.
Innovative Ideen freigesetzt
Obwohl also die entscheidenden Personen in den Unternehmen sagen, dass die Einbeziehung von Kundenideen und -meinungen aus sozialen Netzen innovative Kräfte freisetzt, spielen sie diese Karte in den meisten Fällen nicht aus. Stattdessen denken sie das Social Web wie ein klassisches Push-Medium. So wollen 92 Prozent der Befragten durch soziale Netze in erster Linie den Bekanntheitsgrad ihres Unternehmens steigern. Die Analysten interpretieren den Wert so, dass die Befragten damit schon "ihr vorrangiges Ziel für die Nutzung sozialer Netzwerke zu erreichen glauben".
Mehr aber auch nicht, möchte man hinzufügen. Die Möglichkeit, mit Hilfe der sozialen Kommunikationsplattformen die eigenen Produkte und Geschäftsprozesse durch konstruktives Feedback zu verbessern, scheint den Studienteilnehmern noch fremd.
Sehr ambivalent sind die Einstellungen der Entscheider, wenn es um Imagefragen geht. Einerseits glaubt zwar nur knapp die Hälfte der Befragten (48 Prozent), dass sie mit Hilfe sozialer Netzwerke das Image ihres Unternehmens verbessern können. Andererseits aber befürchten - nicht zu Unrecht - fast zwei Drittel (72 Prozent), dass negative Kommentare über das eigene Unternehmen in öffentlichen Foren große Imageschäden anrichten können.
Mund zu Mund war gestern
Eine vom Marktforschungsunternehmens IDC gemeinsam mit Questback erarbeitete Studie macht klar, in welcher Zwickmühle Unternehmen heute noch beim Umgang mit sozialen Medien stecken. Chief Marketing Officers (CMOs) wurden zu den großen Herausforderungen befragt, die sie beim Umgang mit den Internet-Kommunikationskanälen zu gewärtigen hätten. Die Ergebnisse bestätigen die Untersuchung der drei Forschungsinstitute.
Claudine Petit, Head of Marketing Central Europe bei Questback, formuliert es so: "Die Kunden von heute sind emanzipierter, mobiler und aktiver. Sie erwarten mehr und sind durch das Internet bestens informiert." Die Kunden suchten selbständig nach Produkten und Dienstleistungen, die ihren Bedarf stillten. Das geschehe schon "lange, bevor Unternehmen diese Nachfrage kennen und das entsprechende Angebot zur Verfügung stellen können".
Ziel der Unternehmen muss es sein, dieses Verhältnis umzudrehen. Sie sollten anstreben, die Bedürfnisse der Kunden zu erkennen, noch bevor sich diese ihrer Wünsche bewusst werden. Noch ist das überwiegend Theorie - allerdings wird sie in Teilen heute schon in die Praxis umgesetzt. Das Social Web ist das Instrument, dass dabei entscheidend helfen kann.
Der entscheidende Faktor, der sich im Kräfteverhältnis zwischen Unternehmen und Kunden geändert hat, ist laut Petit die Reichweite, die Kundenäußerungen heute erzielen. Meinungen, die sie über Produkte und Unternehmen abgeben, können im Extremfall blitzschnell ein Millionenpublikum erreichen - zumindest theoretisch.
Good news, bad news
Wo früher über Mundpropaganda mehr oder weniger mühselig eine Botschaft an ein auf den Bekanntenkreis begrenztes Umfeld übermittelt werden konnte, kann sich der Konsument heute in Sekundenschnelle weltweit Gehör verschaffen. "Ein gutes oder schlechtes Erlebnis wird schnell über Facebook, Twitter, Blogs etc. in der Welt verbreitet", sagt Petit. Das sei Segen und Fluch zugleich.
Unternehmen bekämen zwar durch Social-Media-Monitoring schneller Feedback von ihren Kunden: "Aber dieses Feedback der Kunden erreicht auch direkt den Rest der Welt." Die Tatsache, dass sie den Informationsfluss kaum oder nur mit großem Aufwand halbwegs kontrollieren können, beunruhigt die meisten Unternehmen, wie die KMU-Untersuchung belegt.
Die Gretchenfrage ist nun, wie Firmen "von der Schnelligkeit und dem Mitteilungsbedürfnis ihrer Kunden profitieren und dieses wichtige Feedback für sich nutzen können". Die Antwort, so Marketing-Expertin Petit, liege eigentlich nahe: Die Betriebe müssten beginnen, systematisch "Realtime-Feedback-Kanäle zwischen Kunden und Unternehmen zu etablieren und dieses Feedback zu konsolidieren, auszuwerten und zu managen". Genau das aber geschieht im deutschen Mittelstand bis heute kaum.