Die Auswirkungen von Industrie 4.0

Der IT-Arbeitsmarkt 2025

17.12.2015 von Werner Kurzlechner
Boston Consulting zufolge entstehen bis 2025 Netto etwa 350.000 zusätzliche Jobs, darunter Roboterkoordinatoren und industrielle Data Scientists.

Müssen sich IT-Leute von ihren Kollegen im Unternehmen als Jobkiller beäugen lassen? Der Gedanke liegt ja durchaus nahe, gerade in Deutschland mit seinem traditionell starken industriellen Sektor und angesichts des Aufbruchs in Richtung Industrie 4.0. Mit IT-Know-how werden beispielsweise die Roboter der jüngsten Generation ertüftelt, die selbstverständlich Rationalisierungszielen dienen. Auch Jobs innerhalb der IT stehen dabei auf der Kippe.

Ob Industrie 4.0 Jobs schafft oder welche kostet, hängt laut BCG vom zusätzlichen Umsatzwachstum und von der Adaptionsrate ab. Nur zwei von neun Szenarien sind negativ.
Foto: BCG

Die Boston Consulting Group (BCG) analysiert die zu erwartende Entwicklung in einem Artikel von BCG Perspectives. Wie wird die Technologie die industrielle Belegschaft bis 2025 verändern, lautet die Leitfrage des Autorenquintetts Markus Lorenz, Michael Rüßmann, Rainer Strack, Knud Lasse Lueth und Moritz Bolle.

Stellen im Support fallen weg

Auf der allgemeinen Ebene ist das Problem bereits thematisiert worden. "Der neue Jobkiller in der IT-Branche?", fragte beispielsweise vor einigen Monaten die Computerwoche in einem Artikel über Robotic Process Automation (RPA). "Ich gehe davon aus, dass in den kommenden drei Jahren die meisten Jobs im Support der IT-Infrastruktur wegfallen werden", prognostiziert darin Frank Casale, Outsourcing-Experte und Gründer des Institute for Robotic Process Automation (IRPA). "Ich habe bereits Fälle gesehen, in denen 60 Prozent des Supports von RPA übernommen wurden." Dafür winkten neue Arbeitsplätze etwa in der Implementierung und Verwaltung von RPA-Tools.

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10 Use Cases, 23 Branchen

BCG nimmt das Thema nun umfassender und zugleich fokussierter unter die Lupe. Betrachtet wird - die deutschsprachigen Autorennamen legen es nahe - speziell die Lage im Industrieland Bundesrepublik, und zwar jene in 23 industriellen Branchen. Und es geht um die Auswirkungen von zehn konkret definierten Anwendungsfällen, die mit dem Begriff Industrie 4.0 verbunden sind: von Big Data getriebene Qualitätskontrolle; von Robotern assistierte Produktion; selbstfahrende Logistikfahrzeuge; Produktionsliniensimulation; Smart Supply-Netzwerke; vorausschauende Wartung; Machines as a Service; selbstorganisierte Produktion; additive Fertigung komplexer Teile; Augmented Work, Maintenance & Service.

Dass dieses Bündel an sich entwickelnden Use Cases Jobs kosten wird, ist evident. Wenn Gabelstapler von selber fahren können, sitzt eben nicht immer einer drin. Interessant ist jedoch, wie viele neue Jobs in dieser neuen Arbeitswelt entstehen. BCG geht davon aus, dass es mehr sein werden als verloren gehen.

Industrie 4.0 soll mehr neue Jobs schaffen

"Die Anpassung an Industrie 4.0 wird Herstellern die Schaffung neuer Jobs erlauben, um der aus dem Wachstum bestehender Märkte und der Einführung neuer Produkte und Dienstleistungen resultierenden größeren Nachfrage gerecht zu werden", heißt es in der Analyse. "Dieses erfreuliche Szenario kontrastiert mit vergangenen Epochen technologischen Fortschritts, in denen die Zahl an industriellen Arbeitsplätzen trotz einer Steigerung des Produktionsausstoßes gesunken ist." In den deutschen Belegschaften hätten beispielsweise Automatisierung und Offshoring alleine zwischen 1997 und 2013 18 Prozent der Jobs gekostet.

In naher Zukunft soll sich die Lage nun positiver entwickeln. BCG hat auch ausgerechnet wie. Da es aber um Zahlen der Zukunft geht, basieren solche Rechnungen per se auf Annahmen. Die Analysten haben neun Szenarien durchgespielt. Im schlimmsten Fall, nämlich bei sehr rasanter Umsetzung von Industrie 4.0 und flauem zusätzlichen Umsatzwachstum von 0,5 Prozent im jährlichen Durchschnitt, gehen netto doch Jobs verloren - exakt 180.000. Das ist eines von lediglich zwei negativen Szenarien; im Optimalfall könnten satte 950.000 neue Jobs entstehen.

Ein Nettoplus von 350.000 Arbeitsplätzen

Am wahrscheinlichsten erscheint den Autoren aber ein in der Mitte liegendes Szenario: Mithilfe von Industrie 4.0 generieren die Unternehmen künftig 1 Prozent an zusätzlichem Umsatzwachstum im Jahr, die Adaptionsrate der genannten zehn Anwendungsfälle liegt bei 50 Prozent. Trifft das so ein, gibt es laut BCG ein Nettoplus an rund 350.000 Arbeitsplätzen. Das wäre ein Zuwachs von 5 Prozent, denn momentan beschäftigten die untersuchten 23 Branchen insgesamt 7 Millionen Menschen.

Der wachsende Einsatz von Robotics und Computerisierung sorgt in diesem Szenario demnach für den Verlust von rund 610.000 Jobs in Produktion und Montage. Überkompensiert wird dieser Effekt durch 960.000 neue Jobs. 760.000 dieser hinzukommenden Stellen sind dem zu Grunde gelegten Umsatzwachstum zu verdanken, der Rest entfällt auf hochqualifizierte Aufgaben in IT, Forschung & Entwicklung und Analyse.

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Stellenverdopplung für die IT

Im Bereich IT und Datenintegration ist nach BCG-Einschätzung in etwa mit einer Verdopplung der bisherigen Stellenzahl zu rechnen. Konkret sei das größte Wachstum bei industriellen Data Scientists mit voraussichtlich 70.000 neuen Stellen zu erwarten. Zunehmen werde auch der Bedarf an IT Solution-Architekten und User Interface-Designern. Je mehr Roboter eingesetzt werden, desto größer werde auch die Nachfrage nach einer gänzlich neuen Rolle: Roboter-Koordinatoren. Schätzungsweise 40.000 davon werden laut Analyse in Bälde gebraucht.

Jenseits der genannten Spezialkräfte erwartet Boston Consulting 70.000 neue Jobs in der Wachstumsbranche intelligenter Maschinenbau. Zu begrenzen seien demgegenüber die Hoffnungen auf zusätzliche Arbeitsplätze in der Automobilindustrie und in der Metallbranche.

Neben dieser quantitativen Prognosen beschreiben die Analysten auch einen qualitativen Wandel: die zu erwartende Veränderung des Charakters von Arbeit im Zeitalter der Industrie 4.0. BCG macht das an drei konkreten Beispielen fest:

1. Fließbandarbeiter

Fließbandarbeiter in der Automobilindustrie zum Beispiel werden künftig von schweren Hubarbeiten entlastet, weil Roboter ihnen diese Lasten abnehmen

2. Maschinenführer

Maschinenführer überwachen demnächst vor allem Monitor-Displays - Performance- und Qualitätskontrollen, die von automatisierten Systemen bereitgestellt werden. Anders als bisher werden diese Mitarbeiter versiert im Umgang mit digitalen Geräten und mit Software sein müssen.

3. Mobile Service-Techniker

Besonders signifikant erscheinen die Veränderungen der Tätigkeit von mobilen Service-Technikern. Bislang werden sie gerufen, wenn es etwas zu reparieren gibt - mit der Nebenwirkung, dass ein guter Teil ihres Arbeitstages auf der Straße stattfindet, auf dem Weg von einem Termin zum nächsten. "Industrie 4.0 wird durch Technologie unterstützte, vorausschauende Wartung erlauben", heißt es in der BCG-Analyse. Die Techniker werden demnach schon bald Echtzeitdaten überwachen, um Defekte proaktiv zu identifizieren. Möglich wird so die passgenaue Bereitstellung von Ersatzteilen, mit denen es dann zum Einsatz vor Ort geht - Bündelung der Aktivitäten inklusive. Bei den Reparaturarbeiten gibt es Unterstützung durch Augmented Reality-Technologie, die Dokumentation der Arbeit erfolgt automatisch.

Mitarbeiter müssen offen für Veränderungen sein

Um den prognostizierten Wandel zu bewältigen, sind nach Ansicht der Autoren Veränderungen in den Unternehmen ebenso nötig wie im Bildungssystem und in der Politik. Industriefirmen benötigen demnach eine strategische Belegschaftsplanung. Sie sollten ihre Mitarbeiter für Industrie 4.0 schulen und auch gezielt in dieser Richtung rekrutieren.

Eine Folge des angeführten Beispiels: Bei der Einstellung von Mechanikern ist es womöglich weniger wichtig, dass diese Erfahrung in der Reparatur bestimmter Maschinen haben. Entscheidender ist vielleicht, dass der Techniker offen für Veränderungen ist, mit IT-Schnittstellen umgehen kann und während der laufenden Produktion eingreifen kann.

Neue Arbeits- und Organisationsmodelle

BCG empfiehlt den Firmen auch neue Arbeits- und Organisationsmodelle. Konkret gemeint sind damit zum einen Klassiker wie flachere Hierarchien und flexiblere Strukturen. Im Artikel heißt es aber auch: "Industrie 4.0 wird auch eine engere Verzahnung von IT-Abteilung und Fachbereichen erfordern, damit die Software-Entwickler gänzlich verstehen, wie ihre Lösungen in der Produktion angewendet werden, und damit im Betrieb ebenso umfänglich verstanden wird, wie ihre Produktionslinien von diesen Lösungen betroffen sind."

Die dringendste Aufforderung an die Politik ist die Schließung der Lücke an IT-Fachkräften. Bis 2025 werden laut BCG in der deutschen Industrie annähernd 120.000 Informatik-Hochschulabsolventen fehlen. "Akademische Führungskräfte sollten gemeinsam mit Arbeitsvermittlungsbehörden den Studenten aufzeigen, dass IT-Fertigkeiten künftig in allen möglichen Arbeitsbereichen benötigt werden, nicht nur für Industrie 4.0-Jobs im engeren Sinne", heißt es in der Analyse. "Und sie sollten mit dem Missverständnis aufräumen, dass diese Skills nur für Spezialisten relevant seien."