Der beste Kritiker ist der Nutzer

16.02.2001
Noch immer wird so manche Internet-Präsenz mit wenig Rücksicht auf die tatsächlichen Bedürfnisse der Besucher entworfen. WebMacher verlieren sich gerne in eigenen Vorlieben, statt ihre Hausauf-gaben bei der Bedienbarkeit zu machen.

Von: Heinz Peller

Mindestens 39 Stunden sind notwendig, um für eine Website ausgiebige Usability-Tests durchzuführen. Zu diesem Wert kam der Mitbegründer der Nielsen Norman Group, Jakob Nielsen, schon 1998, als die Technische Univer-sität von Dänemark ein Usability-Labor für Websites etablierte. Viele Projektverantwortliche scheuen den Aufwand für solche Tests und verlassen sich lieber auf den schnellen Kollegencheck. Das Problem dabei: Die meisten Mitarbeiter kennen sich bereits mit den Web-Seiten aus und wissen aus Erfahrung, wie sie ans Ziel kommen. Um die Schwachstellen der Bedienbarkeit aufzuzeigen, müssen effektive Tests dagegen mit "unbedarften" Probanden durchgeführt werden.

Einiges an Aufwand lässt sich aber durchaus einsparen, wenn das Design auf Erkenntnisse aus der bisherigen Usability-Forschung aufbaut. Diese sind beträchtlich, doch wie die Realität zeigt, setzen viele Designer lieber auf Flash-Intros und andere Formen der Animation, als klare Strukturen zu entwerfen. Das ist ein gefährlicher Weg.

Usability-Untersuchungen, wie sie die Stanford University in Zusammenarbeit mit dem Poynter Institute durchführt, haben erstaunliche Ergebnisse gezeigt: Im Vergleich zum Zeitunglesen fokussiert der Blick am Bildschirm wesentlich stärker auf einen zentralen Bereich (siehe obiges Bild). Die Bewegungsaktivität der Augen ist um bis zu 60 Prozent reduziert. Das heißt, dass ein Surfer im Wesentlichen nur hervorstechende Strukturen aufnimmt. Einerseits werden Bildschirminformationen bis zu dreimal schneller gelesen als Texte in Druckerzeugnissen. Andererseits werden die Inhalte keineswegs schneller aufgenommen. Im Gegenteil: Kaum 50 Prozent des Informationsangebots bleiben beim Leser hängen. Was passiert also in dieser Lesezeit?

Gedächtnisspeicher und das Web

Kommunikationsforscher verwenden zur Erklärung der Informationsaufnahme das "Drei-Speicher-Modell". Es geht aus von der Annahme, dass das menschliche Gehirn mit einem Ultrakurzzeitspeicher, einem Kurzzeitspeicher und einem Langzeitspeicher arbeitet. Im Ultrakurzzeitspeicher, dem sensorischen Gedächtnis, werden Informationen lediglich maximal eine Sekunde gehalten. Für die visuelle Aufnahme einer Web-Seite ist dieser Speicher wichtig, da alle Eindrücke über die Augen aufgenommen und direkt im sensorischen Gedächtnis ausgewertet werden.

Leider schließen viele Designer aus dieser bekannten Tatsache, dass man eine Seite möglichst grell und flackernd gestalten müsse, um die Aufmerksamkeit zu gewinnen. Das ist grundsätzlich richtig, doch ob die auffälligen Signale positiv oder negativ ankommen, ist etwas ganz anderes. Die meisten Benutzer empfinden grell blinkende Werbebanner als lästig. Eine triviale Sache wie das Finden des nächsten Zeilenanfangs, was auch über das sensorische Gedächtnis geregelt wird, erregt die Aufmerksamkeit nur dann, wenn der Zeilenabstand so schlecht gewählt wurde, dass er kein flüssiges Lesen erlaubt.

Was Aufmerksamkeit erweckt hat, wird in den Kurzzeitspeicher übermittelt. Tests haben ergeben, dass die meisten Menschen in diesem Kurzzeitspeicher durchschnittlich sieben Informationen gleichzeitig verarbeiten können. Die Merkfähigkeit dauert bis zu einer Minute. Für das Web-Design ergeben sich daraus zwei Prinzipien: Einzelne Seiten nicht zu überfrachten und die Elemente möglichst klar zu ordnen. Gute Strukturen helfen, bei hohem Tempo Dinge besser und schneller aufzunehmen - denn eine Minute ist nicht viel.

Daher gilt die Strukturierung nicht nur für den Gesamtaufbau einer Seite, sondern für alle Elemente - auch für den Text. Während modernes Zeitungs- und Zeitschriftenlayout "Bleiwüsten", bei denen kaum eine Zwischenzeile oder gar ein Bild den monotonen Textfluss ansprechend gestalten, tunlichst vermeidet, geht man mit Textblöcken im Web häufig noch reichlich lieblos um. Einfache Gliederungselemente wie Absätze, Zwischenüberschriften, Gliederungspunkte, Initialen und die klassischen Auszeichnungen wie Fett und Unterstrichen sind sogar ohne Grafik zu haben.

Die Informationen des Kurzzeitgedächtnisses stehen nun Schlange, um in den Langzeitspeicher zu gelangen, in dem sie über längere Zeit abrufbar bleiben. Die Eigenart dieses Vorgangs ist, dass er nach dem Assoziationsprinzip arbeitet: Alle Informationen, die schon bekannt sind oder eine Ähnlichkeit mit bereits abgelegten Informationen aufweisen, haben eine höhere Chance, als völlig neue Infos aufgenommen zu werden. Wer Sprachen lernt, kennt dieses Prinzip und weiß auch um die Eselsbrücken, bei denen Wörter mit Bildern, Versen oder räumlichen Anordnungen assoziiert werden.

Ähnlich arbeitet die Informationsablage im Langzeitgedächtnis generell. So gilt auch hier, dass für eine optimale Benutzerführung unbedingt auf bereits bekanntes Design, Aufbau und Symbole zurückgegriffen werden muss, um die Erfolgschancen einer Site zu erhöhen.

Gehirnforschung in der Web-Praxis

Auch von anderer Seite beweist sich die Forderung nach bekannten Strukturen. So gibt es eigentlich nur zwei Sorten von Web-Benutzern: die Erfahrenen und die Neulinge. Erstere verbringen den Großteil ihrer Surfzeit nicht auf der aktuellen eigenen Homepage, sondern auf vielen anderen. Sie bringen von dort ihre Navigationserfahrung mit. Für den Neuling muss die Lernkurve zur Bedienung der Site unbedingt gegen Null gehen, sonst steigt er sofort frustriert aus. Daraus folgt, dass Aufbau und Navigation grundsätzlich in Standardformaten aufgebaut sein sollten. Nur wer eine exakt definierte Zielgruppe anspricht, von der er weiß, dass sie sich auf Experimente einlässt, von neuen Designs begeistert ist und geduldig probiert, kann Neues wagen. Wer Informationen oder Produkte anbietet, ist gut beraten, auf Bekanntes zu vertrauen.

Gewohnheitstier Web-Surfer

Benutzer lieben Standards. Neben klassischen Designvorschriften gibt es bei der Bedienung von Computern noch ein Gesetz - das der Gewohnheit. Selbst wenn eine Interaktion schlecht gelöst ist, werden sich Benutzer, die daran gewöhnt sind, kaum überzeugen lassen, einen anderen Navigationsweg neu zu lernen. Das weiß man vom Textverarbeitungsprogramm - wer wechselt wirklich seine Standard-Büroanwendungen?

Amazon und Co. haben zum Beispiel für Bestellvorgänge eine Leitlinie gesetzt. Da amazon.com wohl weltweit der bekannteste Online-Shop ist, geht es nun gar nicht mehr nur darum, ob die Interaktion für den Bestellablauf bei Amazon optimal gelöst ist. Alle Online-Buchhändler müssen sich vielmehr weitgehend nach diesem Muster richten, weil die Benutzer nicht bereit sind, ein zweites Mal zu lernen, wie man eine Ware auswählt, wie der Kauf bestätigt wird und wie schließlich gezahlt wird.

Der Clou ist: So werden mit wenig Aufwand elementare Anforderungen an eine gute Bedienbarkeit erfüllt. Das Argument, dass damit lauter identische Websites entstehen, kann leicht entkräftet werden. So wird es niemand langweilig finden, dass in Zeitschriften die Inhaltsangabe meist auf Seite drei zu finden ist (außer wenn erst einige Doppelseiten Werbung zu überblättern sind). Wer auf die "kreative" Idee käme, das Inhaltsverzeichnis zum Beispiel auf Seite 42 zu platzieren, würde wahrscheinlich Kopfschütteln ernten und als nicht besonders professionell gelten.

Sogar für die grafische Aufbereitung des Inhalts haben sich in den letzten Jahren Standards wie die farbliche Unterscheidung der Rubriken herausgebildet. Genauso sollte man beim Web-Design verfahren. Standardinformationen gehören dahin, wo der Besucher sie erwartet. So haben Informationsleisten in einer rechten Spalte ein schweres Los. Wenn das Bildschirmformat zu gering beziehungsweise das Browser-Fenster zu klein ist, bleibt die Leiste verborgen - und Web-Besucher scrollen ungern, schon gar nicht horizontal. (afi)

Zur Person

Heinz Peller

ist freier Fachjournalist und lebt im Allgäu. Seine Schwerpunkte sind Internet- und Web-Techniken sowie die Infrastruktur für E-Business-Prozesse.