DBResearch: Internet-Telefonie noch weit vom Massenmarkt entfernt

03.08.2005
Internet-Telefonie nimmt den traditionellen Telekomanbietern immer mehr Anteile ab - zumindest wenn man einigen Studien glauben darf. Stefan Heng von der Deutschen Bank Research ist da anderer Meinung und äußert sich kritische zum aktuellen Medienliebling VoIP.

Kürzlich verstarb ein Säugling, weil seine Mutter über ihre Internet-Telefonie-(Voice over IP, VoIP)-Anlage keine Servicenummern anwählen konnte. Zu viel wertvolle Zeit verging, bevor sie über den traditionellen Telefonanschluss eines Nachbarn die Notrufzentrale erreichte. Dieser spektakuläre Todesfall rief weltweit Politiker und Regulierer auf den Plan. Sie forderten von den Internet-Telefonie-Anbietern die baldige Umsetzung der schon lange diskutierten Notruffunktion. Die Anbieter reagierten schnell. Beispielsweise hat ein deutscher Anbieter seit Juli die Notruffunktion in sein Angebot integriert.

Dem Erfolg der Internet-Telefonie scheint damit nichts mehr im Wege zu stehen - jedenfalls vermitteln einige Medien diesen Eindruck. Allein in Deutschland gibt es monatlich über 1.000 Beiträge zu diesem Thema. Erleben wir mit dem Medienliebling Internet-Telefonie das baldige Ende der analogen Sprachtelefonie? Stehen mit der Internet-Telefonie nun tatsächlich die letzten Tage der klassischen Telekomunternehmen bevor?

Ein nicht nur flüchtiger Blick auf das Thema Internet-Telefonie dämpft bereits die Euphorie. Tatsächlich ist die Internet-Telefonie keine völlig neue Idee. Bereits in den 1990er Jahren sprachen ihr Analysen eine große Zukunft zu. Doch wegen Unzulänglichkeiten der damals aktuellen Übertragungstechnologien wurde die Anwendung schon bald wieder vom Markt genommen. Mit moderner Technologie steht die Internet-Telefonie heute für einen zweiten Anlauf bereit. Dabei ist mit der Notruffunktion zwar eine besonders medienwirksame Hürde genommen, aber lediglich die allererste. Die beiden wirklich großen Herausforderungen auf den Weg zum Massenmarkt liegen in der Verbreitung breitbandiger Übertragungstechnologien sowie der Möglichkeit zur gleichzeitigen Nutzung eines Teilnehmeranschlusses durch mehrere Dienste-Anbieter ("Entbündelung").

Pluspunkt „Letzte Meile“

Die Internet-Telefonie setzt breitbandige Endkundenanschlüsse - zumeist DSL oder Kabelmodem - voraus. Allein die Breitbandigkeit garantiert dem Endanwender die gewohnte Sprachqualität. Allerdings sind breitbandige Anschlüsse auch in Europa noch selten (Westeuropa: 8 Anschlüsse pro 100 Einwohner). Dies schränkt bereits das Potenzial der IP-Telefonie deutlich ein. Doch neben der niedrigen Breitbandpenetration bedeutet die Wettbewerbsstruktur des Breibandmarktes eine hohe Hürde für den Erfolg der Internet-Telefonie. In Europa ist DSL die vorherrschende Breitbandtechnologie. Alternativen wie das in den USA beliebte Kabelmodem sind hierzulande quasi unbekannt. Die DSL-Netze werden jedoch zumeist von den ehemaligen Monopolisten der Sprachtelefonie beherrscht, die über ihr Eigentum an der "letzten Meile" zum Endkunden den innovativen Mitbewerbern den Marktzutritt erschweren können.

Die geringe Verbreitung der Breitbandtechnologie und die weiterhin bestehende Dominanz der ehemaligen Monopolisten in den Telekommunikationsnetzen erklären, warum der Anteil der Internet-Telefonie am Gesamtaufkommen in der Sprachtelefonie bisher verschwindend gering bleibt. Die European Regulators Group (ERG) verkündet dazu: "The quantitative impact of the VoIP services on the broadband market is so far considered too small to be analysed." Beispielsweise laufen in Deutschland lediglich 2 % aller Telefonminuten über die Internet-Telefonie. Bis heute sind es zumeist international agierende Unternehmen, die die Internet-Telefonie anwenden. Bei diesen Unternehmen ist die Kostendifferenz zur üblichen Telefonie groß genug, dass sich der Umstieg zur Internet-Telefonie rechnet.

Das Marktpotenzial der Internet-Telefonie als allein stehendes Produkt wird bislang deutlich überschätzt. Soll der Internet-Telefonie in Europa der Durchbruch in den Massenmarkt gelingen, stehen Wettbewerbspolitiker und Regulierer daher vor der Aufgabe, die Breitbandtechnologien zu fördern, ohne dabei die alten monopolistischen Strukturen zu zementieren. Die Einführung der Notruffunktion ist somit zwar ein medienwirksamer, aber dennoch nur ein sehr kleiner Schritt auf dem Weg in den Massenmarkt.

Dr. Stefan Heng ist Senior Economist Vice President bei der Deutschen Bank Research.

(mja)

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