Bildung im Umbruch

27.04.2001
Wer auf dem Laufenden bleiben will, muss ständig dazulernen. Doch herkömmliche Vorlesungen und Seminare sind oft wenig interaktiv, zeitraubend und erfordern unter Umständen lange Anfahrtswege. Hier bietet die moderne Kommunikationstechnik gepaart mit Multimedia eine Alternative. Schon bald wird das Lernen übers Internet nicht nur die betriebliche Weiterbildung, sondern das gesamte Bildungssystem revolutionieren.

Von: Achim Scharf

Nach Einschätzung der Marktforscher von IDC entwickelt sich der europäische Weiterbildungssektor hin zu elektronischen Medien, besonders dem Internet. Dieser Trend wird vor allem durch die Notwendigkeit forciert, eine räumlich verteilte Studenten- und Arbeitnehmerschaft bei geringeren Kosten besser weiterzubilden. IDC-Analystin Sheila McGovern erwartet zum Jahr 2004 ein Marktpotenzial von vier Milliarden Dollar, bei einer jährlichen Wachstumsrate von nahezu 100 Prozent.

Die Bankakademie (www.bankakademie.de), Bildungs- und Beratungspartner der Bankwirtschaft, ermittelte in einer repräsentativen Befragung, dass rund 20 Prozent der Bevölkerung ab 14 Jahren eine Weiterbildungsmaßnahme auf eigene Initiative planen. Hiervon ziehen 78 Prozent das Internet als Medium in Betracht. Bei Berufstätigen in Unternehmen der Bankwirtschaft liegt dieser Anteil noch wesentlich höher.

Ausbildungsstätten, Politik und Wirtschaft haben sich mittlerweile auf den Trend zum Internet-gestützten Lernen eingestellt. Das Land Niedersachsen investiert 22 Millionen Mark in ein ehrgeiziges E-Learning-Projekt. Universität und TU Hannover sowie die Hochschule für Bildende Künste (HBK) Braunschweig wollen in den nächsten Jahren einen virtuellen Campus schaffen. Im ehemaligen deutschen Expo-Pavillon werden aber nicht nur Geräte aufgestellt und Computerarbeitsplätze eingerichtet, sondern es werden vor allem in internationalen und interdisziplinären Netzwerken neue Lern- und Lehrformen entwickelt.

E-Learning-Netzwerk für Universitäten

Das Seminar für Religionswissenschaft ist einer der ersten Nutzer der neuen Infrastruktur. Ein Teil der Studierenden sitzt in Hannover, der andere Teil an der Universität Chichester in Großbritannien. Auf zwei großen Bildschirmen können die Studenten das Geschehen verfolgen. Ein Bildschirm zeigt den Dozenten, der andere fungiert als "Tafel". Die Studierenden in Chichester können, mit einem Mikrofon ausgestattet, jederzeit Fragen nach Hannover stellen, gleiches gilt für die hannoverschen Studierenden. Obwohl die Teilnehmer an verschiedenen Lernorten sind, entsteht so ein gemeinsames Seminar.

"Die Netzwerke bergen ein unglaubliches Potenzial, und nur in Zusammenarbeit mit Experten, die auf diesen Gebieten zur Weltspitze gehören, können wir unsere Kompetenzen bündeln und dieses Potenzial nutzen", erklärt Prof. Wolfgang Nejdl, Sprecher des Learning Lab Lower Saxony - kurz L3S. Deshalb ist L3S auch Mitglied im Wallenberg Global Learning Network, das von der schwedischen Wallenberg-Stiftung ins Leben gerufen wurde. Auch die Stanford University und drei schwedische Universitäten engagieren sich in diesem Netzwerk.

E-Learning, D-Space und E-Media nennt Nejdl die drei Schwerpunkte des L3S im virtuellen Campus: E-Learning heißt Entwickeln von und Lernen mit elektronischen Lerntechniken in Aus- und Weiterbildung sowie Aufbau von Learning Partnerships mit industriellen Partnern. Dieses Lernen und Entwickeln findet im D-Space statt, also an verteilten (distributed) Standorten. Der Begriff E-Media zeigt, wie die Vorteile dieses virtuellen Campus aussehen könnten: Statt eines Lehrbuchs für alle könnte es in Zukunft auf die individuellen Vorkenntnisse abgestimmte Vorlesungsskripte geben, entwickelt an den verschiedenen Standorten. "Was wir hier machen, ist nicht nur für Informatiker relevant, wir entwickeln neue Lernformen und eine Infrastruktur, die von allen Fachbereichen genutzt werden kann und soll", so Nejdl.

Das "Course Management System for WWW (CMS-W3)", das im Rahmen eines europäischen Fernlehreprojektes vom Fraunhofer Institut für Graphische Datenverarbeitung (IDG, www.rostock.igd.fhg.de) entwickelt wurde, unterstützt sowohl die Studenten beim Studium als auch die Kursverantwortlichen bei der Betreuung der Studenten und der Erstellung von Kursen.

Fernlehre über das Internet

"Bereits heute kann der Kursteilnehmer Geschwindigkeit und Schwierigkeitsgrad der Ausbildungsinhalte steuern, das System berücksichtigt inhaltliche und didaktische Regeln bei der Führung durch die Lerninhalte. Künftig wird es sich flexibel an den jeweiligen Kenntnisstand des Kursteilnehmers anpassen", erläutert Prof. Bodo Urban, Leiter des Fraunhofer IGD Rostock. Ein weiterer Vorteil: In die kooperative Lehr- und Lernumgebung lassen sich Kommunikationslösungen wie Netmeeting oder Internet-Telefonie einbinden. Somit können sich die Lernenden jederzeit untereinander und mit den Tutoren beziehungsweise Experten austauschen. CMS-W3 wird bereits erfolgreich eingesetzt in der begleitenden Fernlehreunterstützung, in der universitären Ausbildung sowie in der berufsbegleitenden Weiterbildung.

Das dem CMS-W3 zugrundeliegende "Distance Education Netzwerk" besteht aus einem zentralen Server und mehreren regionalen Bildungszentren, die über das Internet miteinander verbunden sind. Studenten können sich mit dem Netzwerk über Einwahlpunkte an den Bildungszentren oder direkt über das Internet verbinden. Experten, Tutoren und Administratoren stellen die Verbindung direkt über das Internet her. Die Bildungszentren dienen den regionalen Studentengruppen als Treffpunkt. Hier werden sie in allen Fragen bezüglich ihres Fernstudiums unterstützt.

Auf der Grundlage dieses "Distance Education Scenario" unterstützt das CMS-W3 vier Nutzertypen: Experten erzeugen und verändern Kurse. Sie geben Online-Vorlesungen und verteilen Zensuren an die Studenten. Der Experte ist die Kontaktperson für fachliche Fragen, das heißt, er ist der zentrale Kursverantwortliche. Ein Tutor unterstützt die Studenten und Studentengruppen vor Ort. Er stellt die Verbindung zwischen Studenten und Experten sowie Administratoren dar. Der Tutor leitet und kontrolliert die Arbeit in der Studentengruppe, in dem er zum Beispiel Diskussionen und Gruppentreffen organisiert. Er kann auch teilweise für die Kontrolle der studentischen Arbeit zuständig sein. Schließlich leistet er technische Unterstützung für Studenten, die an Fernlehrekursen teilnehmen. Studenten studieren in einem oder mehreren Kursen des CMS-W3. Sie gehören genau je einer Studentengruppe pro Kurs an. Der Administrator schließlich ist für die Verwaltung des CMS-W3 verantwortlich. Er erzeugt, verwaltet und löscht Nutzer, Studentengruppen und Kurse.

Fernlehrekurse des CMS-W3 bestehen aus einer hierarchischen Struktur von Lehreinheiten, einem Diskussionsforum und einer Informationsseite mit den aktuellen Terminen. Lehreinheiten können HTML-Strukturen, druckbare Dokumente oder Testbeschreibungsdateien sein.

In den HTML-Strukturen können Studenten mit einem herkömmlichen WWW-Browser navigieren. Neben HTML-Dateien enthalten diese Strukturen auch andere Dokumenttypen wie zum Beispiel VRML-Modelle (Virtual Reality Modeling Language), Java Applets, Videodateien und so weiter. Druckbare Dokumente werden vom CMS-W3 auf den lokalen Rechner heruntergeladen und können von dort ausgedruckt werden. Sie dienen dem Offline-Studium. Tests und Übungen werden über eine Kommunikationsschnittstelle unterstützt, über die Java-Applets Ergebnisinformationen im System ablegen und später wieder abrufen können. CMS-W3 bietet drei Standard-Test- und Übungsmethoden an. Experten können weitere Methoden implementieren.

Virtuelle Seminarräume mieten

Die Experten bereiten auch die Lehreinheiten vor und integrieren die fertigen Dateien als Module mit einem WWW-Browser in CMS-W3. Die Module werden nun zu Kursen zusammengefasst und strukturiert. Der Experte kann Abhängigkeiten zwischen den Lehreinheiten definieren, die dann während des Studiums des Kurses für jeden Studenten gelten. Beispielsweise kann festgelegt sein, dass ein Student erst dann Zugang zu einer weiterführenden Lehreinheit bekommt, wenn er einen Test bestanden hat.

Die Oberurseler Netucate (www.netucate.com) bietet über ein eigenes Netz eine E-Learning-Infrastruktur an, die beim Anwender keine weiteren Investitionen erfordert - ein virtueller Seminarraum zur Miete. Die Software dazu wurde in den USA entwickelt. Dort wird sie in einigen Unternehmen unter Nutzung eigener Server und Netze unter anderem von Chrysler Financial Corporation, Lucent Technologies oder Flight Safety International Inc. eingesetzt.

Das virtuelle Seminarzentrum ist eine Online-Lernumgebung, die eine Interaktion in Echtzeit zwischen Teilnehmer und Trainer erlaubt. Wie im realen Seminarraum sind alle Lehrmittel vorhanden. Die Kommunikation erfolgt über ein Audio-Modul sowie Multimedia-Anwendungen. Zu erlernende Fertigkeiten kann der Teilnehmer selbst ausführen und natürlich auch üben.

Netucate bringt die Inhalte in die geeignete Form und stellt sie entweder zum Download bereit oder versendet sie per CD an die Teilnehmer. Die Seminare sind dozentengeführt und nicht wie beim Computer Based Training (CBT) zum reinen Selbststudium bestimmt. CBT-Materialien lassen sich aber als Lehrmedien in virtuelle Seminare einbinden. Für diese aufwändig entwickelten Systeme stellt der Einsatz im virtuellen Seminar somit einen zusätzlichen Vertriebs- und Amortisationsweg dar.

Für den Zugriff auf das Netucate-Netz ist ein V.34-Modem ausreichend, besser ist allerdings ISDN. Der Zugriff kann auch von einem Intranet aus erfolgen, sofern eine konstante und dauerhafte Übertragungsbandbreite von 35 kBit/s gewährleistet ist. Ein Internet-Zugang erübrigt sich, Teilnehmer und Trainer wählen sich bundesweit zum Ortstarif in das Netz von Netucate ein und sind mit einem Kennwort für das jeweilige Seminar "unter sich". Teilnehmer aus anderen Ländern lassen sich in Absprache mit dem Netzbetreiber einbinden. (haf)

Zur Person

Achim Scharf

arbeitet als freiberuflicher Fachjournalist in München. Seine Schwerpunkte sind unter anderem Internet und E-Commerce.