Behindertengerechtes Internet

18.09.2001 von THOMAS RIESKE 
Das WWW nutzt mittlerweile zahlreiche grafische Elemente, so dass Sehbehinderte viele Webseiten nicht nutzen können. Hält man sich an einige vom W3C vorgeschlagenen Regeln, lassen sich die Barrieren abbauen.

Nach Angaben des W3C leiden 10 bis 20 Prozent der Weltbevölkerung an einer Behinderung. Ein Großteil dieser Menschen benötigt spezielle Hard- und Software, um elektronische Geräte und Informationsmedien wie das Internet zu nutzen.

Doch viele Webangebote schließen Blinde und Sehbehinderte von ihren Inhalten aus, da sie Grafiken als bestimmendes Bedienelement einsetzen. Ein Screen Reader kann aber nur Textzeichen in Blindenschrift umsetzen, die auf dem ASCII-Zeichensatz basieren. Daher arbeiten Blinde auch bevorzugt unter DOS und setzen Browser wie Lynx ein.

Wie Webdesigner Sites behindertengerecht gestalten können, hat das W3C in einem Anforderungskatalog festgehalten und ihn im Mai 1999 als Richtlinie verabschiedet. Eng an diese Vorgaben angelehnt ist Artikel 508 des US-Antidiskriminierungsgesetzes.

In diesem Report finden Sie nähere Informationen zu Gesetzesinitiativen, Hilfsmitteln für Behinderte sowie den wichtigsten Designvorschlägen des W3C.

Hilfsmittel zur Eingabe

Herkömmliche Tastaturen stellen für viele Körperbehinderte ein großes Problem dar. Doch die Anforderungen dieses Personenkreises an Eingabegeräte fallen auf Grund der Vielfältigkeit der Einschränkungen meist sehr individuell aus. So benötigen Menschen mit schweren motorischen Störungen Großfeldtastaturen, Contergan-Geschädigte und Einhänder hingegen sind auf Miniaturtastaturen angewiesen. Muskelgeschädigte benötigen Mini-Keyboards, die mit geringstem Kraftaufwand bedient werden können.

Neben speziellen Tastenmäusen sowie Berührungs- oder Akkustiksensoren bieten bioelektrische Schnittstellen eine weitere Alternative. Diese übersetzen Körpersignale direkt in Computerbefehle, so dass etwa Schwerstbehinderte allein durch Augenbewegungen durch Websites navigieren können.

Ist die physische Behinderung so gravierend, dass Hardwarehilfen ausscheiden, lassen sich die Probleme möglicherweise softwareseitig lösen. So bietet etwa die Spracherkennungssoftware Via Voice von IBM eine hohe Erkennungsrate (95 Prozent laut Unternehmensangaben) und lässt sich neben Deutsch auch in Englisch, Französisch, Italienisch, Spanisch und Chinesisch bedienen. Über das Modul VoiceMouse kann der Anwender auch die Maus über Sprachbefehle steuern.

Recht umfangreiche Linklisten zu Herstellern von Hilfsmitteln finden sich bei Organisationen wie dem Deutschen Verein der Blinden und Sehbehinderten. Gut sortierte Verweise gibt es aber ebenfalls auf privaten Internetseiten, etwa von Wolfgang Hubert, Mitglied in der Interessengemeinschaft sehgeschädigter Computerbenutzer.

Ausgabe mit Screen Reader und Braillezeile

Um überhaupt mit dem Computer arbeiten zu können, benötigen Blinde und die meisten Sehbehinderten einen so genannten Screen Reader. Diese Zusatzsoftware übersetzt den Bildschirm behindertengerecht. Die Ausgabe erfolgt entweder in Blindenschrift über die Braillezeile oder in synthetischer Sprache über eine Soundkarte.

Die Braillezeile ist Teil einer erweiterten Tastatur, die unterhalb der bekannten Tasten einen Ausgabebereich für Zeichen in Blindenschrift enthält. Dabei werden die Buchstaben des Alphabets und andere Schriftzeichen in bis zu acht Punkte umgesetzt, die die Blinden ertasten. Bis zu 80 Zeichen des Bildschirminhaltes lassen sich so gleichzeitig in Blindenschrift darstellen.

Textbasierte Browser

Trotz der Möglichkeiten, die Braillezeile oder Sprachausgabe bieten, stoßen Blinde und Sehbehinderte immer wieder auf Barrieren im Internet, die den Zugang zu Informationen erschweren. Zum Surfen im Web benutzen viele Blinde Browser wie Lynx, der ursprünglich für rein wissenschaftliche Einsatzgebiete konzipiert wurde.

Lynx kommt den Bedürfnissen von Blinden am meisten entgegen, da die Ergebnisse rein textorientiert sind. Je nach Gestaltung der Homepage gelingt die Übersetzung mehr oder minder gut. Schwierigkeiten bereiten Seiten mit Frames, Tabellen oder grafischen Buttons. Das Design für einen bestimmten Browser lässt diese Zielgruppe außen vor.

Aber nicht nur grafische Elemente bereiten Probleme. So können Blinde etwa auch keine Maus bedienen. Die Hersteller von Screen Readern haben Lösungsansätze hierfür gefunden, indem sie Mausfunktionen über die Tastatur simulieren - allerdings nur in begrenztem Umfang. Auch das Webseiten-Layout, das man visuell intuitiv erfasst, kann zu Verständnisschwierigkeiten führen.

WAI - barrierefreie Internet-Seiten

Die Web Accessibility Initiative (WAI) arbeitet als Organ des W3C an der Formulierung von Standards und der Entwicklung von Techniken, um auch Behinderten den Zugang zum Internet zu ermöglichen. Dabei geht es nicht um die Ächtung multimedialer Webseiten, sondern darum, die wesentlichen Inhalte von Webangeboten allen Benutzern zugänglich zu machen - unabhängig von der Art der Behinderung. Die vom WAI erarbeiteten Ergebnisse (Web Content Accessibility Guidelines 1.0) hat das W3C am 5. Mai 1999 in seine Empfehlungen aufgenommen. Der Anforderungskatalog umfasst 14 Richtlinien und eine Checkliste mit über 60 Punkten.

Als Minimalforderung für eine hindernisfreie Webseitengestaltung rät das Gremium, multimediale Inhalte mit einer zusätzlichen Textbeschreibung zu versehen. Das Element "alternate text" etwa erklärt die Funktion eines Bildes oder einer Animation. In Bezug auf gute Zugänglichkeit ist es besonders wichtig, dass für Java-Script-Steuerungen alternative Steuerungsmöglichkeiten bereitgestellt werden. Ebenfalls ein Muss sind klar strukturierte und in sich konsistente Navigationsmenüs. Vorsichtig einsetzen sollten Webdesigner Farben oder Zeichenformate, wenn sie als ausschließliches Unterscheidungsmerkmal dienen: Dies können (Farben-)Blinde und viele Sehbehinderte nicht erkennen.

Generell sollte jeder Webmaster seine Internet-Seiten überprüfen und validieren. Dazu existieren bereits zahlreiche Werkzeuge, zu denen das W3C eine Übersicht zusammengestellt hat. Das Utility Bobby beispielsweise analysiert Webseiten auf deren behindertengerechte Gestaltung und Kompatibilität mit verschiedenen Browsern.

Vorreiter USA

Am umfassendsten haben die USA die Vorschläge der WAI aufgegriffen und in ihre Gesetzgebung einfließen lassen. So bestimmt Artikel 508 des Antidiskriminierungsgesetzes, dass elektronische Geräte auch von Personen mit nur einem intakten Sinn genutzt werden können.

Seit dem 26. Juni 2001 dürfen US-Behörden nur noch Hard- und Software anschaffen, mit der auch Schwerbehinderte zurecht kommen. Einkäufer müssen also auf Kompatibilität zu den bekannten Hilfen wie Spracherkennung und Blindenschriftzeile achten. Das kann sich als durchaus kompliziert erweisen, denn genaue Richtlinien der Regierung gibt es erst seit dem 25. April 2001.

Gleichzeitig regelt Artikel 508 auch die Anpassung von Websites staatlicher Institutionen und Behörden. So müssen sich deren Internet-Auftritte gemäß der WAI-Empfehlungen auch per Textkommandos, Maus oder Tastatur bedienen lassen; eine inhaltliche Beschreibung in Textform soll Verweise, grafische Elemente und Multimedia-Dateien zugänglich machen.

Signalwirkung für die Branche

Die Signalwirkung, die von dieser amerikanischen Gesetzesinitiative ausgeht, dürfte sich auf die gesamte Computerbranche auswirken. Immerhin belief sich 1999 das Auftragsvolumen des öffentlichen Sektors für Hard- und Software auf knapp 40 Milliarden US-Dollar. So betont Laura Ruby, Programm-Managerin der 40-köpfigen Access Technology Group von Microsoft denn auch: "Die US-Bundesregierung ist einer unserer größten Kunden, und wir arbeiten eng mit ihr zusammen, um ihre Wünsche zu erfüllen."

Um die Entwicklung behindertengerechter Software unter Windows zu fördern, stellt Microsoft das kostenlose Active Accessibility SDK bereit. Aber auch andere namhafte Hersteller wie Sun oder Macromedia machen ihre Produkte durch kostenlose Erweiterungen fit für Artikel 508.

Gesetzeslage in der EU

In Deutschland tut man sich mit entsprechenden Gesetzen deutlich schwerer. Doch will die Bundesregierung noch in dieser Legislaturperiode das Gleichstellungsgesetz ergänzen. Wie konkret darin der barrierefreie Internet-Zugang für Behinderte geregelt wird, ist indes noch unklar.

Dennoch gibt es Lichtblicke. Für das sehbehindertengerechte Internet-Angebot des Deutschen Bundestages nahm Wolfgang Thierse am 1. Dezember 1999 den "Gordischen Webknoten" entgegen.

Auch die Europäische Union hat bis jetzt keine gesetzlichen Vorschriften auf den Weg gebracht. Ansätze finden sich lediglich in der Initiative eEurope sowie der HEART-Studie. Die einzigen europäischen Länder mit entsprechenden Regelungen sind Portugal und Großbritannien: Portugal hat eine Parlamentsresolution für den diskriminierungsfreien Internet-Zugang verabschiedet; die Gesetzesregelungen in Großbritannien wurden 1995 um den Disability Discrimination Act ergänzt.

Behindertengerechtes Webdesign

Webmaster, die nicht erst auf ein Gesetz warten wollen, können sich natürlich bereits jetzt an die Umsetzung der WAI-Empfehlungen machen. Generell sollte man beim Einsatz der gestalterischen Mittel bedenken, dass diese durch die persönlichen Browser-Einstellungen des Lesers verändert werden können. So sind für eine sehbehindertengerechte Darstellung relative statt absoluter Größenangaben für Rahmen, Tabellen und Text unverzichtbar.

Dass blaue Schrift auf schwarzem Hintergrund äußerst schwierig zu entziffern ist, dürfte wohl jedem einleuchten. Besonders wichtig ist eine abgestimmte Farbgebung ebenfalls bei Buttons und anderen Symbolen, denn diese lassen sich durch Browser-Einstellungen nicht manipulieren.

Auch animierte Texte führen zu Problemen, da der Screen Reader versucht, ein statisches Bild der Seite zu interpretieren. Permanente Änderungen auf dem Monitor versteht er daher meist falsch.

Farben oder Zeichenformate, die als alleiniges Unterscheidungsmerkmal dienen, können Blinde und viele Sehbehinderte nicht erkennen (etwa schwarze und rote Zahlen). Dies lässt sich vermeiden, wenn zusätzlich zu diesen Informationen weitere Unterscheidungsmerkmale eingesetzt werden.

Hindernisse Grafik, Tabellen und Frames

Wie bereits erwähnt, hat die WAI umfangreiche Richtlinien zur Gestaltung barrierefreier Webseiten erstellt. Tabellen, Grafiken und Frames sind die häufigsten Hürden für Behinderte.

Grafiken

Der einzige Weg, wie Nutzer von Screen Readern etwas über den Inhalt von grafischen Elementen erfahren, führt über den Alternativtext. Dieser lässt sich über das Alt-Tag im HTML-Code leicht hinzufügen. Die Angabe "Bitte hier klicken" ist allerdings nicht besonders hilfreich. Alternativtexte beispielsweise für Grafiken müssen deren Sinn wiedergeben, etwa wenn das Element gleichzeitig als Link dient.

Webmaster verwenden gerne transparente Grafiken als Platzhalter, um feste Abstände zu definieren. Da diese Dummies ja gerade nicht auffallen sollen, versieht man sie ohne Alternativtext. Für Blinde sind solche Grafiken immer ein Rätsel, da sie nie wissen, welche Informationen sich dahinter verbergen.

Tabellen

Die meisten Webdesigner dürften kaum ahnen, welche Schwierigkeiten Tabellen für die Nutzer von Screen Readern aufwerfen, denn damit lässt sich immer nur eine Tabellenzelle gleichzeitig erfassen. Tabellen jeder Art - ob Sie eine tabellarische Darstellung enthalten oder für ein Textlayout eingesetzt werden - können dann am besten erfasst werden, wenn die Zellen Zeile für Zeile von links nach rechts gelesen einen Sinn ergeben.

Frames

Ähnlich problematisch wie Tabellen können Webangebote sein, die auf Frames setzen. Screen Reader können immer nur einen von mehreren Frames zu einem bestimmten Zeitpunkt betrachten. Eine große Anzahl Frames macht Webseiten für Blinde und Sehbehinderte daher unüberschaubar. Ein schnellerer Zugang gelingt, wenn man die Rahmen mit beschreibenden Namen versieht.

Fazit

Um den Zugang zu Internet-Inhalten barrierefrei zu gestalten, benötigt ein Webdesigner kein zusätzliches Programmierwissen. Er muss jedoch erkennen, dass ein Teil der Surfer auf vielfach unbekannte Hilfsmittel wie Screen Reader angewiesen ist, woraus sich bestimmte Einschränkungen ergeben.

Die Richtlinien für behindertengerechte Websites hat die WAI in einer umfangreichen Liste veröffentlicht. Viele der Anforderungen bedeuten den Verzicht auf gängige Praktiken wie die Nutzung von Tabellen als Layout-Hilfe oder Dummy-Grafiken als Abstandshalter. Letztendlich wäre aber schon viel gewonnen, wenn man allen grafischen Elementen eine alternative Darstellungsform in Form eines beschreibenden Texts mitgeben würde.

Möglicherweise bewirkt aber auch der im US-Antidiskriminierungsgesetz enthaltene Artikel 508 ein Umdenken. Darin wird bestimmt, dass US-Behörden seit dem 26. Juni 2001 nur noch Hard- und Software anschaffen dürfen, mit der auch Schwerbehinderte zurecht kommen. Außerdem müssen die Webauftritte staatlicher Institutionen zu den WAI-Empfehlungen kompatibel sein. Deutschland hinkt dieser Entwicklung hinterher: Eine Projektgruppe des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung hat jedoch wenigstens einen Entwurf zum Bundesgleichstellungsgesetz für Behinderte vorgelegt. (tri)