ATM am Ausbildungsplatz

16.10.1998
Ein ungewöhnliches Ausbildungskonzept realisierte das Berufsbildungswerk Leipzig: Die sprach- und hörgeschädigten Jugendlichen lernen die Berufsinhalte digital- und videogestützt. Das ATM-Netz des BBW umfaßt nicht nur alle Werkstattbereiche, sondern reicht bis in die Wohnheime.

Von: Thomas Gambichler, Claudia E. Petrik

1993 beschloß das Bundesministerium für Arbeit und Soziales, in Leipzig ein neues Berufsbildungswerk für Sprach- und Hörgeschädigte zu bauen. Die Bundesanstalt für Arbeit stellte hierfür 130 Millionen Mark bereit. Damit wurde 1996 nicht nur der Neubau und die Ausstattung der Werkstätten, Verwaltungsgebäude und Wohnheime finanziert. Das BBW setzte auch ein neues pädagogisches Konzept um: ein "Lernmedien-Netzwerk" mit multimedialen Anwendungen, die auf die speziellen Belange der Jugendlichen zugeschnitten sind.

Eine Million Mark für die Infrastruktur

Mit dieser Entscheidung betrat das BBW Neuland. Da DV-gestütztes Lehrmaterial für Sprach- und Hörgeschädigte nicht von der Stange zu beziehen ist, bleibt nur die Eigenentwicklung - zum Beispiel Lehrvideos, die mit Gebärdensprache ergänzt werden. Als nächstes mußte eine adäquate Netzwerkinfrastruktur geschaffen werden. Ende 1996 führte der DV-Verantwortliche die erste Ausschreibung durch. Die Anbieter, die sich daran beteiligten, schlugen verschiedene Lösungen vor, darunter ein geswitchtes Netz mit ATM im Backbone und Ethernet bis zu den Endgeräten. Einige Hersteller waren mehrfach mit Teststellungen im Haus, mit dem Ergebnis, daß keines der Produkte die Ansprüche an die Bandbreite erfüllen konnte.

Nach mehreren Monaten kam der damalige Netzwerk- und Systemadministrator Uwe Meyer zu dem Schluß, daß er einen neuen Weg einschlagen mußte: ATM bis zum Ausbildungsplatz. Anders hätte sich das neue Lehrkonzept damals nicht realisieren lassen. Und davon konnte Meyer auch die Institutsleitung überzeugen.

Die Folge war eine neue Ausschreibung an rund zehn Anbieter. Das BBW machte dabei eine Reihe von Vorgaben: Vorhandene Systeme waren in die Teststellung mit einzubeziehen. Außerdem mußte eine Erweiterung des Lernmedien-Netzes in den Freizeitbereich der Auszubildenden hinein gewährleistet sein. Ferner waren für die Arbeit mit Videotechnik und dem MPEG-Standard garantierte Bandbreiten zwischen 6 und 15 MBit/s erforderlich. Ein Großteil der Angebote entsprach diesen Anforderungen nicht. Der Test eines Herstellers, bei dem ein Video-Cache ans ATM angeschlossen wurde, lieferte effektiv nur 2 bis 4 MBit/s, obwohl 25 MBit/s im Prospekt standen. Andere Anbieter kamen mit proprietären Lösungen, die das BBW bei der Wahl der Medien-Server und der Endgeräte eingeschränkt hätte.

"Unter allen Angeboten war das von Telemation am überzeugendsten", erinnert sich Meyer rückblickend. Dies hatte einerseits mit dem begrenzten Budget zu tun, das nicht überschritten werden durfte, und andererseits mit dem vorgeschlagenen Netzwerkkonzept, das alle Anforderungen erfüllte.

Im Sommer 1997 war es dann soweit: Das BBW zog in die neuen Gebäude um. In die Kabelinfrastruktur investierte die gemeinnützige Gesellschaft 300 000 Mark, für die aktiven Netzkomponenten weitere 400 000 Mark. Der Medienraum mit einer kompletten Produktionsstrecke für die Erstellung von Lehrvideos schlug mit rund 350 000 Mark zu Buche.

Damit stand die Infrastruktur für das Lernmedien-Netzwerk. Im Werkstattbereich 3 richtete das BBW einen Medienraum ein, in dem die Ausbilder alles nötige für die Erstellung von Lehrvideos finden:

einen Medienserver, einen Videoaufnahme- und -schnittplatz, einen Web-Arbeitsplatz, einen Scan-, Multimedia- und Demo-Arbeitsplatz sowie einen MPEG-Arbeitsplatz, an dem das Prefiltering und die Digitalisierung von Videos in die Formate MPEG-1 und MPEG-2 erfolgen.

Die nächsten Schritte des Ausbaus stehen bereits fest. Auf den Medienserver wird ein zentraler Web-Server aufgesetzt, der Informationen und Dokumente vorhalten soll, die bisher in gedruckter Form vorliegen. Des weiteren will das Bildungswerk ein spezifisches Fachwortlexikon mit multimedialen Inhalten realisieren und über das Netz allen Jugendlichen zur Verfügung stellen.

Allein im Medienraum sind im Endausbau zwölf sogenannte "Lernmedien-PCs" geplant. Für alle Werkstätten sind insgesamt 50 solche Geräte vorgesehen. Und zwar für die Bereiche W1, kaufmännische und CAM-Ausbildung, W2, CAD-Ausbildung, und W4, zentrale Ausbildungsverwaltung (siehe Bild 2).

Lernmedien-PCs auch in den Wohnheimen

Das technische Rückgrat des Netzwerks ist ein ATM-Switch "ASX 1000" von Fore Systems. An diesen sind die Werkstattbereiche über jeweils einen ATM-Workgroup-Switch "ASX 200 WG" gekoppelt. Der ASX 1000 bildet über die vorhandenen Ports die Basis für den Anschluß von jeweils zwölf kupferbasierenden ATM-Clients mit einer Kapazität von 25 MBit/s.

Die wesentliche Anforderung an das Lernmedien-Netz ist die Übertragung von Videosequenzen. Die Bereitstellung einer definierten Bandbreite wird durch Permanent Virtual Circuits (PVCs) gelöst, die wie ein "Tunnel" durch das Netzwerk laufen: zum Beispiel vom Medienserver zum ASX 1000, von dort zu den entsprechenden Workgroup-Switches bis hin zum Endgerät. Dies erfordert zwar einen hohen Konfigurationsaufwand, bietet dafür aber definierte Bandbreiten.

Im Rahmen der Konzeption des Lernmedien-Netzes war von Beginn an vorgesehen, nicht nur die direkten Ausbildungsbereiche mit ATM-Endgeräten auszustatten. Auch die sechs "Internate" oder Wohnheime auf dem Campus sind sowohl an den ATM-Backbone mit 155 MBit/s als auch an das Fast-Ethernet-Netz angebunden. Die Freizeiträume der Wohnheime sollen ebenfalls mit Lernmedien-PCs ausgerüstet werden, damit die Azubis auch außerhalb der Ausbildungsräume auf digitale Lehrvideos zugreifen können.

"In dieser Struktur kommt für uns der visionäre Ansatz dieses Lern-Netzes zum Ausdruck, denn mit der Nutzung der ATM-Technik in dieser Form zeigt sich eine neue Denkweise in der Berufsbildungslandschaft für Hör- und Sprachgeschädigte", freut sich der technische Ausbildungsleiter Frank Noack. Und fährt fort: "Wir verbinden ein hohes Maß an Modernität und Investition in die Zukunft mit einer zweckmäßigen Ausbildung."

Parallel zum ATM-Netz verfügt das BBW über ein konventionelles Netz auf Ethernet-Basis. Die NT-Server für die Ausbildungsverwaltung und das zentrale Verwaltungsgebäude sind per Fast-Ethernet an den Switch-Router "Powerhub 7000" angebunden. Diese Bereiche sind zudem in entsprechende VLANs getrennt. Die Wohnheime - auch Internate genannt - sind über 12-Port-Hubs ebenfalls an das Ethernet angeschlossen. Auch die Werkstattbereiche hängen am klassischen Netz, so daß insgesamt der gegenseitige Zugriff auf Verwaltungs- und Ausbildungsapplikationen sowie zukünftige Lernmedien-Anwendungen sichergestellt ist.

ATM und geswitchtes Ethernet laufen parallel

In den Fachbereichen Bauzeichnen und Metall sorgt jeweils ein ATM-Ethernet-Switch für den Anschluß der CAD/CAM-Ausbildungsplätze mit 100 MBit/s Fast-Ethernet an den zentralen Powerhub. Weitere Ausbildungsplätze mit Office-Anwendungen sind mittels 24-Port-Hubs über 10-MBit/s-Shared-Media angebunden. Ein Uplink-Modul im Powerhub koppelt das geswitchte Ethernet-Netzwerk an den ATM-Backbone-Switch. Der zentrale Switch/Router übernimmt damit das Switching auf das parallele ATM-Lernmedien-Netz.

Als vorteilhaft für die gesamte Netzwerk-Projektierung und schließlich auch Installation erwies sich, daß hier eine Lösung quasi "auf der grünen Wiese" aufgebaut werden konnte. Die Planer waren frei in der Gestaltung und mußten keine "Altlasten" berücksichtigen.

Auf das ungewöhnliche Lern-Netz für die Jugendlichen ist Noack zurecht stolz: "Das ist die einzige Installation in dieser Form in der deutschen BBW-Landschaft für Sprach- und Hörgeschädigte."