Asien hat die Nase vorn

09.05.2003
Die Version 6 des Internetprotokolls bietet im Vergleich zu IPv4 viele Vorteile, etwa eine fast unbegrenzte Zahl von IP-Adressen und integ-rierte Sicherheitsfunktionen. Dennoch stößt IPv6 in Europa und Amerika noch auf relativ geringe Resonanz. Völlig anders ist das in asiatischen Ländern.

Von: André Zehl, Bernd Reder

Aufmerksame Beobachter wissen seit längerem um die Dynamik im IPv6-Umfeld. Betriebssysteme wie Windows XP und .NET Server 2003, mehrere Linux-Distributionen sowie Solaris unterstützen inzwischen das neue Protokoll. Auch Router-Hersteller wie Juniper und Cisco bieten technische Hilfe und Trainingsprogramme für den Umstieg auf IPv6 an.

Dennoch hält sich speziell in Europa und Amerika die Begeis-terung für das Protokoll in Grenzen. Ganz anders ist die Situation in Südostasien. Dort gibt es einen regelrechten Leidensdruck, zu IPv6 zu wechseln. Ein Indiz dafür ist die Tatsache, dass Ende des Jahres 2000 eine amerikanische Universität mit ihrem Class-A-Netzwerk mehr IPv4-Adressen zur Verfügung hatte als die gesamte Volksrepublik China (siehe Ticker oben).

Unterstützung durch die Regierung

Gleiches gilt für Japan. Dort erfreuen sich selbst bei Privatkunden ADSL-Zugänge mit bis zu 8 MBit/s und 1,5 MBit/s Up-load wachsender Beliebtheit. IMode, eine auf IP basierende Mobilfunk-Technik, ist schon lange ein Renner. Für Notebooks und Personal Digital Assistants (PDAs) bietet NTT Docomo, Japans führender Mobilfunkanbieter, seit 2001 eine schnelle, mobile Datenübertragung mit bis zu 384 kBit/s an - den 3G-Wideband-CDMA-Service "Foma" (CDMA = Code Division, Multiple Access).

Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass IPv6 in Japan auf breites Interesse stößt. So unterstützten in den vergangenen Jahren viele Universitäten, Forschungseinrichtungen und Unternehmen die Arbeiten an dem Standard. Auch die japanische Regierung gibt Hilfestellung: Alle Internet-Serviceprovider und Betreiber von IP-Back-bone-Netzen, die IPv6 einsetzen, zahlen eine Zeit lang weniger Steuern. Auf diese Weise will die Regierung die Akzeptanz und Verbreitung von IPv6 fördern.

Eine der bekanntesten Referenz-Implementierungen von IPv6, der "Kame"-Stack, stammt aus dem japanischen ""Wide"-Projekt (Widely Integrated Distributed Environment). An ihm beteiligen sich über 100 Firmen, 30 Universitäten und 300 bis 400 Forscher. Das Projekt umfasst mehrere Software-Entwicklungsvorhaben im IPv6-Umfeld. Zu den Unterprojekten von Wide gehört auch "Tahi"", das sich mit der Interoperabilität und Konformitätstests für IPv6 beschäftigt, sowie "Usagi", das IPv6 im Zusammenspiel mit Linux zum Thema hat. Außerdem betreibt Wide den japanischen Exchange-Punkt NSPIXP6 sowie gemeinsam mit dem Information Sciences Institute der University of Southern California einen DNS-Root-Server für IPv6 (Domain Name Service).

IPv6 zum Anfassen in der Galleria

Aus dem Umfeld von Wide stammt auch die Idee, IPv6 in Japan publikumswirksam zu vermarkten. Hierzu initiierte die japanische Regierung das "IPv6 Promotion Council" (IPv6PC). Ihm gehören etwa dreihundert Mitglieder aus Industrie und Forschung an. Das Council hat in Tokio und Osaka die "Galleria IPv6" eingerichtet. Dort erhalten Interessenten nicht nur Informationsmaterial, sondern können auch zahlreiche Ausstellungsstücke in Augenschein nehmen, die den Stand der IPv6-Entwicklung illustrieren.

So ist beispielsweise der fast schon legendäre Internet-Kühlschrank mit IPv6-Unterstützung zu besichtigen. Er informiert darüber, welche Vorräte in ihm lagern, zeigt Kochrezepte auf seinem Display an, übermittelt E-Mail-Sonderangebote des Supermarkts und ermöglicht bei Bedarf auch Videokonferenzen aus der Küche.

Die Galleria IPv6 wäre kaum mehr als ein "Farbtupfer", wenn IPv6 in Japan nicht in vielen anderen Bereichen Einzug gehalten hätte. So hat der japanische Internet-Serviceprovider IIJ bereits mehrere hundert IPv6-Anwender, zu einem Großteil Geschäftskunden. Mehrere japanische Netzbetreiber, wie KDDI, NTT und IIJ, bieten IPv6-Unterstützung an. NTT offeriert als Standard für Einwahl- und ADSL-Kunden in Kürze Dual-Stack-Systeme, die sowohl für IPv4 als auch IPv6 ausgelegt sind.

Dass die japanischen Router-Hersteller inzwischen fast durchgängig IPv6 unterstützen, ist vor diesem Hintergrund nicht verwunderlich. Vorreiter ist Hitachi, das seine Systeme seit einiger Zeit auch auf dem europäischen Markt anbietet. Andere Produkte sind allerdings im europäischen Markt bislang weniger bekannt oder nur in Japan verfügbar. Dennoch haben Firmen wie NEC, Fujitsu und Yamaha IPv6-Produkte im Angebot. Fujitsu zeigte auf der Messe Network World in Tokio im vergangenen Jahr ein komplettes IPv6-Netzwerk, das der Konzern mithilfe von Routern der Serie "Geostream" aufbaute. Darüber liefen Anwendungen wie Streaming und Multicasting.

Die Firmen unterstützen IPv6 jedoch nicht nur im Backbone-Netz. So bieten NEC, IIJ und Yamaha ADSL-Access-Router an. IIJ Media Communications hat den IPv6 Summit 2002 am 19. Dezember erstmals über IPv6 Multicast und Windows Media 9 in ganz Japan übertragen.

Sicherlich wird es auch in Japan noch einige Zeit dauern, bis IPv6 das altbekannte IPv4 abgelöst hat. Dass aber 300 japanische Firmen aus den unterschiedlichsten Sparten, darunter fast alle Großkonzerne, im IPv6 Promotion Council mitarbeiten, ist ein Indiz dafür, dass Japan IPv6 als Technologie wesentlich stärker wahrnimmt als Europa oder Amerika. Das japanische Modell vermittelt bereits jetzt einen guten Eindruck, wie ein Internet auf Grundlage von IPv6 aussehen könnte.

Doch auch in Europa tut sich einiges: So beauftragte die Europäische Kommission vor zwei Jahren eine Taskforce, einen Plan für die Umstellung auf IPv6 auszuarbeiten. Als Zeitrahmen wurde das Jahr 2005 vorgegeben. Im September vergangenen Jahres erteilte die Kommission der Arbeitsgruppe das Mandat, in den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union IPv6-Taskforces einzurichten. In Deutschland formierte sich ein solches Gremium im April. Das erste Treffen fand Anfang Mai in Berlin statt. (re)

Zur Person

Dr. André Zehl

leitet den Bereich Mediensysteme des Geschäftsbereichs Systems Integration von T-Systems in Berlin.