"Inemuri"

Wie die Japaner Power Napping nutzen - und trotzdem leiden

Szenen von in der Bahn schlafenden Geschäftsleuten gehören im Westen zu den gängigen Japan-Klischees. "Inemuri" nennen die Ostasiaten den Kurzschlaf zwischendurch. Mittagsschlaf gilt zwar als gesund. Doch Experten schlagen Alarm: Denn Japaner schlafen insgesamt zu wenig.

Immer wieder sackt der Kopf des Japaners auf die Schulter seines Sitznachbarn. Wie er sitzen an diesem Abend gleich mehrere Geschäftsleute auf den Bänken der U-Bahn und schlafen. Zwei anderen Berufspendlern gelingt das sogar im Stehen. Geschickt haben sie die Hände in den Halteringen der Bahn so verkeilt, dass sie ihren Kopf dagegen lehnen können. Immer wieder knicken sie zuckend in den Knien zusammen, richten sich auf und schlummern weiter. Szenen wie diese in einer U-Bahn in Tokio gehören zu den weltweit am verbreitetesten Klischeebildern von Japan. Aber es ist kein Klischee, sondern Realität. "Die ganze Nation leidet unter chronischem Schlafmangel", stellt Professor Kazuo Mishima, Schlafexperte am National Center of Neurology and Psychiatry, fest.

Auf die Bedeutung der erholsamen Bettruhe will in Deutschland der "Tag des Schlafs" am 21. Juni aufmerksam machen. Anders dagegen in Japan: Wenig zu Schlafen gilt dort seit langem als ein Zeichen für harte Arbeit, Fleiß und Überstunden. "Fumin Fukyu" ("Ohne Schlaf, ohne Pause") ist in der drittgrößten Volkswirtschaft der Welt noch immer ein erstrebenswerter Arbeitsethos. Nach einer Untersuchung der amerikanischen National Sleep Foundation schlafen die Japaner mit im Durchschnitt nur sechs Stunden und 22 Minuten am Tag weniger als ihre Mitmenschen in anderen Ländern wie Deutschland, den USA, Großbritannien, Mexiko oder Kanada.

Um dies auszugleichen, bedienen sich die Japaner einer Methode, die in westlichen Ländern noch wenig akzeptiert ist, in Japan dagegen sogar von der Regierung empfohlen wird: das Power Napping, der Kurzschlaf am Tag zum Wiederauftanken der Batterie. Nicht immer allerdings ist das Einschlafen gewollt, oft fallen die Augen auch schlicht aus Schlafmangel zu. "Inemuri" nennt sich das Nickerchen in Japan. Die beiden Schriftzeichen verbinden "anwesend sein" und "Schlaf". Ob beim Pendeln, im Büro oder der Kantine, bei Konferenzen oder im Parlament - Japaner können überall schlafen.

Nickerchen an sich gelten als gesundheitsfördernd, sollen Stress verringern und die Aufmerksamkeit erhöhen. Das japanische Gesundheitsministerium empfiehlt in seinen Richtlinien ausdrücklich einen Kurzschlaf am frühen Nachmittag, der allerdings nicht länger als 30 Minuten dauern sollte. Die Wirtschaft zieht mit. So führte die Renovierungsfirma Okuta Corporation 2012 den Power Nap ein und erlaubt seinen etwa 300 Angestellten, einmal am Tag 15 Minuten zu schlafen. "Dank des Mittagsschlafs mache ich weniger Fehler beim Tippen", schildert eine Mitarbeiterin. Die Internetfirma GMO Internet stellt ihren Mitarbeitern eigens 30 Sofas in einem Konferenzraum für den Power Nap zur Verfügung.

Auch in anderen Firmen ist es nichts Ungewöhnliches, wenn Mitarbeiter am Schreibtisch oder während der Mittagspause in der Kantine kurz schlafen. Wichtig ist aber, Verhalten und Körperhaltung der Umgebung anzupassen - schnarchen oder Füße hochlegen im Büro sind verpönt. Es gibt in Tokio inzwischen sogar Cafés, die sich auf Power Napping spezialisiert haben. Das "Corne" zum Beispiel bietet berufstätigen Frauen zwischen Terminen oder während der Jobsuche die Möglichkeit, zu ruhen. 10 Minuten Power Nap für 160 Yen (ein Euro).

Sind die Japaner mit ihrer vermeintlichen Fähigkeit, wie auf Knopfdruck im öffentlichen Treiben einschlafen zu können, also ein Vorbild für unsere hektischen westlichen Gesellschaften? Manche japanischen Experten sind eher besorgt über die Lebensweise ihrer Landsleute. "Chronischen Schlafmangel kann man nicht durch Mittagsschlaf ausgleichen", erklärt Professor Makoto Uchiyama von der Universität Nihon Daigaku. "Schlafmangel führt nicht nur zu geringerer Konzentration und schlechteren Leistungen, sondern auch zu Unfällen im Verkehr oder der Industrie", warnt auch Professor Mishima vom National Center of Neurology and Psychiatry.

Nach seiner Statistik gingen im Jahr 1941 noch 90 Prozent der Japaner kurz vor 23 Uhr Schlafen. 1970 legte sich die Mehrheit erst gegen Mitternacht ins Bett, zur Jahrtausendwende verschob sich die Einschlafzeit auf ein Uhr nachts. Zugleich aber stehen die Japaner seit 1970 morgens immer zur gleichen Zeit auf, das heißt, die Dauer des Schlafes ist kürzer geworden, schreibt Mishima. Das geht schon im Kindesalter los. Nach einer Untersuchung des Kultusministeriums bekommen japanische Mädchen und Jungen im internationalen Vergleich am wenigsten Schlaf ab. So geht etwa ein Drittel der Kinder unter vier Jahren später als 22 Uhr ins Bett.

Als ein Grund gilt die viele Zeit, die japanische Kinder im Internet verbringen. Eine weitere Ursache ist der immer stärker werdende Bildungswettbewerb. Neben dem Schulunterricht besuchen japanische Kinder obligatorische Sportclubs und anschließend bis häufig spät in den Abend noch spezielle Paukschulen, so dass am Ende kaum noch Zeit zum Schlafen bleibt. Genau wie ihre Väter und Mütter. Wobei schon Babys und Kleinkinder in Japan ohnehin oft jahrelang mit den Eltern oder Großeltern zusammen schlafen.

Japanische Experten machen denn auch den Lebensstil der Erwachsenen mitverantwortlich für den Schlafmangel und gestörten Tagesrhythmus der Kinder. Untersuchungen zufolge leidet inzwischen jeder Fünfte Japaner unter einer Schlafstörung. Fachleute und auch die Regierung schlagen daher Alarm. "Früh schlafen, früh aufstehen und frühstücken", mahnt die Regierung die Bürger. Trotz des weit verbreiteten Power Naps stoße Japan an seine Grenzen, die ganze Nation leide unter chronischem Schlafmangel, warnt Mishima. "Wir müssen das als ein Problem der gesamten Gesellschaft begreifen". (dpa/ad)