"Kapitalismus geht in Richtung Social"
Das Business wird social
Wenn Marktforscher von Experton und Gartner zur Erklärung des Phänomens Social Media nicht auf nackte Zahlen zurückgreifen, sondern auf den Philosophen Jean-Jacques Rousseau und den Taylorismus, dann ist das entweder eine Themaverfehlung oder der Beleg, dass in der (IT-)Welt große Umwälzungen anstehen.
Schon mit der Überschrift ihrer Untersuchung machen die Gartner-Analysten Nigel Rayner, Carol Rozwell, Thomas Otter und Christopher Iervolino klar, dass sie das große Ganze in den Blick fassen: Sie betiteln ihren Maverick Research mit "Kapitalismus geht in Richtung Social. Oder: Wie Technik die 99 Prozent befähigt, ihr Geschäft für immer zu verändern".
Damit nicht genug: Ihrer Meinung nach läuft der 1762 von Rousseau ausgerufene Gesellschaftsvertrag Gefahr, seine Gültigkeit zu verlieren. Im Gegensatz zu Rousseaus Verständnis des Contract Social allerdings grenzen die vier Gartner-Autoren den Begriff - wohl in der Erkenntnis, hier einen sehr ambitionierten Diskurs zu eröffnen - auf einen Gesellschaftsvertrag zwischen Geschäftswelt (Business) einerseits und Gesellschaft (Society) andererseits ein. Mit dieser begrifflichen Verschränkung schaffen sie die Grundlage, von der aus sie ihre Vorstellung erklären: Das Phänomen der sozialen Medien und damit der Kommunikation und Informationsverbreitung im Internet wird die Art, wie Unternehmen sich organisieren und ihre Geschäfte betreiben, vom Kopf auf die Füße stellen.
Die Analysten wollen belegen, dass die Prinzipien des Agierens in sozialen Medien auch der Leitfaden für künftige Unternehmensführungen sein müssen. Durch das Internet und die Kommunikationsoptionen der sozialen Netze seien Vorstellungen von Offenheit, Transparenz und kollaborativen Arbeitsweisen unabhängig von Ort und Zeit ins Zentrum der öffentlichen Diskussion gerückt. Sie seien die Vorgaben, nach denen Unternehmen künftig nach innen und außen agieren müssten.
- 6 Wege zu besserer Zusammenarbeit
Mit einem Appell zu "Extreme Collaboration" rufen die Analysten zu intensiverer Kommunikation auf - etwa mittels Crowdsourcing und Social-Media-Analysen. - 1. Web-basierter Collaboration einen Platz verschaffen:
Der Einsatz virtueller und web-basierter Collaboration im Arbeitsalltag der Mitarbeiter sollte nach Gartner-Einschätzung aktiv befördert werden. Die Analysten raten dabei zum Experimentieren. Ein Ansatz sei die gezielte Auswahl einer bislang auf traditionellem Wege – also durch persönliche Meeting oder E-Mail – erledigten Aktivität. Die Mitarbeiter sollten dazu ermuntert werden, diese Tätigkeit künftig möglichst via web-basierter Collaboration zu erledigen. - 2. Near-Real-Time-Communication nutzen:
Stimuliert werden sollte laut Gartner auch die fast in Echtzeit verlaufende Kommunikation in den sozialen Netzwerken – also das Bloggen, Twittern oder Updaten von Facebook-Seiten. „Das Etablieren von Real-Time Communication-Gewohnheiten am Arbeitsplatz ermöglicht einen freieren Informationsfluss und proaktivere Mitteilungen, so dass die Leute schneller auf unerwartete Ereignisse und Störungen antworten können“, so die Analysten. - 3. Crowdsourcing und populäre Social-Media-Tools nutzen:
Als Trigger für einen dynamischen Gedankenaustausch zu einem aktuellen Problem empfiehlt Gartner, einen “Tweet Jam” ins Leben zu rufen. Man müsse nur einen Zeitrahmen und ein Thema festlegen und die Mitarbeiter zur Teilnahme am Brainstorming animieren. „Anders als bei Diskussionen im Meeting Room wird die Kommunikation festgehalten“, so Gartner. - 4. Belohnungssysteme verändern:
Statt alleine individuelle Leistungen und punktuelle Erfolge zu honorieren komme es bei XC darauf an, auch kollaboratives Handeln im Team zu belohnen, das zur Lösung komplexer Probleme beiträgt. „Der Einsatz von Collaboration-Technologien macht es auch einfacher, gemeinschaftliches Verhalten nachzuverfolgen und direkt mit den erreichten Resultaten zu verknüpfen“, so Gartner. - 5. Messungen mit Social Network Analysis:
Mit Social Network Analysis (SNA) und manchen Social-Media-Seiten lässt sich der Einfluss bestimmter Menschen in sozialen Netzwerken beobachten. Eine XC-Kultur basiere auf Offenheit, Vertrauen und gegenseitigem Respekt, erläutert Gartner. SNA sei eine Technik, die bei der Identifizierung starker sozialer Netzwerke mit dieser Grundlage helfe. - 6. Kick-Start durch Gruppen-Events:
Mit Hilfe weniger einfacher Schritte kann man laut Gartner Mitarbeiter aus der Komfortzone holen und zum Ausprobieren neuer Arten von Collaboration und Interaktion bewegen. Ein Beispiel sei es, interne Experten via mobiler Videos in Meetings zu holen. E-Mail könnte für eine bestimmte Zeitspanne intern abgeschaltet werden. Auch Gamification – also der Einsatz Computerspiel-basierter Techniken – sei eine Möglichkeit, alte Gewohnheiten aufzubrechen, so Gartner.
Zerstörungspotenzial
Die Analysten behaupten: Werkzeuge wie etwa Cloud, kollaborative Software und Apps hätten ein kreatives Zerstörungspotenzial entwickelt, das herkömmliche Strukturen von Betriebsorganisationen ins Wanken bringe - ebenso die heutigen Arbeits- und Kooperationsverhältnisse. Diese durch Social Media entstandenen Veränderungen müssten, so die vier Autoren, von Managern und CIOs erkannt und kreativ genutzt werden.
Es ist kein Zufall, dass der Maverick-Research-Report auf die "99 Prozent" rekurriert. Die Analysten setzen die 99 Prozent mit dem Teil der Bevölkerung gleich, der - ganz im Sinne Rousseaus - den Allgemeinwillen (volonté générale) der Gesellschaft repräsentiere. Dass sie sich mit ihrem Ansatz möglicherweise vom Gartner-üblichen Analystenduktus absetzen, ist den Autoren durchaus klar. Deshalb schreiben sie vorsichtshalber: "Maverick Research bietet ganz bewusst unkonventionelle Denkanstöße. Diese mögen mit offiziellen Gartner-Positionen nicht übereinstimmen."
Solch ein Ausrufezeichen spart sich Experton-Analyst Oliver Giering. Er ist aber in der Einschätzung dessen, wie soziale Medien Beschäftigungs- und Geschäftswelten beeinflussen werden, nicht minder deutlich. Seine Analyse betitelt er mit "Social Business als disruptiver Faktor der Arbeitswelt". Seine These: Social Business ist nicht nur eine Facette von vielen Geschäftsprozessen. Vielmehr bezeichne der Begriff eine disruptive Kraft, die der Duden-Definition gemäß geeignet ist, "ein Gleichgewicht, ein System zerstören" zu können. Aus der Ferne winkt Joseph Schumpeter.