Auf Sendung

Zu einer Schlüsseltechnik für die Kommunikationsinfrastruktur der Zukunft könnte sich IP-Multicasting entwickeln. Ursprünglich auf die simultane Datenübertragung an Gruppen in lokalen Netzen beschränkt, erlaubt die Verfügbarkeit geeigneter Routing-Protokolle jetzt den Einsatz im weltweiten Internet und somit die Verteilung von Produkten oder Informationen an Millionen Empfänger.

Von: Dr. Carsten Bormann, Nils Seifert

Nahezu alle heute eingesetzten TCP-Anwendungen sind typische Punkt-zu-Punkt-Übertragungen; Unicast überträgt die Daten immer nur an genau einen Empfänger. Sind die Daten für mehrere Empfänger bestimmt, erfolgt dementsprechend eine Mehrfachaussendung. Ein Broadcast überträgt dagegen die Daten an alle Netzknoten, beispielsweise alle Systeme eines IP-Subnetzes. Es gibt keine Möglichkeit, die Gruppe der Empfänger differenzierter zu spezifizieren. Eine Mehrfachsendung der Daten entfällt in der Regel. Die Inhalte erreichen aber auch diejenigen, die nicht an den Daten interessiert sind, und verursachen so erhöhte Netz- und Rechnerlast.

Als eine Kombination aus Unicast und Broadcast vereint die Multicast-Technik die Vorteile beider Verfahren (Bild 1). Multicast ermöglicht die Übertragung von Daten an eine genauer definierte Empfängergruppe. Hier melden sich die Empfänger beim "Netz" für den Erhalt von Paketen einer bestimmten Multicast-Adresse an. Ein Sender braucht daher, unabhängig von der Anzahl der Adressaten, ein Datenpaket nur einmalig auszusenden. Das Netz übernimmt das Weiterleiten des Paketes und vervielfältigt das Paket an geeigneten Stellen möglichst dicht bei den Empfängern (Bild 2).

Die Vorteile für den Einsatz von IP-Multicast liegen auf der Hand. Sie führen direkt zu Kostenreduzierung und Performance-Steigerung, oftmals der Erhöhung der Verfügbarkeit und machen einige Anwendungen aufgrund der guten Skalierbarkeit überhaupt erst möglich. Die Vorteile im Einzelnen:• Verringerung der Netzlast: Dabei ergeben sich oftmals erhebliche Einsparungen bei den Zugangsbandbreiten der Anwender. Die Netzbetreiber profitieren von einer deutlich verringerten Last im Backbone.• Verringerung der Übertragungsverzögerung: Daten brauchen nur einmalig ausgesandt zu werden und können so alle gleichzeitig erreichen. Das Versenden der Daten hintereinander an jeden einzelnen Empfänger ist nicht nötig.• Reduzierte Belastung des Senders: Da die Daten nur einfach ausgesandt werden, kann ein Rechner simultan auch Tausende von Adressaten versorgen. Oftmals wird so eine breitbandige Versorgung großer Übertragungsgruppen überhaupt erst möglich (Bild 3).

Einsatzfelder

Mit der Digitalisierung von Fernsehen, Video, Hörfunk und Printmedien nimmt der Bedarf an Broadcast- und Multicast-Übertragung rasant zu. Generell ist der Einsatz von IP-Multicast immer dann zu erwägen, wenn weitgehend identische Daten an Gruppen zu übertragen sind. Die sich daraus ergebenden Einsatzfelder sind vielfältig und umfassen beispielsweise:• Audio- und Videoübertragungen;• Content-Push/-Distribution: Informationsdienste wie Nachrichten, Wetter, Börse und Verkehr, Zeitschriften, Video-/Audioabbonements, Software-Updates;• Verteilung zentraler Datenbestände: Informationskioske, Produktdatenbanken, Service- und Schulungsunterlagen, Replizierung von Web-/Content-Servern, verteilte Wertschöpfungs-prozesse bei Verlagen/Druckereien oder Beratungsdiensten;• Collaboration & Conferencing: Shared Applications/Editing, Konferenzsteuerung, Integration in ITU T.120, verteilte Simulationen und Multiuser-Spiele;• verteilte Anwendungssysteme: Web Caching oder verteilte Dateisysteme.

Für die Auswahl beziehungsweise das Design konkreter Anwendungen und Dienste müssen jedoch die technischen Rahmenbedigungen berücksichtigt werden. Dazu gehören das IP-Multicast-Dienstmodell, Routing, der Einsatz unterschiedlicher Netze, existierende Produkte und die aktuelle Standardisierung.

IP-Multicast-Adressen

Wie alle IP-Adressen haben auch IP-Multicast-Adressen eine Länge von 32 Bit (IP Version 4). Mit dem Internet RFC 1112 wurde für IP-Multicast die Nutzung der Adreßklasse D eingeführt (Bild 4). Für die Gruppenadresse stehen 28 Bit zur Verfügung, so daß sich 228 Gruppen unterscheiden lassen. Im Gegensatz zu normalen IP-Adressen, die weitgehend fest einem System zugeordnet sind, werden IP-Multicast-Adressen nur für die Dauer des Datenaustauschs genutzt. Derzeit wählen die Anwendungen, oder auch die Nutzer, einfach eine der 228 Adressen aus und teilen Sie allen gewünschten Mitgliedern der Gruppe mit - sofern die Adressen nicht vorkonfiguriert sind. Dadurch kann es vereinzelt zur doppelten Nutzung von IP-Multicast-Adressen kommen. Eine Arbeitsgruppe der "Internet Engineering Task Force" (IETF) entwickelt daher ein mehrstufiges Verfahren, um Anwendungen eine zeitlich befristete Reservierung von IP-Multicast-Adressen zu ermöglichen.

Die Wahrscheinlichkeit für die doppelte Nutzung einer Multicast-Adresse verringert sich zusätzlich durch die begrenzte "Reichweite" der IP-Pakete. Diese Einschränkung erfolgt durch das initial beim Senden gesetzte Time-To-Live-Feld (TTL), das jeder Router beim Weiterleiten um eins verringert. Als zusätzliche Router-Konfiguration dienen TTL-Scopes für IP-Multicast-Pakete. So steht beispielsweise 1 für "lokales Netz", 15 für "Site" 63 für "Kontinent" und 127 für "Welt". Alternativ zum TTL-Verfahren lassen sich auch bestimmte Adreßbereiche administrativ in ihrer Reichweite beschränken (Administratively Scoped IP Addresses).

Mit IP Version 6 und seiner Adreßlänge von 128 Bit wird natürlich alles viel besser. Es stehen 112 Bit für Gruppenadressen zur Verfügung, wobei zusätzlich vier Bit weitgehend analog zu den bisher genutzten Scopes die maximale Reichweite der IP-Pakete im Netz angeben.

Pakete, die im IP-Multicast-Verfahren verschickt werden, gehen an eine ausgewählte Gruppenadresse. Empfänger schließen sich einer Gruppe unter Angabe der Gruppenadresse selbstständig an (Join the Group) und drücken damit ihr Interesse aus, die entsprechende Daten zu empfangen. Die Router arbeiten zusammen, um die Daten an alle Empfänger der Gruppe auszuliefern. Ansonsten gilt das normale IP-Modell der "Best Effort Delivery". Daher ist nicht garantiert, daß keine Pakete verloren gehen oder die Adressanten in unterschiedlicher Reihenfolge erreichen.

Empfänger wissen also nicht, wer senden wird. Die Absenderadresse steht aber in den letztendlich empfangenen Paketen. Umgekehrt wissen die Sender nicht, wer die aktuellen Empfänger sind und können dies auch nicht leicht herausfinden. Die Koordination des Datenaustausches und der Gruppenzugehörigkeit ist daher Aufgabe höherer Protokollschichten, also oberhalb IP / Schicht 3. Dagegen brauchen weder höhere Protokollschichten der Sender noch der Empfänger etwas über die Netztopologie zu wissen. Dies ist allein die Aufgabe der Router und ermöglicht so die für IP-Multicast charakteristische effektive Nutzung der verfügbaren Netzressourcen.

IP-Multicast-Routing

Für die Unicast-Datenübertragung erkennen Router anhand der IP-Adressen und Netzmasken ihrer eigenen Interfaces, welche IP-Adressen in den angebundenen Netzsegmenten genutzt werden. IP-Multicast-Adressen machen es den Routern schwer, weil jeder Rechner jederzeit in beliebige IP-Multicast-Gruppen ein- beziehungsweise austreten kann und also prinzipiell Pakete an beliebige Gruppe senden kann. Daher nutzen Router und Endgeräte das in quasi alle Betriebssysteme integrierte "Internet Group Management Protocol" (IGMP, RFC 1112/2236). Will ein Endgerät die Daten einer Multicast-Gruppe empfangen, sendet es ein sogenanntes "IGMP Join". Zusätzlich fragt ein Router periodisch alle an ein Segment angebundenen Endgeräte nach den aktuellen Gruppenzugehörigkeiten. Der IGMP-Datenaustausch wird dabei auf Multicast-Adressen durchgeführt, so daß ein Router parallel alle Endgeräte abfragen kann und diese die Antworten anderer Endgeräte einer Gruppe ebenfalls empfangen. Dadurch sendet in der Regel pro Multicast-Gruppe nur ein Endgerät einen Report. Empfängt ein Router für einige Zeit keine Reports für eine bestimmte Multicast-Adresse, hört er auf, Pakete dieser Gruppe in das entsprechende Subnetz weiterzuleiten.

Die eigentlichen Multicast-Routing-Protokolle sind sehr komplex und werden bei weitem nicht von jedem Router im Internet unterstützt. Der Internet Multicast Backbone (Mbone) besteht daher überwiegend aus Tunneln (IP in IP Encapsulation), mit denen nicht Multicast-fähige Netze überbrückt werden. Dabei kommt innerhalb des Mbones das "Distance Vector Multicast Routing Protocol" (DVMRP) zum Einsatz. Es gibt aber mehrere inzwischen ausreichend erprobte Multicast-Routing-Protokolle, die direkt mit der Software der meisten Router zur Auslieferung kommen. Der Aufbau von Multicast-fähigen Corparate Networks ist daher heute problemlos möglich. Zu diesen Protokollen zählen das um Multicast erweiterte "Open Shortest Path First Routing" (MOSPF) und PIM (Protocol Independent Multicast), das unabhängig vom genutzten Unicast-Routing-Protokoll auf dessen Topologieinformationen zurückgreift.

Für die Administratoren mittelgroßer Corporate Networks ist das "Einschalten" von IP-Multicast-Routing bereits so einfach, daß es sich beispielsweise Cisco nicht nehmen ließ, die notwendigen drei Kommandos auf einem Kärtchen in der Größe einer EC-Karte zusammenzufassen. Die Verfahren zum Domain-übergeifenden Multicast-Routing sind dagegen noch nicht vollständig geklärt und Thema mehrerer Arbeitsgruppen der IETF.

Abbildung auf Schicht 2

Ethernet und andere IEEE-802-Netze unterstützen Multicast-Adressen direkt. Ethernet-Adapter lassen sich so programmieren, daß sie auch Pakete von Gruppen-Adressen empfangen. Dazu erfolgt eine Abbildung der IP-Multicast-Adressen auf MAC-Adressen. Die unteren 23 Bit des Ethernet-Adreßbereichs 01-00-5E-xx-xx-xx sind für Gruppenadressen reserviert (Bit 24=1). So können die unteren 23 Bit der insgesamt 28-Bit-langen IP-Gruppenadresse direkt übernommen werden. Durch das Ignorieren der Bits 24 bis 28 der IP-Gruppenadresse lassen sich jeweils 32 IP-Multicast-Adressen auf eine Hardware-Adresse abbilden. Eine Unterscheidung erfolgt dann erst auf IP-Ebene. In klassischen 802-Netzen erfolgt das Freischalten von Gruppenadressen auf den Netzwerkadaptern dabei vollständig autonom durch das Endgerät.

In ATM-Netzen ermöglicht die LAN-Emulation (LANE) Version 1.0 Multicast-Datenaustausch über den "Broadcast and Unknown Server" (BUS). Multicast-Pakete werden zunächst an den BUS und von diesem über einen Punkt-zu-Mehrpunkt-VC an alle Systeme eines emulierten LANs (ELANs) übertragen. Zur Einschränkung der Ausbreitung der Multicast-Pakete ist oftmals die Konfiguration eines separates ELANs empfehlenswert. In der Version 2.0 können, koordiniert über den "Selective Multicast Server (SMS)", direkt Punkt-zu-Mehrpunkt-VCs von den Sendern zu allen Empfängern aufgebaut werden. Bei Einsatz von "Classical IP over ATM" erfolgt die Unterstützung durch den "Multicast Address Resolution Server" (MARS).

SMDS (Datex-M) und Frame-Relay realisieren Multicast über eine Abbildung auf Broadcasts innerhalb statisch konfigurierter Netzbereiche. Unabhängig von der statischen Konfiguration im Wide-Area-Bereich lassen sich in angebundenen Local-Area-Netzen, wie Ethernet oder FDDI, ohne zusätzliche Konfiguration beliebige Empfänger anbinden. Beide Netzbereiche profitieren dabei voll von den Vorteilen der reduzierten Netzbelastung. Aber auch über traditionelle WANs wie ISDN-Verbindungen, Standleitungen oder X.25-Netze ist der Einsatz von Multicast empfehlenswert, weil dieses Verfahren einen transparenten Übergang in lokale Netze ermöglicht und die Datenverteilung und Datenvervielfältigung in der alleinigen Zuständigkeit der Router verbleibt. So läßt sich die Verfügbarkeit des Systems erhöhen und die Komplexität senken.

Zudem unterstützen die in Breitbandverteilsystemen eingesetzten Cable-Modems Mehrpunktkommunikation. Sowohl die Zugangstechnik "Digital Subsciber Line" (xDSL) als auch der IEEE-1394-Standard "Firewire", dem in künftigen Heimnetzen eine große Bedeutung zukommen soll, erlauben Multicast-Funktionen.

Satellitenübertragung

Die Übertragung von IP-Multicast-Paketen ermöglicht es, unabhängig von der Verfügbarkeit eines Rückkanals, die Daten transparent in den lokalen Netzen der Empfänger weiterzuleiten. So kann beispielsweise über Satellit ausgestrahltes Business-TV live an allen Office-PCs empfangen werden, wobei pro Standort nur eine Satellitenempfangsanlage zum Einsatz kommt; gleiches gilt für die Datenübertragung. Bei Bedarf ermöglichen Verschlüsselungsverfahren Abhörsicherheit, Integrität und zugleich ein Tarifkonzept, das bis zu den Endnutzern der lokalen Netze reicht.

Basierend auf den bestehenden Verfahren sind zur Zeit Implementationen möglich, die keine absolut zuverlässige Kommunikation benötigen. Eine Vielzahl an Anwendungen ist dagegen auf einen gesicherten Datenaustausch angewiesen. Das bedeutet im einfachsten Fall, daß bei auftretenden Paketverlusten die entsprechenden Pakete erneut gesendet werden. Diese Anwendungen müssen ein "Reliable Multicast Transport Protokoll" nutzen - quasi ein TCP-Äquivalent für Mehrpunktkommunikation. Die innerhalb dieser Protokolle anzuwendenden Verfahren sind ausgesprochen komplex. Dabei gilt es maximale Skalierbarbeit, Effizienz, Reliablity und Ordering-Mechanismen bereitzustellen, die auch mehrere Sender innerhalb einer Gruppe unterstützen. Ein mögliches Protokoll wird im Internet-RFC 1301 beschrieben. In der Praxis kommen jedoch überwiegend proprietäre Protokolle zum Einsatz, wie sie beispielsweise von den amerikanischen Firmen Starburst und Globalcast sowie von Tellique (http// www.tellique.de), angeboten werden.

Multicast ist eines der aktuellsten Themen der Standardisierungsaktivitäten der IETF. Beispielsweise im Bereich IP-Multicast-Routing ist die Standardisierung schon sehr weit fortgeschritten sind. Verbleibende Fragen betreffen im wesentlichen den Informationsaustausch zwischen Routing-Domänen. Für den Bereich Reliable-IP-Multicast gibt es eine separate "Internet Research Task Force" (IRTF); dies ist eine Vorstufe zu einer oder mehreren Arbeitsgruppen, um ein komplexes Thema zunächst zusammenhängend zu diskutieren. Zudem gibt es neue Arbeitsgruppen für die Bereiche Adreßreservierung, Flußkontrolle und Multicast Verteilung von Netnews.

Standardisierung und Initiativen

Parallel erfolgte im September 1996 die Gründung der "IP-Multicast Initiative" (IPMI). Die IPMI ist eine Industrieinitiative mit dem Ziel, den Markt für IP-Multicast-Techniken zu entwickeln. Der Schwerpunkt ist die Bereitstellung der IP-Multicast-Konnektivität sowie die Realisierung von Audio- und Videodiensten. Inzwischen umfaßt die IPMI mehr als 80 Mitglieder, zu denen quasi alle namhaften Anbieter von Netzkomponenten, viele Service-Provider und Anbieter von Audio-/Video-Streaming-Software gehören.

Zusammenfassend gilt: Die Grundlagen für den Einsatz von IP-Multicast bis hin zur Netzwerkschicht sind heute vollständig realisiert. Gerade auch für Corporate Networks ergeben sich somit vielfältige Einsatzmöglichkeiten, durch sorgfältige Auswahl beziehungsweise sorgfältiges Design der eingesetzten Anwendungen erhebliche Kostensenkungen und Leistungssteigerungen zu erzielen. Und wer weiß, vielleicht ist die normale Punkt-zu-Punkt-Kommunikation künftig nur noch ein Sonderfall der Mehrpunktkommunikation? (gob)

Literatur

[1] Zehl, A.: Tunnel im Internet; gateway 5/96, S.94 ff.

[2] Zehl, A.: Auf Sendung; gateway 6/96, S.123 ff.

Web-Links

IP-Multicast Initiative: http://www.ipmulticast.com

IP-Multicast-Backbone-Visualisierung: http://www.caida.org/Tools/Manta