"Zwischen Freiraum und Überlastung"

Ein Job in der Informationstechnologie bietet den Beschäftigten ein hohes Maß an Eigenverantwortung. Aber häufig wird das Engagement zum Dauerstress. Trotzdem sehnt sich kaum jemand nach Bedingungen zurück, in denen der Chef anschafft, weiß Arbeitsmarktforscherin Dorothea Voss-Dahm vom Institut Arbeit und Technik in Gelsenkirchen.

Von: Wolfgang Kiersch

NetworkWorld: Welche Qualifikationen und Fähigkeiten erwarten IT-Firmen von ihren Mitarbeitern?

Dorothea Voss-Dahm: Bewerber müssen ein technisches Know-how, kommunikative Fähigkeiten und ein Bewusstsein für die Effizienz der eigenen Arbeitsweise aufweisen. Außerdem spielen "Soft Skills" eine große Rolle. Ohne soziale Kompetenz kann man auf Dauer nicht erfolgreich arbeiten.

NetworkWorld: Welche Rolle spielen die Mitarbeiter heute in den Unternehmen?

Voss-Dahm: Die Bedeutung des einzelnen Mitarbeiters für den Unternehmenserfolg ist im Vergleich zu früher gestiegen.

NetworkWorld: Was charakterisiert ein IT-Beschäftigungsverhältnis?

Voss-Dahm: Die Arbeit der Angestellten wird in der Regel indirekt durch Kosten- und Zeitvorgaben gesteuert, die durch die Kundenaufträge oder die Unternehmenszentralen vorgegeben werden. Bei der Erfüllung ihrer Aufgaben haben die Mitarbeiter einen großen Gestaltungsspielraum; der eigenen Kreativität und den Entfaltungsmöglichkeiten sind dabei wenig Grenzen gesetzt. Dadurch empfinden die Angestellten ihren Job als individuelle Herausforderung, sind aus eigenem Antrieb motiviert und machen sich die Anforderungen zu eigen. Dies führt dazu, dass sie sich gegenüber den Kunden und den eigenen Kollegen verpflichtet fühlen, gute Leistungen in einem festgelegten Zeitrahmen zu erbringen.

NetworkWorld: Was motiviert die Beschäftigten darüber hinaus?

Voss-Dahm: Viele Firmen fördern die Potenziale der Arbeitnehmer durch leistungs- und erfolgsabhängige Gehaltsbestandteile, Zielvereinbarungen sowie individuelle Qualifizierungspläne. In einigen Unternehmen können Beschäftigte Teile des Einkommens oder Überstundenguthaben beispielsweise für den Kauf eines Autos oder zum Freizeitausgleich verwenden.

NetworkWorld: Wie sieht der Arbeitsalltag in der Informationstechnologie aus?

Voss-Dahm: IT-Beschäftigte sind häufig direkt bei den Kunden vor Ort tätig. Dies verändert die räumliche Struktur in den Unternehmen. Viele Angestellte haben keine eigenen Büros mehr, sondern arbeiten an "E-Places", die aus einem Schreibtisch mit einer Steck-dose bestehen und nach der Benutzung wieder geräumt werden. Dadurch verliert das Unternehmen als sozialer Bezugspunkt für diese mobilen Beschäftigten immer mehr an Bedeutung.

NetworkWorld: Was hat das für Auswirkungen?

Voss-Dahm: Das kann zu einer hohen Mitarbeiterfluktuation führen. Auf den Wissensstand im Betrieb wirkt sich dies äußerst negativ aus, da ein großer Anteil des im Arbeitsprozess gewonnenen Wissens, das so genannte "Tacit Knowledge", nicht dokumentiert und damit nicht übertragbar ist.

NetworkWorld: Was gibt es für Ansätze zur sozialen Integration dieser Beschäftigten?

Voss-Dahm: Einige Unternehmen bemühen sich, die Angestellten über gemeinsame Freizeitaktivitäten zu erreichen. So gehen Teams beispielsweise gemeinsam ins Restaurant oder werden von der Firma zu Wochenenden mit sportlichen Aktivitäten eingeladen.

NetworkWorld: Die flachen Hierarchien in den Betrieben führen dazu, dass Karriere- und Einkommenssprünge in der Regel durch Firmenwechsel erzielt werden. Wie kann man Mitarbeiter an das Unternehmen binden?

Voss-Dahm: Um der Abwanderung entgegenzusteuern, können Firmen ihren Angestellten Fachkarrieren anbieten. Darunter versteht man, dass sie sich als Spezialist innerhalb der Technologie zertifizieren lassen.

NetworkWorld: Lange Arbeitszeiten gehören in der IT-Branche zum beruflichen Alltag. Warum ist dies so?

Voss-Dahm: Der genaue Zeitbedarf für die Erledigung einer Aufgabe kann in der Regel vorher nicht genau bestimmt werden. Zugesagte Termine müssen jedoch eingehalten werden, da sonst Vertragsstrafen drohen. Oft werden in solchen Situationen Zeitkonten eingeführt, um die Überstunden später in Freizeit auszugleichen. Das gelingt allerdings nicht immer.

NetworkWorld: Arbeiten die Angestellten nicht einfach nur mehr und unter höherem Druck als früher?

Voss-Dahm: Natürlich ist der Leistungsdruck in der IT-Branche enorm hoch und führt zu einer Verdichtung von Arbeit. Aber ein Aspekt ist sehr wichtig in diesem Zusammenhang: Für das Personal ergibt sich durch die weit gehende Zeitsouveränität ein realer "Freiheitsgewinn". Die Angestellten führen nur noch selten direkte Anweisungen aus. Sie sind häufig fasziniert von ihrer Arbeit und betrachten sie nicht als Job, sondern als berufliche und persönliche Aufgabe. Deshalb sehnt sich kaum jemand zurück in eine Situation, in der ein Vorgesetzter bestimmt.

NetworkWorld: Sind die Angestellten mit den langen Arbeitszeiten nicht unzufrieden?

Voss-Dahm: Viele Beschäftigte empfinden diese als Ausdruck einer intensiven Arbeitsweise, die angesichts des eigenen Interesses an den Aufgaben auch selbst gewollt ist. Eine extrem hohe Belastung über einen längeren Zeitraum ist jedoch weder effizient noch wünschenswert.

NetworkWorld: Welche Probleme treten bei dauerhafter Überlastung der Mitarbeiter auf?

Voss-Dahm: Hoher Arbeitsdruck stellt in Verbindung mit langen Arbeitszeiten langfristig ein gesundheitliches Risiko dar. Durch den Zeitmangel kommt auch die berufliche Fortbildung zu kurz.

NetworkWorld: Wie bekommt man die Situation wieder in den Griff?

Voss-Dahm: Alle Beteiligten müssen sich zusammensetzen und eine Lösung entwickeln. Häufig ist es hilfreich, wenn jemand von außerhalb einen Reflexionsprozess über die Situation anregt, der zu einer Veränderung führt.