Hannover Messe

Bei Industrie 4.0 kreiselt Deutschlands Kompass noch

Einnorden? Fehlanzeige! Bei der als Zukunftsmotor gelobten vernetzten Produktion findet Deutschland nicht so recht in die Startlöcher. Die Warnungen waren schon vor einem Jahr deutlich, die Branche selbst sparte nicht mit Kritik. Nun soll die Hannover Messe den Kurs zeigen.

Heinz Jörg Fuhrmann muss kurz schmunzeln bei der Frage, ob denn sein Stahlunternehmen auch schon vernetzt produziere in intelligenten Fabriken. "Mit Industrie 4.0 sind wir bei uns schon seit langem unterwegs", sagte der Chef des Salzgitter-Konzerns. "Etwa wenn es darum geht, sich mit Zulieferern und Kunden zu vernetzen oder darum, dass Bauteile ihre Bearbeitungsinformationen mitbringen."

Solche intelligenten Maschinenparks und smarte Anlagen gelten als die vierte industrielle Revolution nach Dampfmaschine, Massenproduktion und Automation - daher "Industrie 4.0" als Kunstname. Sie trifft die Produktion nicht mit der Wucht eines Umsturzes, aber sie fließt als wachsender Strom in den Fabrikalltag. "Auch die old-fashioned anmutende Stahlindustrie ist High-Tech", sagt Fuhrmann. "Für jedes Band, das wir walzen, werden tausende Daten benötigt."

Auf der weltgrößten Industrieschau Hannover Messe (13. bis 17. April) ist Industrie 4.0 aufs Neue das Thema. Kanzlerin Angela Merkel (CDU), Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) und die Granden der Verbände nutzen den globalen Branchentreff als 4.0-Kompass. Und da hat die Industrienation Deutschland noch Orientierungsbedarf. "Deutschland verliert den Anschluss an die Weltelite", warnte Industrielobby-Chef Ulrich Grillo vom BDI vor einem Jahr. Elektrotechnik-Präsident Friedhelm Loh gestand: "Wir wissen, dass die Amerikaner uns bei der technischen Software überlegen sind." Und Merkel riet den Akteuren: "Hängen Sie nicht zu sehr an Ihren alten einzelnen Branchen."

Und nun, ein Jahr später? Franz Gruber, Chef des 4.0-Pioniers Forcam, sagt: "Die Befürchtungen bewahrheiten sich. Die USA entwickeln bei Industrie 4.0 deutlich mehr Geschwindigkeit als Europa. Und das, obwohl unsere Unternehmen in vielen Branchen führend sind in der Fertigungstechnik." Forcam ist ein Beispiel für die Kraft vernetzter Produktion. Die Forcam-Software hilft in der Produktion etwa beim Turbolader-Spezialisten Mahle oder beim Autobauer Audi. Es geht um viel Geld, um Maschinenlaufzeiten, Flexibilität und Fehlervermeidung.

Innovationen wie diese zur Digitalisierung der Industrie sind für Deutschland, großer Maschinenbauer der Welt, ein Wohlstandsgarant - da sind sich Politiker und Funktionäre einig. Fast ein Viertel der Wirtschaftskraft hängt hierzulande direkt an der Industrie. "Doch unsere Politik und Verbände hängen fest in einem Gestrüpp aus Regeln, Kompetenzgerangel und Provinzdenken", schimpft Forcam-Chef Gruber.

Brancheninsider, die ungenannt bleiben wollen, bestätigen Gruber. Der Stillstand habe sich jüngst wieder zur Weltleitmesse CeBIT im März gezeigt. Da gaben Gabriel (SPD) und Forschungsministerin Johanna Wanka (CDU) bekannt, dass sich die bisherige Verbändeplattform Industrie 4.0 "nach erfolgreicher Arbeit" nunmehr "politisch und gesellschaftlich" breiter aufstelle und "sowohl thematisch als auch strukturell neu ausrichte". Neuer Name: Plattform Industrie 4.0.

Vizekanzler Gabriel sagte, das neue Vehikel solle "schnell zu ersten Ergebnissen kommen", damit Unternehmen endlich Praxisbeispiele testen und auch in Geschäftsmodellen umsetzen. Auf der Hannover Messe am 14. April würden "Ausblick, Zielrichtung und Agenda" präsentiert.

Gruber hält das für eine Bankrotterklärung. Er sagt: "Die erste Industrie-4.0-Initiative der Branchenverbände Bitkom, VDMA und ZVEI ist gescheitert." Für die neue Plattform hätten sich nun die beiden Bundesministerien Wirtschaft und Forschung den Hut aufgesetzt. "Das wird die Sache kaum beschleunigen", meint er skeptisch. Erste ganz konkrete Empfehlungen für nationale 4.0-Strategien, etwa beim Schlüsselthema Standards, gab ein Arbeitskreis zu Industrie 4.0 schon im April 2013 (PDF-Link).

In den USA läuft es anders. Im Industrial Internet Consortium (IIC) ziehen kleine und große Firmen, Verbände, Forschung und Regierung an einem Strang. Und mit Bosch spielt ausgerechnet ein deutscher Akteur eine Hauptrolle beim ersten veröffentlichten IIC-Innovationsprojekt. Dabei geht es um vernetzte Industriewerkzeuge - ein Praxisbeispiel, wie es die deutsche Plattform 4.0 erst noch finden will.

"Erste greifbare Ergebnisse" soll es zum Jahresende geben. Zeit bleibt kaum. US-Professor Jay Lee gibt zu bedenken, dass die USA das Thema im großen Rahmen dächten. "Der Ansatz der USA erstreckt sich über weit größere Areale als nur auf die bloße Produktion", sagt Lee. Er forscht an der Universität der Fabrikstadt Cincinnati und arbeitet für das Weiße Haus an einem Programm zur digitalisierten Fabrik.

Ähnliches kritisiert auch die deutsche Industrie hinter vorgehaltener Hand. Es gelinge hierzulande weniger, 4.0 in einem breiten Kontext als Geschäftsmodell entlang ganzer Wertschöpfungsketten zu denken - vom Lieferanten über Dienstleister und Produzenten bis zum Kunden. Der Fokus liege oft noch zu einseitig auf dem starken Maschinenbau. Gruber fasst das so zusammen: "Unser technisches Know-how wird international geschätzt, unser politisches Klein-Klein nicht." (dpa/tc/mje)